Monika Kunze

Immer wieder diese Sehnsucht


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Antwort überhaupt nicht ins Gewicht.

      Martina wandte ihren Blick von seinem Nacken ab, in dessen feuchten Fältchen sich ein wenig Staub niedergesetzt hatte. Interessiert schaute sie aus dem Fenster.

      Niemals hätte sie geglaubt, dass es für sie so mühselig sein könne, die neue Umgebung ganz genau in sich aufzunehmen. Sie war schon drauf und dran, in ihrer Reisetasche nach einem Stift und einem Block zu suchen. Gleich darauf ärgerte sie sich über ihren blinden Eifer, der ihr doch nichts weiter als Kopfschmerzen bescheren würde. Sie war schließlich nicht hier, um für eine Reportage zu recherchieren. Sich diese Tatsache vor Augen zu führen und in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen, fiel ihr noch schwerer als sie ohnehin schon befürchtet hatte..

      Der Krankenwagen fuhr langsam eine breite, asphaltierte Straße entlang. Zu beiden Seiten war sie von blühenden Linden gesäumt, deren angenehmer Duft schnell seinen Weg durch das geöffnete Fenster fand.

      Die einstige Journalistin atmete ganz tief ein, erinnerte sich plötzlich, dass sie schon als Kind diesen Geruch gemocht hatte.

      Damals in F., der Sängerstadt, wo sie ihre ersten drei Schuljahre verbracht hatte. Und wo sie … Nein, dachte Martina, gerade an ihn würde sie jetzt nicht denken. Er war ja inzwischen auch ein reifer Mann – und gerade von Männern hatte sie nun wirklich die Nase gestrichen voll.

      Der Fahrer sah sie aus dem Rückspiegel an und sagte: „Die Klinik liegt schon herrlich, mitten in der Natur, und dann der Duft der Linden …“

      Sie nickte automatisch, wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Ganz bewusst versuchte sie noch einmal, richtig tief einzuatmen, aber es war vorbei. Das angenehme Gefühl war verschwunden, es war im Handumdrehen verdrängt worden von einer eisigen Kälte, die sich jetzt in ihrem Herzen einnistete.

      Ein Gefühl von Verlorenheit und Angst kroch über ihren Rücken bis zum Nacken und biss sich dort fest. Sie kannte es, wollte es eigentlich nie wieder zulassen. Aber gegen so starke Gefühle kann wohl niemand etwas ausrichten.

      Nicht einmal der Lindenduft drang jetzt noch bis in ihr Innerstes vor. Selbst dieser natürliche Trost blieb ihr versagt.

      Erstaunt und auch ein wenig erschrocken nahm sie zur Kenntnis, wie sich ihre Härchen an den Unterarmen aufrichteten, langsam, wie es manchmal in Zeitlupenaufnahmen zu sehen war.

      Vorn an der Kurve entdeckte sie so eine Art Pferdewagen mit gummibereiften Rädern, nur etwas flacher und kleiner. Links und rechts der langen Deichsel je drei, nein, nicht Pferde, sondern Menschen: Zwei Frauen und vier Männer; zwei weitere Frauen waren gerade damit beschäftigt, herumliegende kleinere Äste und Zweige, samt Blättern (es musste hier in der vergangenen Nacht ordentlich gestürmt haben) in einen Korb zu sammeln und sie dann in buntem Wirbel auf die Ladefläche zu kippen. Alles geschah ohne Hast, wenn auch nicht ohne Eifer.

      Im nächsten Augenblick schrie die eine: „Hü!“ und lachte dabei mit unbekümmert weit geöffnetem Mund, so dass ihre schwärzlichen Zähne sichtbar wurden.

      Für die anderen schien das ein längst bekanntes und vertrautes Signal zu sein, denn wie selbstverständlich ruckten sie an ihren Riemen und zogen den Karren weiter bis zum nächsten Baum.

      Diese Szene wirkte wie ein Spiel. Kinder spielten Pferd und Wagen. Martina konnte nicht verhindern, dass sie plötzlich fror. Das Frösteln blieb solange, bis beide Fahrzeuge auf gleicher Höhe waren.

      Mit schief gelegtem Kopf schaute sie gebannt in die Gesichter, doch sie konnte bei keinem der Leute, die das Gespann zogen, auch nur das geringste Anzeichen von Ärger, Wut oder gar Aufbegehren entdecken. Alle wirkten ganz entspannt.

      Noch während sich Martina über diese für sie unerklärliche Gelassenheit wunderte, hatten sie das Gespann aus den Augen verloren. Der Sanitätswagen war links abgebogen, dann wieder rechts an zwei Häusern mit vergitterten Fenstern fast lautlos vorüber gerollt. Diese kunstvoll gedrehten Stäbe vor den Fenstern waren nun erst recht nicht geeignet, Martinas Stimmung aufzuhellen.

      Plötzlich trat der Fahrer so heftig auf die Bremse, dass ihr Oberkörper ruckartig nach vorn kippte und sie ihn wütend anstarrte.

      „Ist ja schon gut!“, wandte sich der Mann mit den schmutzigen Halsfalten nun beschwichtigend über den Rückspiegel an seinen Fahrgast.

      Wieso gibt es eigentlich keine weibliche Form von Gast, durchfuhr es Martina automatisch. Dann vermutete sie, dass seine Worte vielleicht so eine Art Entschuldigung darstellen sollten. Er hatte wohl ihren vorwurfsvollen Blick im Spiegel aufgefangen.

      Doch die Frau beachtete ihn nicht weiter, setzte vorsichtig erst den einen, dann den anderen Fuß auf den Schotter, ohne dass sie jemand dazu aufgefordert hätte.

      Sie lauschte, ob das knittrige Männchen vielleicht Einspruch gegen ihre Eigenmächtigkeit erheben würde. Doch von ihm kam kein Ton. Also waren sie angekommen. Das heißt, nur sie. Nur sie war angekommen. Der Fahrer würde im nächsten Moment umdrehen und diesen verpönten Ort so schnell wie möglich wieder verlassen. Er brauchte nicht zu befürchten, dass ihn irgendjemand aufhielt.

      Martina fühlte sich mit einem Mal vollkommen erschöpft, ihre Knie zitterten, so dass sie Mühe hatte, sich ohne fremde Hilfe auf den Beinen zu halten. Daran änderte sich auch nichts, als sie sich mit einem schnellen Blick vergewissert hatte, dass die Fenster im Haus Nummer Acht n i c h t vergittert waren. Das war doch schon einmal etwas! Warum war nicht wenigstens dieser Umstand dazu angetan, sie zu trösten?

      War sie denn nicht wenigstens noch einigermaßen bei Verstand und sollte sich darüber freuen, dass sie die nächsten Wochen ihres Lebens nicht in einer so genannten Geschlossenen verbringen musste - obwohl sie es, wie sie sich selbst eingestand, befürchtet hatte? Andererseits: Wenn sie momentan nicht einmal mehr in der Lage war, sich über die duftenden Lindenblüten richtig zu freuen, dann konnte es ihr auch gleichgültig sein, ob die Fenster vergittert waren oder nicht.

      Sie wandte sich ab von den Fenstern und bemerkte, dass eine Frau in weißem Kittel aus der Tür trat und auf den Fahrer zusteuerte.

      Doch auch ihr schenkte Martina keine Beachtung. Teilnahmslos wanderte ihr Blick noch umher, als der kleine Fahrer dem Weißkittel sagte: „Ich bringe den Zugang!“

      Und Martina reagierte auch nicht, als die Frau sie mit hochgezogenen Brauen musterte und murmelte: „Ach ja, der Suizid!“

      Montagsrunde

      Martina hatte die routinemäßigen Aufnahmeuntersuchungen schon hinter sich und sah sich in der so genannten Montagsrunde vorsichtig um.

      Da saßen Männer und Frauen, die eigentlich ganz normal aussahen.

      Eine kleine, dralle Blonde hatte schon auf dem Gang lautstark verkündet, dass sie auch wegen Depressionen hier sei.

      „Und jetzt leite ich schon seit ein paar Wochen die Sportgruppe“, sagte sie nun mit einem nach Anerkennung heischenden Blick in die Runde. Martina allerdings hatte das Gefühl, dass die Worte einzig und allein für sie bestimmt waren. Außerdem: So weithin schallendem Zweckoptimismus hatte Martina schon immer misstraut. Deshalb reagierte sie auch nicht auf diesen offensichtlichen Annäherungsversuch der Vorturnerin.

      Vielmehr glitt ihr Blick in eine andere Richtung. Dabei bemerkte sie, dass auch der Mann in mittleren Jahren, dessen Augen durch starke Brillengläser unnatürlich groß erschienen, offenbar kein Ohr für den Stolz der frisch gebackenen Sportgruppenleiterin zu haben schien. Selbst als die Blonde sich ihm nun direkt zuwandte, tat er so, als würde er nichts bemerken. Unruhig schweifte sein Blick umher, als erwarte er noch jemanden. Dann schaute er angespannt zur Tür. Seine Pupillen wurden weit, seine Hände im Schoß hatte er so fest gefaltet, dass die Knöchel weiß hervortraten.

      Endlich! Dir Tür ging auf, und herein trat eine kleine, korpulente Frau mit grauem, struppigem Haar, das sie mit zwei Kämmchen hinter den Ohren festgesteckt hatte. War das die Ersehnte jenes Mannes?

      Schnurstracks kam sie auf den Mann mit der Brille zu, streckte ihre linke Faust aus und sagte: "Hier, Kurtchen!“

      Die