Melissa Jäger

Raetia


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auf eine Cervisia und eine Mahlzeit zusammen. Er befragte beide nach ihren Kenntnissen bezüglich der Überfälle auf der Straße. Die Männer wirkten ernstlich besorgt. In den vergangenen sechs Monaten waren drei Reisende erschlagen und mehr als zehn beraubt worden. Sicher gab es eine hohe Dunkelziffer, denn nicht jeder meldete Überfälle oder Diebstähle bei den zuständigen Beneficiarii. Oft hatten es die Räuber nur auf Geld, Schmuck und Waffen abgesehen, aber nicht selten stahlen sie auch Pferde oder ganze Wagenladungen. Essibnus vermutete, dass es eine organisierte Bande war, die geplante Raubzüge veranstaltete. Der Beneficiarius, der die Statio in Bratananium seit Januar geleitet hatte, war heillos überfordert gewesen. Ein paar Mal hatte er bei Caius einige Soldaten angefordert, um einem der Raubüberfälle nachzugehen. Diese Aktionen waren allerdings ohne Erfolg geblieben.

      Als Caius versprach, sich bald möglichst um die Angelegenheit zu kümmern, konnte er das zuversichtliche Gesicht des Wagenbauers erkennen. Er fragte also nach bevorzugten Stellen für die Überfälle und nach der Anzahl der Männer, die an den Überfällen beteiligt gewesen waren. Sie mussten ein Quartier in der Umgebung haben, wo sie ihre Beute unterbrachten und sich für die Aktionen besprachen. Doch die Wälder Raetias waren dicht und dehnten sich über weite Strecken. Es war unmöglich, alle gezielt zu durchsuchen. Sie waren auf zufällige Berichte von Anwohnern oder Reisenden angewiesen. Der Centurio nahm sich vor, den neuen Beneficiarius in Bratananium nach den Protokollen der Überfälle zu fragen, die sein Vorgänger und eventuell auch er selbst schon untersucht hatten.

      Monat August, am IV. Tag vor den Nonen des August

      Pertha breitete die Arme aus und herzte ihre Enkelin Alpina ausgiebig. Caius hielt sich nicht lange auf, er wollte dem Beneficiarius einen Besuch abstatten. Die drei Frauen hingegen hatten wichtige Dinge zu besprechen. Beim morgigen Erntefest sollte Alpina die komplette Tracht einer erwachsenen Raeterin tragen. Zur dunkelgrünen, langärmligen Tunika bekam sie ein hellgrünes Überkleid, das ärmellos war, zu einem Bausch geschlungen und mit einem breiten Ledergürtel um die Taille gebunden wurde. Eine flache Bügelfibel schloss das Unterkleid am Ausschnitt, das Oberkleid schmückten auffällige, traditionelle Flügelfibeln, deren Blatt mit Lochmustern und Durchbrechungen verziert war.

      Alpina strahlte, als die Großmutter ihr ein Holzkästchen mit zwei dieser wunderschönen Gewandschließen überreichte.

      „Von Großvater und mir zu deinem Blutfest, Alpina! Du bist nun eine Frau, bereit, selbst eines Tages Mutter zu werden und die Tradition deiner Familie fortzuführen. Es freut uns sehr, dass du die raetische Tracht und die Bräuche deiner Vorfahren schätzt, und wir hoffen, dass du den Schmuck gerne tragen wirst. Leider hat deine Schwester bis heute kein Interesse daran.“

      Alpina bewunderte die großartige Schmiedearbeit. Sie war überglücklich! Stürmisch umarmte sie die Großeltern. Als sie Lasthes Hals losließ, hielt der Großvater ihre Hand fest.

      „Ich habe auch noch etwas für dich! Das habe ich selbst gemacht.“

      Er zog einen langen, mit zahllosen Bronzenieten bestückten Gürtel hervor, den eine prächtige bronzene Schließe und mehrere herabhängende Lederriemen mit Bronzebeschlägen zierten. Ein wenig kleinlaut korrigierte er sich: „Die Schließe und die Beschläge hat der Bronzeschmied gefertigt, von dem auch die Fibeln stammen.“

      Alpina küsste den Großvater auf die bärtige Wange. „Ich danke dir von Herzen! Ihr habt mich so reich beschenkt! Ich werde die Sachen morgen mit großem Stolz tragen!“

      Elvas und Pertha halfen Alpina, die Tracht anzulegen, und die Großmutter wies sie in die Kunst ein, wie man die raetische Haube richtete, die traditionell das Haar der Frauen bedeckte. Am Ende betrachtete sich das junge Mädchen in einem bronzenen Handspiegel, den die Mutter ihr hinhielt. Sie sah unglaublich verändert aus - wie eine erwachsene Frau. Die Haube war allerdings das Merkmal der verheirateten Raeterinnen, Alpina würde sie also noch nicht tragen dürfen. Als Jungfrauen trugen die Mädchen die Haare zu dicken Zöpfen geflochten, die um den Kopf gelegt wurden.

      ***

      Caius ließ seine Equites in der Mansio Quartier beziehen und gab ihnen für den Rest des Tages frei. Er selbst steuerte die Station der Beneficiarii an. Im Officium saß einer der ganz neuen Beneficiarii, die erst eingearbeitet worden waren. Caius wunderte sich, dass sein Nachfolger im Amt ausgerechnet einen unerfahrenen Mann auf diesen Posten geschickt hatte, der im vergangenen Jahr für so viel Ärger gesorgt hatte. Der dunkelhaarige Enddreißiger blickte auf und erkannte den Centurio. Er sprang auf und salutierte.

      „Ave, Centurio! Mein Name ist Decius Geminus Pudens!“

      Gelassen gebot Caius ihm, sitzen zu bleiben. „Ave, Beneficiarius Pudens!“ Er ging um den Schreibtisch des Mannes herum und sah neugierig in die Listen, die Pudens gerade bearbeitete.

      „Ich habe gehört, dass es Probleme mit Überfällen auf Reisende und Händler in diesem Gebiet gibt. Kannst du mir Näheres berichten?“

      Der Mann nickte. „Ja, es haben sich im letzten halben Jahr eine Reihe von Überfällen ereignet. Drei Männer wurden getötet, viele verletzt oder zumindest ihres Geldes und der Wertsachen beraubt. Mein Vorgänger war allerdings ziemlich ratlos. Er hat einige Investigationen unternommen, aber ohne Erfolg. Der letzte Überfall war vor zwanzig Tagen. Das war während meiner Einarbeitungszeit. Ein Weinhändler aus Iuvavum wurde überfallen. Man hat sein Geld und seine Waffe gestohlen.“

      Caius hörte aufmerksam zu. „Wie viele waren es und wie waren sie unterwegs? Zu Pferd oder zu Fuß?“

      „Sie waren zu viert, zwei zu Pferd, zwei zu Fuß. Ich denke, sie hatten gehofft, auch die Ware des Händlers mitnehmen zu können. Manchmal nehmen sie mit, was sie gut transportieren können. Bei einem so großen Weinfass war das natürlich schlecht möglich. Einmal haben sie sogar Pferd und Wagen mitgenommen. Sie ließen beides allerdings ein Stück entfernt wieder stehen. Offenbar war dort jemand postiert, der ihnen die erbeuteten Sachen umlud und abtransportierte.“

      Der Centurio nickte. Der Mann war vernünftig und schien daran interessiert, die Sache in die Hand zu nehmen.

      „Waren sie immer zu viert?“, wollte Caius weiter wissen.

      Pudens stand auf und holte die Schriftrollen mit den Protokollen aus dem letzten halben Jahr. „Lasst uns nachsehen, Centurio!“ Er trug die Rolle zum Tisch, und beide vertieften sich in die Berichte.

      Caius gähnte, als er sich zurücklehnte. Sie waren lange beschäftigt gewesen, und sein Rücken schmerzte vom Reiten und der gebeugten Haltung beim Lesen der Protokolle. „Hm, ein komplizierter Fall, mein lieber Pudens. Ich will darüber schlafen und mir Gedanken machen. Bevor ich morgen wieder aufbreche, um zu unserem Statthalter nach Cambodunum zurückzukehren, komme ich noch einmal vorbei. Spätestens vor den Kalenden bin ich wieder hier, um meine Tochter abzuholen. Dann hoffe ich, Zeit zu haben, um mich der Sache anzunehmen. Ich werde versuchen, Caius Velius Rufus von der Priorität dieser Angelegenheit zu überzeugen.“

      Der Beneficiarius lächelte dankbar. „Das wäre gut, Centurio. Ihr habt einen Ruf bei den Kollegen und in der Bevölkerung von Bratananium, der mich hoffnungsvoll stimmt. Ich allein würde dieses Problem sicher nicht lösen können. Ave, Centurio, und gute Nacht!“

      Monat August, am III. Tag vor den Nonen des August

      Der Tag des Getreideerntefestes begann mit einem gewaltigen Wolkenbruch. Trübsinnig blickten die Frauen nach draußen. Sturzbäche ergossen sich vom schilfgedeckten Dach des Langhauses auf den gekiesten Vorplatz. Selbst die Hühner setzten keinen Fuß vor die Tür. Die schauerartigen Regenfälle hielten an, so dass Caius schließlich nicht mehr länger warten konnte. Er zog den Mantel seiner Uniform so weit wie möglich zu, setzte den Helm auf, küsste Frau und Tochter und stapfte in den Regen hinaus. Er versprach dem Beneficiarius Pudens, sich bis zu seiner Rückkehr Gedanken zu machen und versammelte dann den Trupp der Gardereiter, um nach Cambodunum zurückzureiten.

      Sie waren bis zum Nordende des Wirminasees gekommen, als sie auf einen bewusstlosen Mann stießen,