Melissa Jäger

Raetia


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Medizin gehabt hätten. Es war schrecklich, zusehen zu müssen, wie sie den Tod in Kauf nahmen, weil sie das Geld für die notwenige Therapie nicht hatten!“

      Die Großmutter nickte verständig. „Wir stehen in unserer Arbeit oft an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Nicht immer dürfen wir die Hände des Kindes oder der Gebärenden ergreifen und sie ins Leben ziehen. Oft müssen wir den Göttern bei ihrem Spiel mit dem Schicksal zusehen. Mal ist es Klotho auf der Schwelle, die den neuen Lebensfaden spinnt, mal Atropos, die Unabwendbare, die ihn mit der Schere zerschneidet. Es tut weh, zu sehen, wie der eben erst gesponnene Faden oder der eines noch jungen, blühenden Lebens, zerschnitten wird. Leider dürfen wir meist nur zusehen, was die Schicksalsschwestern tun.“

      Alpina sah Pertha traurig an. „Gewöhnt man sich daran?“

      Die alte Hebamme lächelte gütig. „Nein, nicht wirklich. Es tut jedes Mal weh. Aber je häufiger es passiert, desto eher kannst du lernen, dass es die Entscheidung der Götter ist und nicht dein Fehler, wenn ein Lebenslicht ausgelöscht wird. Natürlich sucht man wieder und wieder die Schuld bei sich, bei anderen Menschen oder bei der Armut. Mit der Zeit aber versteht man, das Wirken der Götter zu akzeptieren, es nicht mehr anzuzweifeln, sondern es anzunehmen.“

      Das Mädchen sah die Großmutter lange an. Sie hoffte, irgendwann so weise zu werden, wie diese wundervolle Frau. Sie nahm sich fest vor, ihre Worte nicht zu vergessen.

      ***

      Der Centurio Caius Iulius Achilleus kam nach einem ausgiebigen Bad in der Forumstherme nach Hause zurück. Sein ältester Sohn und der Vater des Bräutigams, Titus Alpius Soterichus, hatten ihn begleitet. Alle sahen den Feierlichkeiten des kommenden Tages freudig entgegen. Zuhause trafen Vater und Sohn eine aufgeregte Schar von Frauen an. Ilara war bereits eingekleidet und von der Mutter mit einem speziellen Knoten gegürtet worden. Sie sah wunderschön aus. Über der weißen Tunika recta trug sie die safranfarbene Palla und das rote Flammeum. Sie hatte auch die passenden Schuhe angezogen. Die Männer bewunderten Ilara. Dann wandte man sich dem geschmückten Lararium zu. Mirne hatte wunderschöne Blumen- und Blättergirlanden hergestellt und den Schrein der Hausgötter gereinigt und geschmückt. Ein Räuchergefäß, eine Opferschale und eine Kanne mit Wein standen bereit. Vor dem Lararium hatten sie eine kleine hölzerne Bank aufgestellt, auf der Ilara später ihre Puppe und das Kinderkleidchen ablegen würde.

      Caius wusch sich die Hände in einem Wasserbecken. Dann reichte die Sklavin es an die anderen Opferteilnehmer weiter. Als sich alle gereinigt hatten und auch der Weihrauch die Körper und Seelen der Opfernden geläutert hatte, schlug der Centurio den Bausch seiner Toga über den Kopf. Er stellte sich vor den Schrein der Ahnen- und Hausgötter und betete, dass sie seiner Tochter einen guten Übergang vom Hause des Vaters in das Haus ihres zukünftigen Gatten gewähren mögen. Als Opfergaben goss er Wein aus dem Krug, den seine Frau ihm reichte, in die Patera und stellte die gefüllte Opferschale auf die Bank vor dem Lararium. Dann trat er zur Seite und machte Ilara Platz.

      Wie erwachsen seine Tochter in diesem Moment wirkte. Caius Mund wurde trocken. Er sah Bilder aus lange vergangenen Tagen vor sich aufsteigen, erinnerte sich, wie Elvas ihm ihren runden Bauch präsentiert hatte und ihn die kräftigen Tritte Ilaras durch die Haut hatte spüren lassen. Er dachte an die Geburt, die lang und schwer gewesen war. An Elvas Schreie, Perthas beruhigende Worte und seine Angst um die Frau, die er so liebte. Dann vergegenwärtigte er sich Ilaras erste Schritte, die Freude seines Sohnes Caius, als Ilara ihm in die ausgebreiteten Arme torkelte und ihre großen Augen als Elvas ihr ein Schwesterchen schenkte. Jetzt war dieses kleine Mädchen groß geworden, sie stand in ihrem Hochzeitskleid vor dem Lararium und opferte den Hausgöttern ihre Puppe und eine dunkelrote Kindertunika. Sorgfältig drapierte die Fünfzehnjährige ihr Kinderkleid auf die Holzbank und legte die Puppe dazu. Sie wiederholte das Gebet des Vaters und stand dann noch eine Weile schweigend vor dem Schrein, bevor alle sie umarmten und sich die Großfamilie zur Abendmahlzeit ins Triclinium begab.

      ***

      Lucius hatte Claudius zu einer Art Abschied vom Junggesellendasein eingeladen. Der Händlersohn hatte dafür einen Raum im ersten Stock der Forumstherme reserviert. Neben den üblichen Kleinigkeiten, die die angeschlossene Caupona lieferte, hatten seine Sklaven exotische Köstlichkeiten aus dem Geschäft der Familie mitgebracht. Sie waren zu viert. Claudius, Vindelicus und Comitinus Apelles, ein Jugendfreund von ihrem Gastgeber Lucius. Zunächst hatten sich die drei jüngeren Männer zum Sport in der Palaestra getroffen und waren dann nach einem ausgelassenen Ballspiel in den warmen Räumen der Therme auf den Gatten von Lucius Schwester Balbina gestoßen. Nach ausgiebiger Reinigung und Massage suchte man gemeinsam den festlich hergerichteten Raum in ersten Stock auf. Lucius war ausgesprochen angespannt. Von Vorfreude auf das kommende Ereignis war bei ihm nichts zu spüren. Jede Anspielung der Freunde, dass er ab morgen seine Freiheit einbüßte, beantwortete der Sohn des Luxuswarenhändlers aus der Provinz Asia, gereizt. Es war offensichtlich, dass ihm die Vorstellung, nun an die Kette gelegt zu werden, gar nicht behagte.

      Apelles, der Holzhändler war, lachte. Er hatte erst vor einem Jahr geheiratet.

      „So schlimm ist es nicht Lucius! Wenn du Abwechslung willst, kannst du immer noch ein Lupanar besuchen oder dir eines der Mädchen aus einer Caupona gönnen. Selbst hier in der Therme gibt es immer wieder nette Angebote!“

      Lucius bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. „Und wenn ich nach Hause komme, steht Ilara mit einem Mischkrug hinter der Tür und gibt mir eine drüber.“

      Alle lachten bei der Vorstellung davon, dass Lucius von seiner Frau einen Mischkrug übergezogen bekäme.

      „Nun, du wirst es schon ein wenig geschickter anstellen müssen. Aber da mache ich mir keine Sorgen, schließlich bist du ja nicht auf den Kopf gefallen!“ Apelles lachte laut und scheppernd.

      Claudius war klar, warum sein Freund so schlecht gelaunt war. Es würde von nun an schwerer für ihn werden, Glycera zu treffen. Die schöne Schauspielerin hatte Lucius in ihren Bann gezogen. Er war ihr derartig verfallen, dass er die Ehe mit Ilara als Hindernis für seine Liebschaft betrachtete. Glycera war die Geliebte des Statthalters. Seit dieser von seiner Inspektionsreise zurückgekehrt war, befand sich die Laune des Händlersohnes auf dem Tiefpunkt. Die Vorstellung, dass seine Treffen mit der Schönen ab jetzt nicht nur von der Anwesenheit des Statthalters bestimmt wurden, sondern zudem vor den wachen Augen seiner Gattin verborgen werden mussten, trübten Lucius Stimmung nachdrücklich.

      Claudius hatte Mitleid mit Ilara. Das Mädchen war offensichtlich sehr verliebt in seinen Freund und blickte der Hochzeit freudig entgegen. Was würde wohl werden, wenn sie entdeckte, dass ihr frisch angetrauter Ehemann eine andere Frau mehr begehrte, als sie? Der junge Ritter hoffte, dass es Ilara gelingen würde, Lucius für sich einzunehmen.

      Die Stimmung löste sich nach einigen Runden gemischten Weines und als sich die Gesellschaft auflöste, steuerten Lucius und Apelles das Lupanar an, während Vindelicus und Claudius nach Hause gingen.

      Monat Juni, am IV. Tag vor den Kalenden des Juli

      Das morgendliche Opfer eines Schafes im Haus der Braut war günstig ausgefallen. Der Haruspex hatte die Eingeweide des Tieres begutachtet und den Tag als geeignet für eine Eheschließung befunden. In Anwesenheit des Pontifex wurden die Stühle der Brautleute mit dem Fell des Opferschafes verbunden. Ilara, die wundervoll aussah, reichte Lucius strahlend die rechte Hand und nahm den Ring von ihm entgegen. Tibulla, die Mutter des Bräutigams, fungierte als Pronuba und führte die Hände ihres Sohnes und seiner jungen Frau zusammen. Dann teilten sich die frisch Vermählten das traditionelle Fladenbrot zur Hochzeit.

      Wenig später begab sich die Familie zum gemeinsamen Opfer zum Tempel der kapitolinischen Götter. Nun kamen die engen Freunde und auch viele Schaulustige dazu, die von den prachtvollen, bunten Gewändern der Hochzeitsgesellschaft angezogen wurden. Es war eine ganz traditionelle Hochzeit, wie sie nur noch selten so aufwändig gefeiert wurde. Ilara wurde allenthalben bewundert. Die Schneiderin aus dem Suburbium hatte ganze Arbeit geleistet. Die safrangelbe Palla über der Tunika recta war aus der schönsten Seide gefertigt, die Lucius hatte besorgen können. Borten mit gestickten Akanthusblättern verzierten