Liliana Dahlberg

Dem Glück auf den Fersen


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Ich erinnere mich noch heute an den beinahe mitleidigen Blick meines Physiklehrers, als er gemeint hatte, mir wäre nicht ausreichend Intelligenz in die Wiege gelegt worden, doch auch unterbelichtete Menschen hätten natürlich ihre Daseinsberechtigung. Wie galant Herr Simmel sich da ausgedrückt hatte. Danke noch mal an dieser Stelle! Mein Lateinlehrer wiederum hatte mir eine mit einer Sechs benotete Klassenarbeit mit der Bemerkung zurückgegeben, ich hätte damit den bellum gallicum verloren.

      Mein Klassenlehrer Herr Schmidt, in dessen Fach Geschichte ich auf einer Drei stand, hatte mich eines Morgens mit den bedeutungsschweren Worten begrüßt: „Houston, wir haben ein Problem.“ In dem Moment hatte ich das große Flattern bekommen. In seiner Funktion als Klassenlehrer hatte sich Herr Schmidt im Lehrerzimmer bestimmt angeregt mit meinen Latein-, Mathematik-, Physik- und Chemielehrern unterhalten. Worüber sie sich ausgetauscht hatten, war leider allzu offensichtlich: meine miserablen Noten! Mir klopfte das Herz bis zum Hals, als Herr Schmidt mir mitteilte, dass er am Ende der Stunde mit mir reden müsse. Die Apollo 13 erlebte damals ein Happy End, ich jedoch nicht. Kurzum, ich wechselte auf die Realschule.

      An dieser Stelle möchte ich aber noch einmal herausstellen, dass ich in den Sprachen abgesehen von Latein an sich relativ gut war. Damit meine ich, dass ich sowohl meine Muttersprache gut beherrschte, was nicht jeder Deutsche von sich behaupten konnte, als auch in Englisch auf einer Zwei gestanden hatte.

      Wer brauchte außerdem schon eine tote Sprache wie Latein? Gut, die Ärzteschaft würde ihren Nutzen gewiss nicht abstreiten, ebenso wenig wie die Juristen. Meine Leistungen in Deutsch und Englisch waren für meinen weiteren Verbleib auf dem Gymnasium zu meinem Leidwesen einfach nicht ausreichend gewesen.

      Mein Klassenlehrer hatte sich von mir mit den Worten „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ verabschiedet. Damit hatte er sich wieder mal eines historischen Zitats bedient, denn das waren die Worte eines preußischen Generals, die dieser nach dem Einfall Napoleons an seine Soldaten gerichtet hatte. Pah! So dumm, wie er dachte, war ich also doch nicht! Mein Lateinlehrer hatte die Unverschämtheit besessen, mich in der letzten Stunde, in der ich seine Schülerin war, noch einige Vokabeln abzufragen. Wollte er die Gewissheit haben, dass man mich zu Recht geschasst hatte? Ich hatte darauf einfach entgegnet: „Was discipulus heißt, können Sie mich fragen, wenn ich tot bin. Immerhin ist Latein eine tote Sprache, in der sich nur Tote unterhalten.“ Damit hatte ich Herrn Neuer, wenn auch nur für ein paar Sekunden, mundtot gemacht, was ich für mich als letzten Erfolg auf besagter Schule wertete. Mein Lehrer hatte sich daraufhin zu einem milden Lächeln durchgerungen und mich in Ruhe gelassen. Danach hatte ich die Realschule besucht. Obwohl sich meine Noten in Mathematik, Chemie und Physik dort verbesserten, hatte ich mich trotzdem als Verliererin gefühlt. Zumal mein Mathelehrer gerne Witze riss, vor allem wenn er mich an die Tafel holte, um eine Aufgabe zu lösen. „Na, dir ist die Luft auf dem Gymnasium wohl zu dünn geworden?“ oder „Hast du den Absturz gut überlebt?“ – nach solchen Sätzen, die Herr Thiele bei jeder sich bietenden Gelegenheit anbrachte, wäre ich ihm immer am liebsten ins Gesicht gesprungen und hätte gerufen: „Lassen Sie mich in Ruhe! Ich bin nicht abgestürzt, sondern habe nur eine Zwischenlandung eingelegt.“ Das mochte zwar nicht ganz stimmen, aber ich sah nicht ein, warum ich ständig mit der Tatsache konfrontiert werden musste, dass mein Unvermögen in den naturwissenschaftlichen Fächern meine Schullaufbahn negativ beeinflusst hatte. Eine Zeit lang glaubte ich nicht mehr an mich, obwohl sich meine Schulleistungen deutlich verbesserten. Bis zu dem Tag, an dem ich meine Leidenschaft für Schuhe entdeckte, nein, ich will eher sagen, an dem diese Leidenschaft geboren wurde. Dies verdankte ich kurioserweise meiner Biologielehrerin Frau Fiedler. Biologie betrachtete ich im Übrigen stets als ein sehr lohnendes Fach. Denn solange man die entsprechenden Kapitel des Biologiebuches auswendig lernte, erlebte man keine unangenehmen Überraschungen bei der Rückgabe von Klausuren. Doch zurück zu Frau Fiedler: Sie erschien stets sehr modisch gekleidet im Klassenzimmer, auch wenn das nicht so recht zum Bild einer Biologielehrerin passen mochte. An einem verregneten Dienstag trug sie Schuhe von Neid Cherag, und da war es um mich geschehen! Sie sah in diesen Stilettos noch viel eleganter aus als sonst, und ich bewunderte, wie leichtfüßig sie sich in ihnen bewegte, gerade so, als würde der doch ziemlich hohe Absatz für sie nicht das geringste Hindernis darstellen. Auf jeden Fall faszinierten mich diese Schuhe so sehr, dass ich mich kaum mehr auf den Unterricht konzentrieren konnte. Die High Heels waren tiefblau und schienen in das Leben einer Dame von Welt zu gehören. Ich war zu diesem Zeitpunkt natürlich noch ein Teenager, wusste aber dennoch, dass ich eines Tages ebenfalls solche Schuhe tragen würde. Sobald meine Mutter außer Haus war, schlüpfte ich heimlich in ihre Stilettos und übte das Laufen. Das geschah ziemlich häufig, aber meine Mutter erwischte mich nie in flagranti. Aber schließlich kiffte ich ja auch nicht ohne ihr Wissen, und Gehversuche in High Heels waren laut Jungendschutzgesetz nicht verboten. Ich genoss das Gefühl, Schuhe mit Absatz zu tragen. Kaum umschlossen sie meine Füße, fühlte ich mich besser, hübscher, ja sogar mutiger. Das Schöne an den High Heels war, dass sie mir einen gewissen Glücksrausch bereiteten. Wozu brauchte ich also Cannabis oder andere Drogen?

      Die Stilettos meiner Mutter waren einfach wunderbar, und jedes Mal, wenn ich sie trug, spürte ich, wie die Endorphine in meinem Körper regelrecht explodierten. Wenn ich erwachsen war, wollte ich zu einer Göttin in High Heels werden.

      Nun stand ich also im La Scarpa und musste mich mit dem Gedanken anfreunden, bald arbeitslos zu sein. Das Leben war manchmal so bitter und ungerecht. Herr Schöne teilte uns gerade mit, dass er bereits ein Schild für den Räumungsverkauf vorbereitet hatte. Wahrscheinlich eines dieser Schilder, auf denen stand: Alles muss raus! Dreißig Prozent auf alles! Ich merkte, wie erste Tränen in mir hochstiegen, doch ich musste mich jetzt zusammennehmen. Schließlich musste die Kundschaft im Laden noch bedient werden, ehe ich in die Mittagspause entschwinden und diese mit so ganz anderen Gedanken als sonst verbringen würde. Mit einem Taschentuch aus meiner Handtasche, die hinter der Theke lag, wischte ich mir die Tränen weg, die über meine Wangen liefen. Christine bemerkte meinen Gefühlsausbruch als Erste. Sie kam auf mich zu und sagte freundlich: „Ach, Milly, du wirst sicher eine neue Stelle finden. Keiner kann sich für Schuhe so sehr begeistern wie du. Jedes Schuhgeschäft würde so eine Verkäuferin mit Kusshand nehmen.“ Ich war mir dessen bewusst, dass sie mich lediglich aufbauen wollte. Denn sie wusste: Die Wahrheit war eine andere. Da brach all meine Verzweiflung aus mir heraus: „Ich werde als Klofrau enden! Kai wird sich meinetwegen schämen und mich verlassen! Er wird mit einem Louboutin durchbrennen und mich armen Flipflop zurücklassen. Jawohl, Flipflop! Der Ballerina ist passé.“

      Nun schaute mich Christine doch ein wenig besorgt an. Denn meine Schuhparabel, die ich auf mich und meine Liebesbeziehung anwendete, kannte sie nicht. Sie wusste lediglich, dass ich Schuhe als Seelentröster und gute Freunde betrachtete, die einen durchs Leben begleiteten. Dann war endlich Mittagspause. Doch ich konnte diese nicht wie gewöhnlich in der Pizzeria um die Ecke verbringen. Ich hatte vielmehr das Gefühl, dass man mich wie einen Pizzateig behandelt hatte. Ja, man hatte mich plattgemacht! Ich beschloss, die Mittagspause in Kais beziehungsweise unserer Wohnung zu verbringen. Ich musste schnell weg von hier! Ich rannte zu meinem Auto, schloss es auf, startete den Motor und fuhr in einem Tempo, das mir einen Strafzettel eingebracht hätte, davon.

      Zu Hause warf ich mich auf das weiche Bett und vergrub mein Gesicht in meinem Kopfkissen. Tränen strömten mir aus den Augen, als sprudelten sie aus einer soeben entdeckten Ölquelle. Das Kissen war bald vollkommen durchnässt und diente als eine Art Auffangbecken meiner Tränen. Einige Minuten später, als ich mich wieder ein wenig beruhigt hatte, atmete ich einmal tief ein und aus. Nein, ich würde schon irgendwie eine neue Stelle finden. Im Umkreis gab es schließlich auch noch Schuhgeschäfte. In der Nachbarstadt Billing beispielsweise.

      Mit einem Ausdruck im Gesicht, als ruhe die ganze Last der Welt auf meinen Schultern, betrat ich nach der Mittagspause wieder den Schuhladen, der schon bald Geschichte sein würde. Meine tiefe Trauer darüber, dass ich bereits in naher Zukunft nicht mehr jeden Tag einige Stunden lang von Schuhen der Marken Geox, Nike, Puma, Manolo Blahnik und Neid Cherag umgeben sein würde, entlockte meinen Augen erneut ein paar Tränen. Ich musste jetzt wirklich all mein schauspielerisches Talent an den Tag legen. Ich konnte meine Kundschaft schließlich nicht mit einem Gesicht bedienen, als stünde der Weltuntergang bevor. Auch Herr Schöne sollte nicht merken, dass er mit seiner Entscheidung, beruflich