ob du es wert bist, ein paar Groschen am Tag zu verdienen“, raunzte Meyer ihn an. „Schließlich muss ich erst das wieder reinkriegen, was ich Rolli für dich bezahlt habe.“
„Bezahlt?“, fragte Saban verblüfft.
„Klar! Denkst du, der macht etwas umsonst? Auf seine Art ist Rolli ein knallharter Geschäftsmann. Ihm gehört die Hälfte von allem, was du im ersten Jahr verdienen würdest. Was nicht viel ist.“
„Und die andere Hälfte?“
„Sagte ich doch schon: Kost und Logis. Und jetzt scher dich weg, ich muss meine Abrechnung machen.“
Meyer, das wusste Saban bereits am dritten Tag von den anderen, war ein Geizhals und ein Säufer. Abrechnung machen hieß bei ihm, dass er nachts nach dem Ende des Rummeltages sein Büro abschloss, in die Stadt ging und die Einnahmen des Tages vertrank. Morgens kam er dann aufs Gelände getorkelt, beschimpfte seine Leute und legte sich ins Bett, bis die Abendvorstellung begann. Die Nachmittagsvorstellungen für die Kinder liefen ohne ihn.
Am Abend des fünften Tages gab es eine Abschiedsvorstellung, dann bauten die Schausteller noch in der Nacht alles ab. Am folgenden Vormittag rollten die Pferdewagen zum Bahnhof, wo sie auf einen Güterzug nach Berlin verladen wurden.
„Die Sommerfeste in Berlin sind die beste Einrichtung im ganzen Kaiserreich!“, behauptete der alte Meyer, während er zusah, wie seine Leute das Material in Güterwaggons verluden. „Die Leute haben Geld in den Taschen, das Wetter ist schön – Kaiserwetter, eben! – und die ganze Arbeit ist nur ein Spaß.“
Die Leute vom Rummel leisteten sich keine Sitzplätze in einem Personenzug, sondern reisten in einem Viehwaggon des Güterzugs, auf Stroh liegend eng an eng. Für die paar Stunden bis nach Berlin ging das.
Abends trafen sie in der Hauptstadt ein und fuhren gleich weiter, nach Süden hinaus, zu einem Zwischenquartier bei Teltow. Denn die Saison hatte noch nicht begonnen, es gab noch kein Engagement für sie.
Als am übernächsten Tag der alte Meyer von seiner nächtlichen Sauftour nicht zurückkehrte, machte sich niemand Sorgen. Doch am Abend kam ein Polizist mit der Nachricht, Meyer sei in einer Kneipe zusammengebrochen. Man hatte ihn in ein Spital gebracht, wo der Arzt nur lapidar feststellte, der Mann habe sich zu Tode gesoffen, ihm sei nicht mehr zu helfen.
Niemand trauerte Meyer nach. Das wenige Geld, das man in seinem Wohnwagen fand, wurde für die Beerdigung beiseitegelegt. Schon am folgenden Morgen machten sich die Mitglieder seiner Monstrositätenschau auf den Weg nach Berlin, um sich neue Arbeitgeber zu suchen. Saban hielt sich an die haarige Frau, die in einem langen Kleid und mit einem Hut mit Trauerschleier unterwegs war, um nicht aufzufallen. Sie hatte von ein paar Schaustellern gehört, die noch Attraktionen suchten, und hoffte, dort Anstellung zu finden.
Es war ein Kinderjahrmarkt, zu dem sie gelangten. Sie bummelten an den Buden entlang. Eine Monstrositätenschau gab es nicht, aber Kleinwüchsige, die als ‚die lustigen Zwerge aus den Höhlen Norwegens‘ angekündigt wurden und ein kleines Zelt für ihren Auftritt nutzten. Die haarige Frau war enttäuscht und machte sich auf die Suche nach einem anderen Rummelplatz, aber Saban gefiel es hier. Ihm fielen Rollis Worte wieder ein, dass ein Rummel eine gute Tarnung für einen mit schwarzer Haut war. Ein Unterschlupf, bei dem sich weder die Berliner, noch die Behörden, darüber wundern würden, wenn ein Afrikaner mit dabei war. Der Jahrmarkt war klein und befand sich am Rande der Stadt, das ideale Versteck also. Deshalb ließ sich Saban den Weg zum Wohnwagen der ‚Zwerge‘ zeigen und klopfte dort an.
Ein kleinwüchsiger Mann, eigentlich noch ein Junge etwa in Sabans Alter, öffnete die Tür.
„Guten Tag!“, grüßte Saban. Dann schwieg er, denn der Kleinwüchsige starrte ihn mit offenem Mund an, als hätte er noch nie so einen Menschen gesehen. Was bei einem Schausteller kaum möglich war.
„Guten Tag!“, sagte Saban noch einmal. „Ich suche Arbeit bei einem Schausteller. Habt ihr hier auf dem Jahrmarkt etwas für mich?“
Der Kleinwüchsige wandte sich um und rief: „Mutter, komm mal her. Das glaubst du nicht!“
Eine ebenso kleine Frau, deutlich älter und breiter als der Junge, kam. Sie wischte sich die Hände an ihrer Küchenschürze ab. Als sie Saban sah, machte sie große Augen, fing sich aber gleich wieder.
„Ein Afrikaner“, stellte sie fest. „Was will er?“
„Er fragt nach Arbeit“, erklärte ihr Sohn.
„Warum stehst du dann noch hier herum, Muck? Bitte ihn herein. Nur weil er Benjamin ähnelt? Das tun alle jungen Afrikaner, vermute ich mal. Immer rein mit ihm in die gute Stube.“ Sie streckte Saban die Hand entgegen. „Willkommen. Ich bin Jedah Stolberg und das ist mein Sohn Muck. Wie heißt du? Möchtest du Kuchen? Trinkst du Kaffee? Ich mache gerade welchen.“
Jedah plauderte fröhlich vor sich hin. Saban folgte ihr in den Wohnwagen und staunte über den Aufbau, den er nun sah: Der vordere Teil des Wagens war als gutbürgerliches Wohnzimmer eingerichtet, mit Sesseln und Tisch und Bildern an den Wänden. Die hintere Hälfte dagegen war auf halber Höhe in zwei Etagen aufgeteilt. Unten befand sich eine Küche, die gerade hoch genug war für die kleinwüchsigen Bewohner des Wagens, und oben sah Saban durch halb geschlossene Vorhänge zwei Schlafkammern. Die Sessel im vorderen Teil waren von der Größe her ebenfalls auf die Bewohner zugeschnitten, aber es gab einen Stuhl für normalgroße Menschen, auf dem Saban Platz nahm.
„Wo kommst du her, mein Junge?“, fragte Frau Stolberg, während sie Kaffeegeschirr und einen Kuchen auf dem Tisch anrichtete.
Saban behauptete, er sei aus Abenteuerlust nach Europa gekommen und habe in Hamburg Anschluss an eine Schaustellergruppe gefunden. Dann berichtete er vom Schicksal des alten Meyer. Muck und seine Mutter kannten den Mann. Die meisten Schausteller in Deutschland kannten sich untereinander zumindest dem Namen nach. Deshalb glaubten sie Saban auch den ersten Teil seiner Geschichte, der geflunkert war.
„Du musst schon entschuldigen, dass wir dich vorhin so angestarrt haben“, sagte Mucks Mutter schließlich. „Aber du ähnelst einem Freund von uns, der bis letztes Jahr hier mitgearbeitet hat. Benjamin Grabow hieß er. Der alte Grabow ist jetzt tot und Benjamin heißt mit Nachnamen in Wirklichkeit Liersch und wohnt jetzt im Ausland, aber das ist eine lange Geschichte, die auch nicht jeden angeht.“
„Wir dürfen sie eigentlich gar nicht erzählen“, warf Muck wichtigtuerisch ein. „Höchste Kreise waren damals darin verwickelt und man hat uns eine Belohnung bezahlt für unsere Hilfe. Aber auch, damit wir den Mund halten, wenn du verstehst, was ich meine.“
Saban verstand es nicht, aber es war ihm auch egal. „Ich habe in Hamburg einen Benjamin getroffen, der dunkle Haut hat. Nicht ganz so dunkel, wie ich, er ist ein Mischling. Er hat mir erzählt, dass er früher auf dem Rummel gearbeitet hat. Vielleicht ist es derselbe.“
Muck sprang auf. „Das muss er sein!“, rief er. „Wir dachten, er ist in London. Wie habt ihr euch kennengelernt?“
Da Saban nicht die ganze Wahrheit erzählen wollte, berichtete er, er habe Benjamin auf dem Schiff von London kommend gesehen und sich in Hamburg kurz mit ihm unterhalten. Er fügte hinzu, dass dieser Benjamin in einigen Wochen nach Berlin kommen würde.
Das löste bei den beiden Stolbergs solche Freude aus, dass sie sich an den Armen griffen und einen Tanz vorführten, der ihren Wohnwagen wackeln ließ.
„Du bist also ein Freund von Benjamin“, sagte Muck schließlich außer Atem. „Klar, dass wir dir helfen. Die Aufbauten von Grabows damaliger Afrika-Schau schleppen wir immer noch in einem der Wagen mit uns herum. Daraus können wir ein Zelt aufbauen und ein wenig einrichten, so dass du zumindest kurze Vorstellungen für Kinder geben kannst. Die Einkünfte kannst du erst mal behalten, und wenn wir im Laufe des Sommers bessere Engagements finden, bauen wir wieder eine große Schau auf. Vielleicht findet sich noch ein zweiter Afrikaner, dann wären wir eine Attraktion in Berlin. Die Zwerge vom Norden der Weltkugel und die Afrikaner aus dem Süden. Sensationen über Sensationen! Die Zuschauer werden uns die Eintrittskarten aus den Händen reißen. Einverstanden?“
Auch