Melissa Jäger

Raetia


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      Ilara nickte. Sie übergab dem Opferhelfer das kleine Tier, das sichtlich nervös war. Der Priester sprach die Gebete, und als der Opferhelfer der Ziege die Kehle durchschnitt und das Blut in einer Schale auffing, überkam Ilara Übelkeit. Der Geruch des warmen Blutes und ihre Angst vor einem schlechten Ausgang der Eingeweideschau sorgten dafür, dass sie in sich zusammensackte. Schnell half Elvas ihrer Tochter, sich auf die Stufen des Tempels zu setzen, während der Opferhelfer dem toten Tier die Eingeweide entnahm. Zum Glück gab der Sacerdos ihr wenig später zu verstehen, dass die Leber des Tieres in gutem Zustand war und die Göttin somit das Opfer annahm. Ilara war erleichtert. Sie bedankte sich bei dem Priester und seinem Opferhelfer. Als sie das Tempelareal verlassen wollte, begegneten sie erneut der Kultdienerin. Ilara holte einige Münzen aus ihrem Korb und reichte sie der Frau. „Für den Kultverein der Juno“, sagte sie schüchtern zu der Tempeldienerin.

      „Vielen Dank, Iulia Ilara. Es wäre schön, wenn du unserem Kultverein beitreten würdest. Wir treffen uns etwa drei bis vier Mal pro Monat und besprechen viele wichtige Dinge, nicht nur für den Junokult, sondern auch praktische Dinge, die für eine junge Ehefrau interessant und wichtig sind. Außerdem ist jede von uns abwechselnd zum Tempeldienst und zur Beratung der Frauen eingeteilt, die sich mit ihren Sorgen und Nöten an die Göttin wenden. Den Vorstand unseres Kultvereins wirst du sicher kennen. Es ist Velia Crispina, die Frau des Statthalters. Möchtest du nicht nächste Woche einmal zu uns kommen? Wir dürfen einen Raum im Statthalterpalast für unsere Zusammenkünfte nutzen. Wenn du möchtest, gebe ich dir Bescheid, wenn wir uns das nächste Mal sehen.“

      Ilara lächelte freundlich. „Sehr gerne.“ Dann verabschiedete sie sich von der Frau und ging zu ihrer Mutter, der Schwester und den Sklavinnen zurück. Als sie einen letzten Blick auf den Tempel warf, sah sie, wie die Tempeldienerin ihr nachwinkte.

      Die Frauen überquerten das Forum. Bevor sie den umgrenzten Bezirk mit all seinen Geschäften verließen, blieb Ilara stehen. Sie wandte sich an ihre Mutter.

      „Geh du schon voraus, ich möchte Alpina noch etwas in einem der Geschäfte hier zeigen. Wir kommen dann nach.“

      Elvas zuckte die Achseln. „Natürlich, Liebes. Ich muss ohnehin noch ein paar Besorgungen machen. Mirne und ich werden zum Macellum gehen. Wir sehen uns dann zuhause.“

      Die Mutter verabschiedete sich und strebte mit ihrer Sklavin der Markthalle zu. Ilara nahm Alpina bei der Hand und zog sie in den Schatten des Eingangstores zum Forum. Dort stand ein Mann mit langem Bart und ungepflegt wirkenden Haaren. Der Haaransatz war schon weit zurückgewichen, so dass sein Schädel unförmig erschien. Er trug ein Buch unter dem Arm und unterhielt sich mit einem anderen Mann, der eine Sternenkarte trug. Als die Männer die jungen Frauen auf sich zukommen sahen, unterbrachen sie ihr Gespräch und erwarteten sie neugierig. Der mit der Sternenkarte in der Hand räusperte sich.

      „Sucht ihr einen Astrologen? Ich bin Carneades, der Chaldäer. Ich kann euch die Sterne deuten und euch ein Horoskop erstellen, für jedes Ereignis Eures Lebens.“

      Ilara lächelte verwirrt. Sie entschuldigte sich bei dem Mann und erklärte, dass sie einen Traumdeuter suche. Da löste sich der andere Mann von den Säulen des Eingangstores und trat auf die Mädchen zu.

      „Dann darf ich Euch meine Dienste anbieten? Mein Name ist Aramios, Magister aus Elis. Ich bin ein Spezialist der Oneiromantie. Wie kann ich Euch helfen?“

      Ilara fragte nach seinem Preis für eine Traumdeutung und sie einigten sich. Das Mädchen begann, dem aufmerksam lauschenden Traumdeuter ihren Alptraum von der vergangenen Nacht zu erzählen. Er fragte sie nach ihrem Elternhaus, nach dem Mann, den sie heiraten würde sowie nach dem Datum der Hochzeit. Dann nickte er.

      „Dieser Traum ist sehr günstig, obwohl du ihn als beängstigend empfunden hast. Für eine Hochzeit ist dieser Traum geradezu ideal. Pluto ist der Herr der Unterwelt, er ist unermesslich reich, besitzt Edelsteine und Metalle wie Gold und Silber in großen Mengen. Der Traum sagt dir, dass du einen sehr wohlhabenden Mann heiraten wirst. An seiner Seite wirst du seine Königin sein, wie Plutos Proserpina, der eigene Tätigkeitsbereiche eingeräumt werden. Du wirst keinen Mangel kennen. Preise dich glücklich! Wenn du so willst, bist du die Göttin an der Seite deines Gatten, das bringt dich zwar zunächst in Gefahr, wird aber langfristig eine glückliche Ehe bedeuten. Aufregung, Bedrohung und Bedrängnisse können dir zu Anfang ins Haus stehen, aber du darfst hoffen - am Ende wird alles gut.“

      Er sah Ilara tief in die Augen, als wolle er sich selbst als Ehemann anbieten. Erschrocken und beschämt schlug die junge Frau die Augen nieder.

      „Bist du eingeweiht in die Mysterien der Demeter und ihrer Tochter Persephone? Nein? Dann solltest du vielleicht daran denken, dich als Myste weihen zu lassen.“

      Beide Mädchen blickten ein wenig irritiert, doch der Traumdeuter schien seine Ausführungen beendet zu haben. Sein Blick schweifte bereits wieder über das Forum, als suche er einen weiteren Kandidaten für seine Kunst. Ilara bedankte sich und zog Alpina mit sich fort.

      ***

      Nachmittags hatte Alpina sich in ihre Kammer zurückgezogen. Der ganze Rummel um Ilaras Hochzeit war ihr zuviel geworden. Seit Tagen ging es um nichts anderes mehr. Das ganze Haus surrte wie ein Bienenstock. Am Vortag waren Lasthe und Pertha, die Großeltern der Mädchen, aus Bratananium gekommen. Spät abends gesellte sich dann auch noch ihr Halbbruder Caius dazu. Sie alle mussten untergebracht werden. Alpina teilte nun die Kammer mit den Großeltern, Caius würde die Nacht in der Kammer der Sklavinnen Mirne und Celsa verbringen, die vorübergehend im Triclinium nächtigten.

      Ilaras Freundin Balbina, die Schwester des Bräutigams war gekommen. Die zwei Freundinnen hatten sich zunächst ohne Alpina in der Frauentherme gereinigt, dann hatten sie sich mit Ilaras Sklavin Celsa in eine Kammer zurückgezogen, um die Brautfrisur herzurichten. Sechs Zöpfe mussten geflochten und zu einem Turm aufgesteckt werden.

      Alpina versuchte sich auf die von Eirenaios gestellte Aufgabe zu konzentrieren, als es klopfte. Ihre Großmutter steckte den Kopf zur Tür herein. „Darf ich dich stören, Liebes?“

      Das Mädchen legte die Papyrusrolle sorgfältig beiseite. „Selbstverständlich, Großmutter!“

      Pertha setzte sich zu ihr aufs Bett. Die alte Frau war eine Hebamme, wie auch Alpinas Mutter Elvas. Sie war die erste gewesen, die Alpina in die Kunst der Geburtshilfe eingeweiht hatte. Seither wollte das Mädchen das Handwerk ihrer Mutter und Großmutter erlernen. Pertha nahm Alpinas Hand.

      „Erzähl mir, Alpina, bei wie vielen Entbindungen hast du bereits mitgeholfen?“

      „Fünf, Großmutter“, erzählte das Mädchen stolz. „Wenn man die mitzählt, die ich mit dir zusammen erlebt habe.“

      Die alte Frau nickte. „Und, wie viele davon waren kompliziert?“

      „Hm, das ist schwer zu sagen. Ich würde sagen, etwa drei. Eine ging sogar tödlich aus für Mutter und Kind. Zwei waren schnell und ohne besondere Schwierigkeiten.“

      Pertha sah Alpina ernst an. „Kannst du dir vorstellen, diesen Beruf zu ergreifen?“

      Das Mädchen zögerte keine Sekunde. „Aber sicher! Ich tue alles dafür, eine gute Obstetrix zu werden! Mit dem Grammaticus übersetzte ich sogar medizinische Schriften von Hippokrates und anderen Ärzten. Außerdem habe ich bereits die Bücher des Plinius gelesen, in denen er über Heilmittel schreibt.“

      Die Großmutter lobte sie, dann fragte sie weiter. „Was ist, wenn eine Geburt mit dem Tod von Mutter oder Kind oder sogar von beiden endet? Wie geht es dir damit?“

      Alpina dachte nach. Sofort kamen die Bilder einer Geburt im Suburbium in ihr hoch. Diese Geburt hatte mit dem Tod der Gebärenden und auch ihres Kindes geendet.

      „Es ist schrecklich, so machtlos zu sein! Wie grausam es ist, wenn man zusehen muss, wie Mutter oder Kind sterben und nichts dagegen tun kann!“ Sie machte eine Pause, dann sah sie Pertha in die Augen. „Doch das Schlimmste ist die Armut, Großmutter - wenn sie verhindert, dass man helfen kann. Stell dir vor, wir waren bei einer Entbindung, bei der zunächst die Mutter und einige Tage später