Monika Kunze

Immer wieder diese Sehnsucht


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so, als handele es sich um etwas Verbotenes. Martina sah, wie sie ihm schnell etwas zusteckte, etwas golden Schimmerndes.

      Kurt, der Kosename Kurtchen wollte einfach nicht zu seinem massigen Körper passen, schenkte der Spenderin einen dankbaren Blick und ein etwas schief geratenes Lächeln, welches diese mit einem leichten Ausdruck von Triumph erwiderte. Dabei war sie jedoch errötet wie ein junges Mädchen.

      Jetzt wanderte Martinas Blick weiter, schräg gegenüber zu einer etwas älteren Ärztin, die sich kaum hörbar mit einer ziemlich jungen Patientin unterhielt. Diese hatte den Kopf geneigt, nickte hin und wieder, als wolle sie die Worte der anderen ausdrücklich bestätigen. Ein Bild von Vertrautheit, das Martina hier an diesem Ort so nicht vermutet hatte. Ihr wurde mit einem Mal klar, wie sehr sie dieses Gefühl der Vertrautheit vermisst hatte in all den Jahren. Und wie sehr sie sich danach sehnte. Ihr wurde auch bewusst, dass das nicht ihre einzige Sehnsucht war.

      Es war wohl noch ein paar Minuten Zeit bis zum offiziellen Beginn, denn auch die meisten anderen unterhielten sich angeregt, manche leise und ohne jede Gestik, andere wiederum laut und umso heftiger gestikulierend.

      Mit Martina, dem Zugang, sprach niemand. Nicht einmal mehr die Sportgruppenleiterin. Diese machte vielmehr den Eindruck, als sei sie beleidigt, weil die Neue nicht auf ihre wohlmeinenden, aufmunternden Worte reagiert hatte.

      Jegliche Sehnsucht nach Vertrautheit fiel in sich zusammen.

      Martina spürte das, wusste aber nicht, ob sie darüber traurig oder froh sein sollte. Das sind schließlich alles wildfremde Menschen, versuchte sie sich zu beruhigen. Doch ihre Unruhe wurde stärker, nach wenigen Minuten hatte sich auch wieder diese Angst eingestellt, gegen die sie einfach nichts ausrichten konnte. Vorsichtshalber setzte sie ihre Unnahbarkeitsmiene auf. Damit hatte sie schon manchen abgeschreckt, wenn sie in Ruhe gelassen werden wollte. Sie brauchte nicht einmal einen Spiegel, um zu wissen, wie sie jetzt aussah. Den Kopf hoch erhoben, den Blick geradeaus und nirgendwo hin gerichtet, die Unterlippe leicht vorgeschoben. Sie kannte die Wirkung auf diese Maskerade sehr wohl und akzeptierte auch die Folgen. Die schlimmste: Isolation. Aber selbst diese nahm sie in Kauf, hatte sie doch bisher noch nichts Besseres finden können, wenn sie einmal Schutz suchte.

      Selbst bei der Arbeit war sie damit recht gut zurechtgekommen.

      Während sie ihr Innerstes oft hinter ihrem Schutzschild verborgen hielt, hatte sie bei ihren Gesprächspartnern stets darauf geachtet, dass diese sich nicht ebenfalls hinter einem solchen verschanzten. Sobald sie allerdings bemerkte, dass der andere, vielleicht schon seit Jahren, hinter einem Schild verssteckt saß, versuchte sie ihn mit allen Mitteln hervorzulocken. Mit einfühlsamen Worten und einem aufmunternden Lächeln. Nur ganz wenigen gelang es dann noch, ihre Verschlossenheit lange aufrechtzuerhalten.

      In der Redaktion beneidete sie so mancher Kollege um ihre Fähigkeit, selbst die hartnäckigsten Schweiger zum Reden zu bringen.

      Als Martina sich jetzt wieder an ihre einstige Tatkraft, ihre witzigen Kolumnen erinnerte, fiel es ihr schwer zu glauben, dass diese energiegeladene und meistens fröhlich wirkende Person auch nur im Entferntesten etwas mit dieser hier zu tun haben sollte. Mit ihr, Martina Knittel, deren endgültiger Abgang so kläglich gescheitert war.

      Handelte es sich überhaupt um ein und dasselbe Leben? Jetzt jedenfalls schien offenbar auch der letzte Funke Freude in ihr erloschen zu sein.

      Sie fand es mehr als ungerecht weiter leben zu müssen, obwohl sie es gar nicht mehr wollte. Einfach weiterleben, so tun, als sei nichts geschehen? Nein! Auf gar keinen Fall!

      Was ging es eigentlich diese wildfremden Menschen hier an, warum sie sich aus dem Leben verabschieden wollte? Um ein Haar hätte sie sich erhoben und wäre einfach hinausgegangen.

      Das aber wirklich zu tun, ließ der klägliche Rest ihrer antrainierten Disziplin dann doch nicht zu.

      Sie blieb also. Ebenso wie ihre Zweifel: Sollte sie wirklich diesen Alkohol- und Tablettensüchtigen, all diesen armen Menschen, die eigentlich genug mit sich selbst zu kämpfen hatten, erklären, dass sie zum Beispiel von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit verloren hatte? Und dass als Begründung ausgerechnet die Fürsorgepflicht herhalten musste?

      Sie konnte gerade noch so ein Lachen unterdrücken, als ihr alles wieder einfiel: Sie war krank gewesen, zehn Wochen nach einer Operation. Doch danach war sie mit noch größerem Elan als vorher an ihre Arbeit gegangen. So viele interessante Ideen waren aufgekeimt und hatten sich während ihrer zwangsverordneten Ruhepause ausbauen lassen. Sie brannte förmlich darauf, sie endlich in Geschichten umzusetzen, die nicht nur die bisherigen Leser noch fester mit ihrer gewohnten Zeitung verbinden, sondern vielleicht sogar viele neue hinzugewinnen könnten.

      Doch daraus sollte nichts werden ...

      Stattdessen kam es zu einem Personalgespräch, das alles in sich zusammenfallen ließ, was ihr bis dahin wichtig und lebensnotwendig erschienen war: Äußerlich hatte Martina damals alles ganz ruhig über sich ergehen lassen. Das war auf die Einnahme mehrerer Beruhigungstabletten zurückzuführen gewesen.

      Für eine andere Kollegin hatte das gleiche Gespräch ziemlich bittere gesundheitliche Folgen gehabt. Trotzdem hatte jene Kollegin, noch bevor sie selbst im Krankenwagen abtransportiert worden war, zum Telefon gegriffen und Martina gewarnt.

      „Nimm bloß deine Indianerpillen, es geht um unsere Entlassung!“

      Das hatte Martina in dem Moment gar nicht so recht glauben können. Die Pillen hatte sie trotzdem genommen und sich lächelnd mit an den ovalen Tisch gesetzt, wo die wichtigsten Leute aus der Chefetage schon versammelt waren.

      „Schön, Kollegin Knittel, dass Sie uns nach so langer Krankheit wieder zur Verfügung stehen", begann der Verlagsleiter in schönster small-talk-Manier zu sprechen. "Was mich noch interessiert: Stand eigentlich Ihre Krankheit im ursächlichen Zusammenhang mit Ihrer Arbeit?“

      Als ob er das nicht wüsste! Martina hatte aufgehorcht bei den gestelzten Worten des Verlagsleiters. Ihm, der sonst bei jeder Gelegenheit sein heiter-gemütliches Naturell hervorkehrte, hätte sie so eine gestelzte Wortwahl nicht zugetraut.

      Das Lächeln gefror ihr auf den Lippen und sie schaute irritiert von einem zum anderen. Nur ein paar Sekunden, dann glaubte sie, die Situation erfasst zu haben.

      Der Verlagsleiter hatte seine Frage mit einer ausladenden Geste unterstrichen, der Chefredakteur zu Boden gesehen, als wüsste er, was jetzt unweigerlich kommen musste. Ein bisschen rot war er auch geworden, fast sah es so aus, als schäme er sich.

      Der Betriebsratsvorsitzende war ihrem Blick ausgewichen und hatte auf die Kastanienblüten vor dem offenen Fenster gestarrt.

      Die Personalchefin klopfte schon von Beginn an mit ihrem Nobelfüllhalter nervös auf den Tisch und strich sich eine imaginäre Locke aus dem Gesicht.

      Martinas Kopf hatte trotz der Pillen zu hämmern begonnen. Sie fühlte sich miserabel und starrte dem Verleger so gebannt ins Gesicht wie das Kaninchen der Schlange.

      Jene bangen Sekunden waren ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, und sie hatte die Frage des Verlagschefs noch immer nicht beantwortet. Verzweifelt suchte sie nach Worten, die plausibel klangen und ihn zufrieden stellen würden.

      Endlich glaubte sie, diese gefunden zu haben. Sie holte Luft, setzte zum Sprechen an, aber die Stimme versagte ihren Dienst.

      Eigentlich hatte sie sagen wollen, dass sie ihre Arbeit liebte, dass sie ihr vor allem in den letzten sechs Jahren wieder sinnvoll und richtig vorkam. Und dass wohl niemand, dem die Arbeit wieder so wichtig geworden ist, auf die Uhr schaut oder vordergründig an seine Gesundheit denkt. Hatte das so ähnlich nicht sogar in der Todesanzeige der ehemaligen Chefredakteurin gestanden? "Wem die Arbeit Spaß macht, der achtet nicht auf seine Gesundheit." Vom menschlichen Organismus hatte sie ihm trotzdem erzählen wollen, der es nun einmal auf Dauer nicht aushalten könne, täglich unter Hochdruck oft zwölf Stunden oder länger zu arbeiten - immer mit dem Druck des Belichtungstermins im Nacken, zu dem die fertig gebauten Seiten in der Hauptredaktion vorliegen mussten, per Datenautobahn auf die Reise geschickt - aus der Provinz in die Landeshauptstadt.

      Doch