dem Regal, rieb sein fingerbelastetes Auge, stieß sich beim Aufrichten den Kopf und fluchte.
„Sch….ornsteinfeger“, rief er laut und Julius musste lachen.
„Entschuldige, Papa“, flüsterte er, aber es war längst verziehen. Sein Vater war schon auf dem Weg zur kaputten Glühbirne, um sie auszutauschen. Julius hörte das Schraubgeräusch, dann ein ‚Klick‘ und der Keller war erleuchtet.
Der Koffer ward schnell entdeckt und gleich von Julius aufgenommen. Schnell rannte er die Stufen nach oben, an Papa vorbei, der sich sein Auge rieb. Und die Stirn. Julius packte, klassenfahrterprobt, wie er war, seinen Reisekoffer und trug ihn zur Haustür hinunter.
Der Abend mit seinen Eltern sollte ein wundervoller werden. Sie aßen Spaghetti mit Fleischbällchen in Tomatensoße und schauten einen Film über Italien. Julius fand ihn ziemlich schnulzig, aber zumindest kam eine coole geheimnisvolle Steinmaske darin vor. Sie spielten Rommé und aßen Salzstangen. Seine Eltern tanzten zu italienischer Musik und Julius schaute ihnen glücklich zu. Spät gingen sie schlafen.
In dieser Nacht träumte Julius von einer sprechenden Steinmaske. Sie sprach italienisch. Er verstand sie nicht.
III
Der Bahnsteig war fast leer, als Julius mit seinen Eltern dort ankam. Eine große Uhr zeigte mit ihren beiden dünnen schwarzen Armen die aktuelle Zeit: 10.26 Uhr. Vier Bänke in der Nähe des Gleises warteten auf pausierende Reisende.
„Wir sind viel zu früh“, sagte Julius.
„Du kennst doch Mama“, antwortete sein Vater lächelnd und ging zum Zeitungskiosk, um sich eine Tageszeitung zu kaufen.
Am zweiten Gleis des kleinen Bahnhofes fuhr nach einer schwer verständlichen Lautsprecherdurchsage ein Zug durch. Julius beobachtete ihn und versuchte, die Wagen zu zählen.
„Sieh mal, Junge“, zupfte ihn seine Mutter unterbrechend am Ärmel, „die ist bestimmt in deinem Alter. Und was für süße Zöpfe sie hat.“
Julius drehte sich zur Seite und sah, von wem sie gesprochen hatte. Ein Mädchen mit Stofftier in der Hand stand zu Füßen ihrer sich unterhaltenden Eltern und winkte ihm zu. Julius schaute schnell in eine andere Richtung, dann kurz wieder zu dem Mädchen, die immer noch winkte.
„Na, schon eine kleine Freundin gefunden?“, sprach es für seinen Geschmack etwas zu laut direkt hinter ihm.
Sein Vater war mit der Tagespresse zurückgekehrt, sah das winkende Mädchen und grinste. Julius wurde rot. Das Mädchen grinste weiter. Und winkte. Julius schaute verlegen auf den Boden. Jetzt hatten sich auch die Eltern gegenseitig entdeckt, freuten sich gemeinsam über das winkende Kind und winkten auch. Und grinsten. Julius schloss die Augen. Er wollte weg von hier.
Ein knarzender Lautsprecher erlöste ihn endlich und beendete die elterlichen Verkupplungsversuche.
Der Interregio war in Anfahrt. Der Bahnsteig füllte sich mit anderen Mitreisenden. Gehetzte Männer und Frauen mit Aktentaschen, entspannte ältere Damen mit grauen Haaren, verliebte händchenhaltende Jugendliche, spazierstockführende Herren mit Hüten, Familien mit schlafenden Kindern im Kinderwagen, Familien mit schreienden Kindern im Kinderwagen und viele mehr bevölkerten den bis eben fast leeren Bahnsteig.
Julius schaute nach links und sah den nahenden Zug in der Ferne.
„Jetzt ist es soweit“, schluchzte seine Mutter und beugte sich zu ihm herab.
„Pass gut auf dich auf. Halte dich an die Anweisungen auf dem Zettel. Iss deinen Reiseproviant. Bleib dort sitzen, wo wir dich gleich hinsetzen. Höre auf die Durchsagen im Zug. Schau genau auf die Ortsschilder am Bahnhof. Steig erst aus, wenn der Zug an Opas Station ankommt“, ergänzte sie mit den Tränen kämpfend.
„Und wasch dich immer. Kämm dir die Haare. Putz dir die Zähne. Ruf uns an, wenn du angekommen bist“, schloss sie mütterlich umsorgend.
Der Zug kam langsam angefahren und quietschte sich über die Gleise zum Stehen. Die Türen öffneten sich. Ankommende stiegen aus, Abreisende stiegen ein. Julius und seine Eltern kletterten in den Waggon hinein und suchten das für Julius bestimmte Abteil.
„Guten Tag“, grüßte sein Vater die schon Sitzenden und verstaute den Koffer. Er umarmte seinen Sohn, gab ihm einen Kuss und Julius schaute ihm auf die Stirn, besser gesagt, auf die Beule.
„Tut es sehr weh?“
„Die Beule nicht. Der Abschied schon“, antwortete er mit einer kleinen Träne im Auge.
Dann umarmten sich beide kurz. Julius’ Mutter stellte derweil den Proviantrucksack auf den Sitz und wies alle im Abteil Mitfahrenden an, ein Auge auf ihren Sohn zu haben.
„Sag dem Schaffner Bescheid, wenn etwas ist!“, forderte sie ihn zum Abschied auf und umarmte Julius so fest, dass er kurz nach Luft schnappen musste.
Als sich die mütterliche Kraftumarmung langsam löste, kullerten die mütterlichen Tränen über das schluchzende Gesicht.
„Mama, es sind doch nur drei Wochen. Ich habe dich lieb. Mach dir keine Sorgen“, versuchte Julius erwachsen zu beruhigen.
„Ich habe dich lieb“, flüsterte sie und beendete den schmerzlichen Abschied.
Der Zug wollte losfahren, ob man wollte oder nicht. Julius nahm am Fenster Platz, setzte den Proviantrucksack auf seinen Schoß und schaute nach draußen. Die Türen schlossen sich und das metallene Ungetüm kam in Bewegung. Er winkte seinen Eltern zu. Seine Eltern winkten zurück.
Dann verschwanden sie durch des Fensters Bewegung mit dem Zug in Fahrtrichtung und dort, wo Julius eben noch den Bahnhof gesehen hatte, wechselten sich anfänglich graue Häuserfassaden und dann Felder und Wiesen verschwommen ab. Der Zug schleppte sich mit gleichmäßigem Herzschlag über die Gleise.
Julius schaute sich um.
Vor ihm saß ein groß gewachsener Herr in schwarzem Anzug. Er trug eine runde Brille, hinter deren Gläsern seine Augen stark vergrößert aussahen. Er nickte freundlich. Daneben saß ein älteres Ehepaar, vermutete Julius. Zumindest war die ältere Dame mit hochgesteckten grauen Haaren und funkelnden Ketten um den Hals sehr bemüht darum, dass der ältere Herr mit Hut doch grade sitzen und nicht mit den Füßen wackeln sollte. Ob er seine Medikamente genommen habe und die Fahrscheine hätte. Die Fragen und Aufforderungen der älteren Dame schienen endlos. Die Antwort des Mannes dafür kurz.
„Ja, mein Täubchen“, sagte dieser nur und schloss entspannt die Augen.
Seine Hände lagen ineinander verschränkt auf seinem Bauch. Er atmete entspannt und drehte die Daumen im Kreis. Neben Julius war ein freier Platz. An der Tür saß eine junge Frau mit löchriger Jeans und grün gefärbten Haaren. Auf ihrem T-Shirt stand wohl etwas, was der älteren Dame gegenüber nicht gefiel, zumindest schüttelte sie mehrmals den Kopf beim Blick darauf.
„Na, du fährst wohl das erste Mal alleine mit dem Zug?“, fragte die ältere Dame.
„Ja. Ich fahre zu meinem Großvater“, antwortete Julius wohlerzogen.
„Du musst keine Angst haben“, fuhr sie fort.
„Die habe ich auch nicht. Ich bin schon 10 Jahre alt“, reagierte Julius selbstbewusst und öffnete seinen Rucksack.
Es war bemerkenswert, was ihm seine Mutter für eine knapp dreistündige Zugfahrt alles eingepackt hatte. Belegte Brote mit Blutwurst, Äpfel, Bananen, zwei Flaschen Wasser und kleine Brotstangen tummelten sich nebeneinander und warteten auf das Verspeisen. Der beidseitig beschriebene Anweisungszettel lag ganz oben.
Julius entschied sich vorerst für einen Apfel und verstaute das übrige Überlebenspaket über seinem Kopf in der Gepäckablage. Nachdem er den Apfel bis auf das Kerngehäuse gegessen hatte, stand er auf und streckte sich. Er ging zur Tür und öffnete sie.
„Wo willst du denn hin?“, fragte die ältere Dame besorgt.