Patrick Fiedel

Tarius


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Mama. Das klingt voll langweilig. Da macht man doch jeden Tag dasselbe und abends muss man Arbeiten kontrollieren. Papa sitzt doch immer bis spät in die Nacht. Das ist das Gegenteil von Abenteuer“, reagierte Julius entschlossen.

       „Lass uns ein anderes Mal darüber reden. Du hast ja noch viel Zeit. Und dennoch: Auch Abenteurer müssen schlafen.“

       „Na gut“, flüsterte Julius leise und schloss langsam seine Augen.

       „Gute Nacht, Mama.“

       „Gute Nacht, du Abenteurer.“

      In dieser Nacht träumte Julius von einem schwarzen Wildpferd.

      II

      Am nächsten Morgen erwachte Julius mit einem Lächeln im Gesicht. Die Sommerferien begrüßten ihn an ihrem ersten Tag mit Sonnenschein und Vogelgezwitscher vor dem Haus. Er schwang seine Bettdecke zur Seite, spurtete die Treppe hinunter in die Küche, wo seine Eltern schon am gedeckten Frühstückstisch saßen, und setzte sich auf seinen Stammplatz.

       „Guten Morgen“, rief er freudig.

       „Guten Morgen“, antworteten seine Eltern im Chor.

       Julius schnappte sich eine Brotscheibe und bestrich sie mit goldgelber Butter. Darauf legte er mehrere Blutwurstscheiben und zum krönenden Abschluss durfte eine zarte Schicht Senf nicht fehlen. Dann biss er hinein und kaute genüsslich. Dabei beobachtete er, wie sein Vater ihn beobachtete.

       „Wie du so etwas nur essen kannst“, sprach dieser und verzog dabei das Gesicht.

       „Das hast du von deinem Großvater“, ergänzte Julius’ Mutter und küsste ihn dabei auf seinen blonden Wuschelkopf.

       Julius’ Vater stand auf und befüllte den Teekessel mit Wasser. Er stellte ihn auf der Herdplatte ab und räusperte sich.

       „Wir müssen dir etwas sagen.“

       Julius blickte gespannt in des Vaters Augen.

       „Du erinnerst dich doch daran, dass ich mich in einem Krankenhaus beworben habe“, führte seine Mutter die Erzählung fort.

       Julius blickte nun noch gespannter in Mutters Augen.

       „Deine Mama wurde angenommen. Sie hat die Stelle bekommen“, ergänzte nun wieder sein Vater.

      Julius blickte abwechselnd in Vaters Augen, dann Mutters, dann wieder Vaters, dann Mutters.

       „Das ist fantastisch!“, freute er sich und ging zu seiner Mutter, um sie zu umarmen.

       „Aber wieso freut ihr euch nicht richtig?“, fragte er.

       „Nun. Die ganze Sache ist das Beste, was uns seit langem passiert ist, aber es gibt einen Haken“, sagte Julius’ Mutter.

       Julius schaute in ihre Augen und dann wieder in des Vaters Augen, gespannt, was er gleich sagen würde.

       „Ich muss in drei Tagen anfangen“, führte sie fort und Julius’ Augen verwirrte das genauso sehr wie sein noch schläfriges Köpfchen.

       Er wusste nun gar nicht mehr, wo er hinschauen sollte, und sagte nichts. Er konnte nichts sagen. Der geplante Jahresurlaub mit seinen Eltern sollte genau in drei Tagen beginnen. Sie wollten zusammen nach Italien fliegen. Julius hatte sich so darauf gefreut, das erste Mal zu fliegen und drei Wochen lang nur Pasta und Pizza zu essen. Seine Mundwinkel wanderten nach unten und obwohl er sich für seine Mutter von Herzen freute, konnten seine Mundwinkel das nicht wiedergeben.

       „Wir müssen dir noch etwas sagen“, sprach sein Vater, der nun wartend am Teekessel stand.

       Julius erwartete das Schlimmste: Er müsste jeden Tag mit auf die neue Arbeit. Er müsste mit seinem Vater langweilige Lehrerdinge erledigen. Er müsste jetzt kochen lernen. Er müsste das Haus putzen. Sie zögen aus dem Haus aus, weil es auf einer Fliegerbombe gebaut worden war.

       „Du darfst Großvater besuchen. Allein“, unterbrach ihn sein Vater beim gedanklichen Unglücksszenario.

       In diesem Moment pfiff nicht nur der Teekessel. Julius sprang blitzschnell auf und kreischte vor Freude mit ihm um die Wette. Der Stuhl flog nach hinten und Julius rannte erst um den Tisch, dann die Treppe nach oben, durch sein Zimmer, wieder die Stufen nach unten, durch das Wohnzimmer hindurch, zurück zur Küche und schlussendlich setzte er zu einem finalen Sprung fest in die Arme seiner Eltern an.

       Er war aufgeregt. Noch nie hatte er allein verreisen dürfen. Noch nie hatte er Zeit nur mit seinem Großvater verbringen dürfen. Noch nie war er so glücklich gewesen wie genau jetzt. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich Julius beruhigt hatte und wieder damit begann, langsam und gemächlich zu atmen. Seine Eltern schienen erleichtert und saßen mit ihm am Küchentisch. Sie tranken aufgebrühten Pfefferminztee und Kaffee und warteten auf das Fragengewitter, das wohl im Anflug war bei dieser Neuigkeit. Sie kannten ihren Sohn ja nun schon eine Weile.

       „Aber weiß Opa denn Bescheid?“, schoss Julius los.

       „Er hat es selbst vorgeschlagen, durfte aber noch nichts verraten“, antwortete seine Mutter und setzte sich ihrem Sohn nun wie ein Verhörpartner in einer Krimiserie gegenüber.

       „Und wie lange darf ich?“

       „Drei Wochen.“

       „Seit wann steht das fest?“

       „Seitdem ich weiß, dass ich die neue Stelle antrete.“

       „Und seit wann weißt du das?

       „Seit vorgestern.“

       „Und wie komme ich hin, zu Opa?“

       „Mit dem Zug.“

       „Wann fahre ich los?“

       „Morgen früh.“

       In Julius‘ Kopf ratterte es. Er hatte seinen Großvater zuletzt vor zwei Jahren gesehen. Zwar telefonierten sie regelmäßig, aber ein Abenteurer wie sein Großvater war nicht oft in seinem Zuhause, sondern unterwegs. Dafür hatte Julius schon immer Verständnis gehabt, seine Eltern weniger.

       Damals also, vor zwei Jahren, waren sie zusammen mit dem Zug zu ihm gefahren. Das Zugfahren war einfach. Einsteigen, fahren, aussteigen. Ein Kinderspiel. Julius versuchte, sich zu erinnern, wie die Haltestelle hieß, die sein Ziel markierte.

       „Ich schreib dir alles auf“, reagierte seine Mutter, die am rätselnden Blick ihres Sohnes erkannte, was in ihm vorging.

       Julius strahlte, sprang auf und rannte nach oben, um zu packen. Er war kein Kleinkind mehr, er war immerhin schon 10 Jahre alt und sehr wohl in der Lage, selbst einen Koffer zu suchen und zu packen.

       „Mama? Wo ist denn der Koffer?“, schrie er quer durch das Haus.

       „Schrei nicht so. Der ist im Keller“, rief sie zurück.

       Julius machte sich also auf den Weg in den Keller. Er war kein Kleinkind mehr, er war immerhin schon 10 Jahre alt und sehr wohl in der Lage, alleine in einen gruseligen dunklen Keller zu gehen.

       „Papa, brauchst du auch etwas aus dem Keller?“, schrie er wieder zu laut.

       „Ich komme mal mit nach unten“, flüsterte Julius’ Vater direkt hinter ihm, „ich brauche eine Glühlampe.“

       Julius erschrak etwas darüber, dass sein Vater auf einmal hinter ihm stand, doch als dieser ihm zuzwinkerte, verschwand der Schreck und machte Platz für ein breites Grinsen. Er drückte auf den Lichtschalter, aber nichts geschah. Er schaute zur Lampe an der Wand und betätigte den Schalter erneut.

       „Ich sagte doch, ich brauche eine Glühlampe“, grinste sein Vater.

       „Dann wollen wir mal“, sagte Julius und stieg mutig hinter seinem Vater die Stufen hinab ins Dunkle.

       Sie tasteten sich durch die Finsternis des Raumes und Julius versuchte, den gesuchten Koffer zu erfühlen.