Melissa Jäger

Raetia


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der Boden auf. Man konnte in die sengende Glut der Unterwelt blicken. Der Mann mit den glühenden Augen streckte die Hand nach ihr aus. Er umschloss ihren Unterarm mit seiner Pranke und zog sie mit sich in den Höllenschlund…

      Ilara wachte schweißgebadet auf. Weinend schlug sie die Hände vors Gesicht. Was hatte dieser Alptraum zu bedeuten? War es ein Zeichen, einen Tag vor ihrer Vermählung einen solchen Traum zu haben? Was bedeutete dieser Traum für ihre Ehe?

      Ilara wollte Gewissheit haben. Sie würde später, wenn sie der Göttin Juno opferte, einen Traumdeuter fragen, was diese erschreckende Vision zu bedeuten hatte.

      Ihre Schwester Alpina und sie hatten am Abend zuvor eine alte Puppe herausgesucht und zu dem Kinderkleid gelegt, das die Mutter extra für diesen Tag aufgehoben hatte. Mit dem Opfer ihrer Puppe und des Gewandes an die Familien- und Hausgötter beendete Ilara symbolisch ihre Kindheit. Am darauffolgenden Tag würde sie vor den Altar der Götter treten, um Ehefrau zu werden. Das Kind wechselte aus der Obhut des Vaters als Frau in die Familie des Ehemannes.

      Ilara freute sich, dass der Grammaticus Alpina für drei Tage freigegeben hatte. So konnte die Schwester sie bei diesen wichtigen Schritten begleiten und ihr zur Seite stehen. Sie klopfte an der Tür zu Alpinas Kammer. Die Schwester rief sie herein. Sie zog gerade ihre malvenfarbene Tunika an.

      „Was ist, Ilara? Du siehst blass aus! Geht es dir nicht gut?“ Alpina klang ernsthaft besorgt.

      „Ich hatte einen Alptraum, Alpina. Es war furchtbar!“ Dann erzählte sie den Inhalt ihres Traumes und fragte die Schwester nach ihrer Einschätzung.

      „Tja, Ilara, dazu kann ich auch nicht viel sagen. Es erinnert mich an den Demeter-Mythos von der Entführung Proserpinas durch Pluto. Wahrscheinlich hast du diese Geschichte im Kopf gehabt, als du träumtest. Glaubst du wirklich, dass die Träume von den Göttern geschickt werden?“

      „Natürlich, Alpina! Gerade vor einem solchen Ereignis, wie einer Hochzeit, sind die Träume mit Sicherheit bedeutungsvoll. Ich will unbedingt einen Traumdeuter befragen. Du weißt doch, am Forum gibt es immer welche, die ihre Dienste anbieten. Da will ich hingehen!“

      Alpina nickte zustimmend. „Wie du meinst, Ilara. Aber nimm Geld mit. Umsonst werden die ihre Dienste nicht zur Verfügung stellen.“

      ***

      Claudius Paternus Clementianus machte seine neue Aufgabe viel Spaß. Seit den Kalenden des Iunius war der Ritter als Adiutor für den Ädil Vindelicus tätig, der in der Provinzhauptstadt Augusta Vindelicum für Recht und Ordnung sorgen sollte. Vindelicus unterstanden die städtischen Beneficiarii und einige Wachleute, die sich um die Sicherheit der Bürgerschaft sorgen sollten. Claudius hatte nun tagtäglich mit Taschendieben, Betrügern, Schlägern, entlaufenen Sklaven und Huren zu tun. Da Augusta Vindelicum eine eher ruhige Provinzhauptstadt war, gab es nur wenige gravierende Vorkommnisse, jedoch viele Fälle von Kleinkriminalität. Das bedeutete viel Arbeit für den Adiutor des Ädils und sehr zum Leidwesen von Claudius auch sehr viel Schreibarbeit im Officium. Außerdem hatte er einen neuen Kollegen bekommen, der als Adiutor des Ädils Martialis eingearbeitet wurde. Die jungen Männer, die eine Verwaltungslaufbahn eingeschlagen hatten, wechselten in der Regel jährlich ihren Aufgabenbereich. Sie sollten in allen Bereichen der Verwaltung Erfahrungen sammeln und sich beweisen, ehe sie in die oberste Riege der Kommunalverwaltung aufstiegen. Martialis hatte angekündigt, bei der nächsten Wahl zum Ädilenamt nicht mehr antreten zu wollen. Seine Gesundheit war angeschlagen und er wollte sich in sein Landhaus vor den Toren der Stadt zurückziehen, um seinen Lebensabend zu genießen.

      Mit dem Centurio der berittenen Statthaltergarde Caius Iulius Achilleus und seinen Kollegen hatte Claudius nun oft zu tun. Die Aufgabenbereiche der Garde und des Ädils überschnitten sich, so dass sie sich nahezu jeden Tag zu Besprechungen trafen, Wachmannschaften abstimmten und Einsätze koordinierten. Wenn Achilleus mit dem Statthalter der Provinz Raetia, Caius Velius Rufus, auf Inspektionsreise war und zu den Stammesversammlungen der Raeter oder Vindeliker reiste, musste alles gut geplant werden, damit die Provinzhauptstadt ausreichend mit Soldaten versorgt und die innere Sicherheit gewährleistet blieb.

      Sehr zu Claudius Leidwesen, traf er den Centurio meist im nur Praetorium, so dass er Achilleus hübsche Tochter Alpina schon lange nicht mehr gesehen hatte. Doch nun stand die Hochzeit ihrer Schwester Ilara mit Claudius´ Freund Lucius ins Haus. Eine wunderbare Gelegenheit, das Mädchen wieder zu sehen.

      ***

      Alpina und Ilara machten sich etwa zur vierten Stunde mit ihrer Mutter auf den Weg zum Forum. Die Schwestern waren sehr unterschiedlich. Ilara war größer als Alpina und hatte die dunklen Locken des Vaters geerbt. Alpina hingegen war klein und zierlich mit rotbraunem Haar. Auch in ihrem Wesen unterschieden sich beide. Während Alpina naturliebend und wissbegierig war, liebte Ilara aufwändige Kleider und schönen Schmuck. Eine Hochzeit mit dem Luxuswarenhändler Lucius war ganz nach ihrem Geschmack. Es würde ein rauschendes Fest geben.

      Ilaras Sklavin Celsa trug einen Korb mit den Opfergaben, die Mutter Elvas führte die Ziege für die Göttin Juno. Das Wetter war hervorragend und schon um diese Zeit sehr heiß. Kurz bevor sie das Forum betraten, kauften sie bei einer Frau, die Blumengirlanden und Kränze flocht, einen frischen Blumenkranz für Ilara. Celsa drückte ihn ihrer Herrin vorsichtig auf die hochgesteckten Haare.

      Auf dem Altar vor dem kapitolinischen Tempel brannte ein kleines Feuer. Einige Menschen sprachen auf den Stufen oder in der Vorhalle des Tempels mit dem Kultpersonal. Die Priester und ihre Gehilfen, die von den jeweiligen Kultgemeinschaften zum Dienst im Tempel abgestellt waren, hörten sich die Bitten und Klagen der Gläubigen an, berieten die Hilfesuchenden, reichten den Opfernden Wasser zur Reinigung und nahmen die Opfergaben entgegen. Ilara steuerte auf die Frau zu, die ihr bei ihrem letzten Besuch im Tempel das Wasser zur Reinigung gereicht hatte. Sie stand auf den untersten Stufen des Podiumstempels und war gerade mit einer älteren Frau ins Gespräch vertieft. Nach einer Weile bedankte sich die Alte, gab der Kultdienerin eine Münze und entfernte sich unter Verbeugungen. Nun trat die Frau auf Ilara zu und lächelte sie offen an.

      „Wie kann ich dir helfen?“, fragte sie.

      Ilara nannte ihren Namen und erzählte, dass sie am kommenden Tag heiraten werde und gekommen sei, um Juno zu opfern. Die Frau bat Ilara, ihr die Opfergaben für die Göttin zu zeigen.

      „Wie schön, Iulia Ilara. Dann werde ich jetzt Wasser holen, damit du dich reinigen kannst und den Sacerdos bitten, mit dir das Voropfer zu vollziehen. Du kannst ihm deine Bitte noch einmal selbst vortragen, sobald er Zeit hat.“

      Sie verließ die Frauen kurz, stieg die Stufen des Tempels hinauf und kam mit einer Kanne und einer Schale aus Ton zurück. Ilara wusch sich die Hände und Unterarme mit ein wenig Wasser, dann reichte sie den Krug an ihre Mutter und die Schwester weiter. Die Kultdienerin führte sie vor den Altar. Alpina und Elvas hielten mit den Sklavinnen Abstand.

      Der Priester hatte gerade einige Dufthölzer in die Feuerschale gelegt, dann drehte er sich zu Ilara um. Sie kannte den Sacerdos, er war ein angesehener Mann in der Stadt. Am kommenden Tag würde er die Hochzeitszeremonie leiten.

      „Iulia Ilara, welche Freude dich zu sehen! Du willst sicher Juno um eine glückliche Ehe bitten, nicht wahr?“

      Ilara nickte. Sie überlegte, ob sie den Priester zu ihrem Traum befragen sollte, traute sich dann aber nicht, weil er ein Bekannter ihres Vaters und auch der Familie ihres zukünftigen Gatten war. Der Priester nahm sie in den Tempel mit, um das Voropfer zu vollziehen. Vor der schönen, bunten Statue mit dem warmherzigen Blick, die Ilara so liebte, stand ein niedriger Tisch auf dem bereits Blumenkränze, Getreideähren, Opferkuchen und Früchte lagen. Der Sacerdos schob ein paar Dinge beiseite und arrangierte sie neu, dann legte er die Opfergaben, die Ilara ihm übergeben hatte, dazu. Ilara formulierte ihre Bitte an die Göttin, der Priester sprach ein Gebet und sie sprach es ihm nach. Er nahm Weihrauch aus einer runden Dose und warf ihn in die Flammen. Ilara sie tat es ihm gleich. Der Rauch kräuselte sich und zog in Spiralen in die Höhe. Inbrünstig hoffte das Mädchen, dass die Göttin ihre Bitte erhören und ihr eine glückliche Ehe schenken möge. Der Priester lächelte erneut gütig, drehte sich dann um und stieg mit Ilara die Treppen des