Monika Kunze

Immer wieder diese Sehnsucht


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hier, in diesem elfgeschossigen Koloss am Rande der Stadt, wohnen geblieben waren. Mehr als die Hälfte der Wohnungen waren inzwischen verwaist und kosteten die Wohnungsgesellschaft nur Geld, anstatt welches einzubringen.

      Früher, in den achtziger Jahren, waren die Leute noch glücklich gewesen über eine solche Neubauwohnung. Dafür gab es manchen Grund. So fand die Wärme aus der Ferne den Weg bis in ihre Stuben, ohne dass jemand Kohlen schleppen oder Asche hinaustragen musste. Brauchten die Leute warmes Wasser, drehten sie einfach den Hahn auf. Das war zu jener Zeit auch in der DDR durchaus noch nicht überall selbstverständlich. Was für viele jedoch den Gipfel des Glücks darstellte, war der zu jenen Wohnungen gehörende Balkon. Manche hatten sogar zwei. Und alle diese Annehmlichkeiten gab es zu heute unvorstellbar niedrigen Mieten. Wie davon die Wohnungen in Schuss gehalten werden sollten, war schließlich nicht die Sorge der Mieter.

      Sicher, solche Bezeichnungen wie Karnickelställe oder Arbeiterintensivhaltung hatte es auch damals schon gegeben, aber da klangen sie noch eher liebevoll spöttelnd als verächtlich.

      Nach der Wende, also in den Neunzigern, wurden diese Hoch-Häuser dann plötzlich von den meisten ihrer Bewohner viel kritischer betrachtet. Die Wände waren fast von einem Tag auf den anderen zu dünn, die Zimmer zu klein. Und überhaupt: Solche Betonplattenbauten waren nicht mehr zeitgemäß. Das Ausmaß von Lärm und Schmutz stieg fast im gleichen Verhältnis wie die Mieterzahlen sanken.

      Aber nicht alle zogen fort aus dieser Kleinstadt. Manche von denen, die dablieben, wären vielleicht auch gern weggegangen, konnten sich aber möglicherweise kein besseres Domizil leisten. Wieder andere hatten jahrelang an ihren Wohnungen herum gewerkelt, sie immer wieder renoviert und modernisiert, vor der Wende mit viel Herzblut und viel Geduld beim Anstehen nach Baumaterial, danach mit viel Geld und der Qual der Wahl, welche Fliesen, Tapeten oder Fußbodenbeläge wohl die besten und preisgünstigsten seien. Nur das Anstehen war weggefallen. Versteht sich.

      Doch auch schon damals, in den Achtzigern, als sie sich noch nach allem anstellen mussten, hatten sie, je nach dem eigenen handwerklichen Geschick oder freundschaftlichen Beziehungen zu entsprechenden Handwerkern und Verkäufern, ihren vier Wänden einen gewissen individuellen Charme verliehen. Auch Martina und Hans Knittel war es auf diese Weise gelungen, der einst verordneten Einheitlichkeit ein Schnippchen zu schlagen.

      Ihre Vier-Zimmer-Wohnung im neunten Stock legte davon Zeugnis ab, denn hauptsächlich Martina hatte mittels Pinsel, Schwamm und Farbe den eintönigen Raufasertapeten ein neues Gesicht gegeben, alte Möbel aufgearbeitet, um nicht diese erdrückende, weil bis fast unter die Decke reichende Einheits-Schrankwand aufstellen zu müssen. Ihre Wohnung wirkte behaglich, aber nicht altmodisch verstaubt oder plüschig.

      Von den zwei Balkons aus konnten sie bis hinüber zum Wald schauen. Kiefern – hin und wieder von ein paar Birken flankiert – drückten ebenso wie der geschmähte Heidesand, der Karnickelsand, der Lausitz ihren Stempel auf. Aber selbst dort wuchsen im Sommer noch immer unverdrossen Pilze und Beeren en gros.

      Sand und Kiefern waren allerdings schon lange nicht mehr die einzigen Merkmale dieser Landschaft. Ein weiteres hatte sich schon zu Beginn der siebziger Jahre hinzugesellt und war im Laufe der Jahre immer näher gerückt. Man konnte ihn zwar wegen der hohen Kiefern noch immer nicht so genau sehen, aber dafür inzwischen umso besser hören: den Tagebau, aus dem die Braunkohle fürs nahe gelegene Kraftwerk gekratzt wurde. Selbst nachts drangen die ächzenden, quietschenden Geräusche von den Bändern der Förderbrücken und von den Eimerketten der Bagger in die Träume der Schlafenden.

      *

      Der Fahrstuhl schien sich jetzt irgendwo zu schütteln, in einer Wohnung schräg über ihnen übte jemand Tonleitern auf einer Trompete.

      Martina sah sich kurz um, atmete tief ein und presste dann die Lippen fest aufeinander, um beim Anblick von herumliegendem Bonbonpapier, Zigarettenkippen, Plastikflaschen oder dem unsäglichen Graffito an der Wand gegenüber nicht schreien zu müssen. Es zeigte zwei überdimensionale Brüste und ineinander verschlungene Buchstaben, die Martina nicht entziffern konnte.

      Manchmal hatte sie sich schon gefragt, warum sie trotzdem noch immer hier wohnten. Vielleicht hing es mit dem Versprechen zusammen, das sie sich beim Einzug 1982 selbst gegeben hatten: Sie wollten hier endlich einmal wohnen bleiben, bis man sie mit den Füßen nach vorn hinaustrüge. Viel zu oft waren sie schon umgezogen. So hatten sie also mehr als vierzehn Jahre ausgeharrt, obwohl sie sich schon lange nicht mehr wohl fühlten.

      Aber war das denn jetzt überhaupt noch wichtig?

      In Zeiten, in denen man es einfacher findet zu sterben als zu leben, verliert der Ort seines Daseins fast zwangsläufig an Bedeutung.

      Momentan hatte sie sowieso ganz andere Sorgen. Fast hätte sie es geschafft, überhaupt keine mehr zu haben. Aber es hatte eben nicht auf Anhieb geklappt. Ein paar Ohrfeigen und ein steifer, in ihr Inneres geschobener Schlauch, durch den ihr Mageninhalt nach draußen befördert wurde, hatten auch sie auf gewisse Weise befördert, nämlich zurück ins Leben.

      Für diesmal, dachte Martina, wie schon so oft in den zurück liegenden Tagen. Nun, da sie gerade ungewollt Ohrenzeugin jenes Gesprächs am Fahrstuhl geworden war, bekam dieser Gedanke gleich wieder etwas Tröstliches.

      „Solche wie die gehören auch dorthin …“ urteilte der rosa schimmernde Engelsmund, ohne darauf zu achten, wer sich ihnen mit festen Schritten näherte.

      Erst als Martina ganz dicht vor ihnen stand, trat Stille ein.

      Solche, wie die! Martina schien immer noch den Worten nach zu lauschen, obwohl diese schon längst verklungen waren.

      Aber nur die offenkundige Verachtung, die herauszuhören war, tat noch ein bisschen weh, denn die Worte selbst konnten ihr schon lange nichts mehr anhaben. Schließlich hatte sie von Kindheit an oft genug Gelegenheit sich an solche Äußerungen zu gewöhnen. Es machte ihr seit Jahren schon nichts mehr aus, immer und überall als so eine Art Außenseiterin angesehen zu werden. Demzufolge kostete es sie auch jetzt keine große Mühe, sich scheinbar ganz unbeteiligt zu geben. Hatte sie diese Form von Selbstschutz nicht von Kindesbeinen an üben müssen?

      Sie murmelte also ein leises, aber keineswegs unfreundliches „Hallo!“, begleitet von einem leichten Kopfnicken. Ein normaler Gruß also für jene Nachbarinnen, von denen Martina noch nicht einmal den Namen wusste.

      Hatte sie auf ihr leises Hallo etwa eine Reaktion erwartet, irgendeine menschliche Erwiderung, auch wenn es vielleicht nur ein Kopfnicken gewesen wäre? Nein, sie war sich sogar sicher, dass nichts dergleichen mehr kommen würde. Wachsfiguren hätten bestimmt nicht steifer wirken können als diese beiden Frauen, obwohl jene noch vor einer Minute sehr lebendig und temperamentvoll gestikuliert hatten.

      Martina wunderte sich. Aber nicht über die plötzliche Erstarrung der Beiden, sondern über etwas ganz anderes: Beim Warten auf den Fahrstuhl fand hier also doch noch so etwas wie Kommunikation statt? Wie schön, die Leute redeten also doch noch miteinander. Nur eben nicht mit ihr. Oder, besser gesagt, nicht mehr - seit dem gescheiterten Versuch, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen.

      Vor der Fahrstuhltür traf man sich zufällig und nutzte nach wie vor die Gelegenheit seinem Ärger Luft zu machen, vielleicht in den letzten Jahren über die seit langem schon nicht mehr so preiswerten Mieten oder die vordem hierzulande völlig unbekannte Arbeitslosigkeit.

      Offenbar war das aber auch, früher genauso wie heute, ein geeigneter Platz, um über andere Leute herzuziehen. Manchmal, wie in diesem Falle, schloss das eben auch ein, messerscharfe Urteile zu fällen und zu verkünden.

      Jetzt schien die Erstarrung langsam zu weichen, die beiden Frauen senkten wie auf Kommando die Köpfe.

      Martinas Gruß und ihr leichtes Kopfnicken blieben weiter ohne Echo.

      Angestrengt schauten sie zu Boden, als gäbe es dort wer weiß was Interessantes zu entdecken.

      Endlich kam der Fahrstuhl. Als er ratternd vor ihnen hielt und die Tür sich zischend öffnete, verschwanden die Frauen blitzschnell in dem Ungetüm, immerhin mit hochroten Wangen.

      Martina blieb draußen