Patrick Fiedel

Tarius


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„Das sind der Stundenzeiger und der Minutenzeiger. Jetzt konzentrieren wir uns nur auf den Stundenzeiger. Ich richte die Uhr nun so aus, dass der Stundenzeiger direkt auf die Sonne zeigt. Jetzt schau auf die Uhr und auf die 12. Ich teile jetzt die Skala, also den Randbereich zwischen dem Stundenzeiger und der 12 genau in der Hälfte. Durch diesen Punkt hindurch denken wir uns eine Linie genau von der Mitte der Uhr aus kommend. Und diese zeigt nach Süden.“

       Julius stand mit offenem Mund vor Opa Tiberius und streckte seinen Arm entlang der gedachten Linie nach Süden. Dann streckte er seinen anderen Arm genau in die gegenüberliegende Richtung und stand nun da wie ein rot warnendes Ampelmännchen.

       „Dort entlang“, sagte er stolz.

       Sein Großvater richtete sich auf, strich seinem Enkel liebevoll über den Kopf und schritt voran.

       Sie verließen den Feldweg und marschierten querfeldein durch die hohen Wiesen, durch eine kleine Waldlichtung, über einen breiten Schotterweg, bergab an einem Bach entlang, dann wieder bergauf und schlussendlich schlüpften sie durch eine hohe Hecke und dann standen sie vor einem kleinen Holzzaun mit einem rostigen Gartentor.

       „Wir sind da“, freute sich Julius.

       „Und war das nicht ein viel spannenderer Weg, als über asphaltierte Straßen und Fußwege zu laufen?“

       „Ja, Opa.“

       Julius konnte sich nicht erklären, warum er auf einmal losrannte, aber er tat es. Er flitzte durch das geöffnete kleine Tor, hüpfte über den steinigen Weg, spurtete vorbei an kleinen Apfel- und Birnbäumen, stoppte und betrachtete die große Holztür, die genau in der Mitte des kleinen Häuschens thronte und durch herunterhängende Weinranken eingerahmt war, flutschte weiter am Haus vorbei, sprang auf die kleine Holzveranda, atmete kurz durch und beschleunigte mit Vollgas über die große Grünfläche bis zum Holzzaun am Ende des Gartens.

       „Lass uns ins Haus gehen. Hast du Hunger?“, rief sein Großvater.

       „O ja“, antwortete Julius freudig und rannte zum Haus zurück.

       „Du hast ja zwei neue Schaukelstühle“, stellte er fest und setzte sich kurz hinein.

       Dann folgte er seinem Großvater über eine Verandatür nach innen in die Küche.

       „Schau dich ruhig um“, sagte Opa Tiberius und wärmte einen vorbereiteten Eintopf auf dem Gasherd auf.

       Julius schaute sich um. Er betrachtete sich in einem Spiegel im Flur und zog eine Grimasse und dann schaute er sich das Arbeitszimmer mit den dunklen großen Regalen an. Unzählige kleine und große, schwarze und graue, gelblich und blau schimmernde Gesteinsproben bevölkerten die Regalabteile, Bücher und Akten ragten aus den Fächern heraus.

       Julius setzte sich kurz an den dunkelbraunen Holzschreibtisch am Fenster, drehte an der nebenstehenden Werkbank einen Schraubstock erst auf und dann wieder zu, stand auf und ging bis zu einem riesengroßen weinroten Ohrensessel aus Leder, setzte sich und knipste eine grün leuchtende Lampe an und wieder aus, rannte ins Wohnzimmer und schmiss sich auf die Couch.

       „Opa, ich mag dein Haus“, rief er.

       „Das freut mich, Julius“, rief dieser zurück. „Du kannst ja hier einziehen, wenn ich es einmal nicht mehr brauche.“

       Julius hüpfte von der Couch, ging in die Küche und setzte sich an den weißen Tisch in der Mitte des Raumes.

      Sein Großvater stellte ihm einen Teller mit köstlich riechendem Eintopf vor die Nase.

       „Meinst du das ernst?“, fragte Julius mit dem Löffel im Mund.

       „Was? Das mit dem Haus? Natürlich. Irgendwann gehört es mal dir. Von einem Tarius zum nächsten Tarius.“

       „Von einem Tarius zum nächsten Tarius“, wiederholte Julius diese Worte leise. Dabei kam er ins Grübeln.

       „Wieso hat Mama eigentlich nicht den Namen von Papa angenommen bei der Hochzeit?“, fragte er neugierig und Eintopf essend.

       Sein Großvater schmunzelte.

       „Dein Papa wollte es so. Er ist ja in einem Waisenhaus groß geworden, das weißt du ja. Also kannte er seine Eltern auch nicht. Da entschloss er sich, mit der Vergangenheit abzuschließen, einen Schlussstrich zu ziehen und unseren Namen anzunehmen. Das war ein großer Liebesbeweis für deine Mama und eine Ehre für mich, ihn als meinen Sohn in der Familie willkommen zu heißen.“

       Kurze Zeit herrschte Stille. Beide löffelten ihren Eintopf.

       „Hattest du nicht was von einer Überraschung erwähnt?“, schreckte Julius freudig auf.

       „Da ist aber jemand neugierig. Nun gut. Mir nach. Auf zur Überraschung.“

       Sie verließen das kleine Häuschen über die Verandatür, liefen über die Wiese bis zum Zaun, den Julius’ Großvater an dem kleinen Tor öffnete und gingen einen kleinen mit Tannen bewachsenen Hügel hinauf bis zu einer weitläufigen eingezäunten Wiese.

       „Pass gut auf“, sagte er zu seinem Enkel und pfiff, indem er Daumen und Zeigefinger zusammen gerollt zwischen die Lippen steckte.

       Julius staunte über die Pfeifkunst und dann hörte er etwas. Dumpfe schnell aufeinanderfolgende Geräusche waren auf dem Wiesenboden erst leise, dann immer lauter und schneller werdend, in der Ferne zu hören.

       Er blickte nach vorn und kniff die Augen zusammen. Die dumpfen Geräusche näherten sich und dann sah er es. Ein Pferd.

       „Opa, da ist ein Pferd“, sprach Julius leise und zeigte darauf.

       „Ich weiß, Junge“, antwortete sein Großvater glücklich.

       Es rannte schnell wie der Wind auf die beiden zu, wieherte und machte vor dem Zaun halt. Es atmete laut und schritt, den Kopf etwas gesenkt, auf seinen Besitzer zu und schnupperte an ihm.

       Julius sah das Pferd an. Ein wunderschönes schwarzes Pferd mit langer schwarzer Mähne und den größten und treusten Augen, die er je gesehen hatte. Das Pferd schaute nun auch genau auf das noch unbekannte Menschlein.

       „Das ist ein Vollblutaraber. Und da es so schwarz ist, sagt man auch Rappe.“, erzählte Opa Tiberius und streichelte es am Kopf.

       „Du erinnerst dich doch bestimmt an meine Geschichte?“

       „Das ist das Pferd aus der Geschichte?“, fragte Julius überrascht.

       „Genau. Johann und ich hatten alle Mühe, es zu beruhigen, aber schließlich schafften wir es und konnten es mit viel Mühe und Geduld einfangen. Es fürchtete sich und hatte blutige Striemen, soweit wir mit unseren Lampen sehen konnten. Kurze Zeit später kam ein Mann mit Taschenlampe durch den Wald gerannt. Als wir die Peitsche sahen, wussten wir, woher die Verletzungen kamen. Er griff nach dem Pferd und beschimpfte es. Es war wohl nicht das erste Mal ausgebüxt. Dann holte er mit der Peitsche aus.“

       „Oh nein, Opa“, schluchzte Julius erschrocken.

       „Ich griff seinen Arm“, erzählte Opa Tiberius weiter, „und packte ihn fest.“

       Das Pferd wieherte erschrocken, als ob es sich genau daran erinnern konnte.

       „Ich sagte zu dem Mann, er solle sofort aufhören. Er schaute mich erschrocken an und Johann stellte sich neben mich. Er ließ ab und nahm das ängstliche Pferd mit. Wir konnten nichts tun. Doch wir mussten etwas tun. ‚HALT!‘, rief ich in den Wald hinein.“

       Julius platzte fast vor Spannung.

       „Der Mann blieb stehen. Ich besprach es kurz mit Johann und dann ging ich auf den Mann zu. ‚Wie viel wollen Sie für das Pferd?‘, fragte ich ihn. Er sagte, er verkaufe es nicht, aber ich blieb standhaft. Ich bot ihm etwas an, das er nicht ablehnen konnte. Er willigte ein, lachte schrecklich und das Pferd knabberte an meinem Ohr.“

       „Was hast du ihm gegeben, Opa?“, wollte Julius wissen. „Und wie ist das Pferd hierhergekommen?“