Manfred Rehor

Diamanten aus Afrika


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mit einem Wolkenbruch. Sie rannten aus dem Bahnhof heraus durch den Platzregen zu einer freien Droschke. Es war eine Droschke Erster Klasse, teurer als die normalen, aber mit einem besseren Pferd und vor allem mit einem Verdeck, das dicht war. Die beiden Kofferträger, die sie sich im Bahnhof gesucht hatten, rannten laut fluchend mit dem schweren Gepäck hinter ihnen her. Sie bekamen ein Extratrinkgeld, schimpften aber trotzdem, während sie zum Bahnhof zurücktrotteten. Da sie nun schon nass waren, hielten sie es wohl nicht für nötig, sich zu beeilen.

      Dem Droschker, der auf dem Kutschbock im strömenden Regen saß, schien das Wetter dagegen nichts auszumachen. Das Wasser floss von der Krempe seines Zylinders herunter auf seinen schweren Mantel und von dort über die Sitzbank in den Matsch der Straße. „Wird kein schöner Sommer!“, rief er seinen Fahrgästen zu. „Wohin?“

      Legationsrat Liersch nannte das Hotel und die Droschke fuhr los. „Ich hoffe, das Wetter ist kein schlechtes Vorzeichen für unseren Aufenthalt“, sagte er zu Benjamin.

      In der Eingangshalle des Hotels, das sie nach zwanzig Minuten langsamer Fahrt über aufgeweichte Straßen erreichten, erwartete sie ein junger Mann aus dem Ministerium. Adrett gekleidet saß er in einer Ecke der Empfangshalle, wo er Kaffee trinkend und eine Zigarre rauchend aus dem Fenster hinaus in das Schmuddelwetter sah. Nachdem Legationsrat Liersch sich in das Gästebuch des Hotels eingetragen hatte, stand der Mann auf und kam heran geschlendert.

      „Heinrich von Winterhoff“, stellte er sich vor. „Willkommen in Berlin, Herr Legationsrat. Danke, dass Sie Ihre Ankunft telegraphisch angekündigt haben, das erspart uns langes Hin und Her. Darf ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?“

      Die beiden gingen in eine Ecke, wo Herr von Winterhoff leise auf Benjamins Vater einredete. Benjamin fand den jungen Mann unsympathisch, aber das ging ihm häufig so bei Höheren Beamten. Er beurteilte sie immer noch nach seiner jahrelangen Erfahrung auf den Rummelplätzen Deutschlands, wo diese Sorte Mensch als mäkelig, arrogant und geizig verschrien war.

      „Schlechte Nachrichten“, sagte sein Vater zu Benjamin, als er zurückkam. „Fürst Bismarck hat sich nach Friedrichsruh zurückgezogen, der Gesundheit wegen und weil er dort weitere politische Schritte planen will. Es scheint, als wäre wieder einmal der Frieden in Europa in Gefahr. Ich soll sofort zu ihm kommen. Aber alleine.“

      Benjamin, der sich auf die Tage in Berlin gemeinsam mit seinem Vater gefreut hatte, spürte einen Stich im Herzen. Auch in London war er viel alleine gewesen, weil sein Vater in politischen Geschäften ständig unterwegs gewesen war. Was andererseits aber auch bedeutet hatte, dass Benjamin ohne väterliche Aufsicht einige spannende Abenteuer in England erleben konnte.

      „Wie lange wirst du wegbleiben?“, fragte er.

      „Ich weiß es nicht. Das Hotelzimmer ist bereits bezahlt. Ich gebe dir genügend Geld, damit du selbst die Stadt erkunden kannst.“ Er kramte in seinen Taschen und zog einiges an Bargeld heraus. Es war ein Vielfaches von dem, was Benjamin normalerweise monatlich an Taschengeld bekam. Da Benjamin in Hamburg sein ganzes Geld Saban gegeben hatte, kam ihm das gelegen.

      Sein Vater fuhr fort: „Außerdem werde ich beim Empfangschef einen Scheck hinterlegen, für den Fall der Fälle. Herr von Winterhoff wird sich um alles Weitere kümmern. Falls etwas ist, wende dich an ihn. Er wird auch täglich hier vorbeikommen und nachsehen, ob mit dir alles in Ordnung ist.“

      Das war Benjamin gar nicht recht. Dieser junge Schnösel sollte auf ihn aufpassen? Das durfte nicht sein! Schon wie ihn dieser von Winterhoff jetzt ansah; fast mit etwas wie Heimtücke im Blick.

      „Ich werde schon zurechtkommen“, versprach Benjamin. „Kannst du nicht wenigstens am Wochenende nach Berlin ...“

      „Die Kutsche wartet, Herr Legationsrat“, unterbrach ihn Herr von Winterhoff. „Und Fürst Bismarck harrt Ihrer Ankunft. Wenn ich bitten darf!“

      Es blieb nur Zeit für einen kurzen Abschied, dann ging Benjamins Vater mit seinen Koffern wieder hinaus in den Regen. Eine große Kutsche fuhr vor und Benjamin sah seinen Vater und Heinrich von Winterhoff einsteigen. Er winkte noch, aber sein Vater sah es nicht mehr.

      „Herr Liersch?“

      Benjamin fühlte sich erst gar nicht angesprochen, doch ein lautes Räuspern brachte ihn dazu, sich umzudrehen. Der Empfangschef stand hinter ihm.

      „Darf ich Ihnen Ihre Räume zeigen lassen?“

      „Räume?“, fragte Benjamin.

      „Die Suite, die Ihr Vater gemietet hat. Sie besteht aus zwei Schlafzimmern, zwei Ankleideräumen und zwei Badezimmer. Außerdem stehen Ihnen ein Salon und ein Empfangsraum zur Verfügung. Im dritten Stock.“ Der Empfangschef winkte einem Pagen, der sich Benjamins Koffer nahm und zum Aufzug trug.

      Benjamin ging auch dorthin und der Empfangschef folgte. Wieder verstand Benjamin nicht gleich, um was es dem Mann eigentlich ging. Erst, als der vor der Aufzugstür besonders devot dienerte, begriff Benjamin und gab ihm ein paar Münzen als Trinkgeld. Der Empfangschef verbeugte sich erneut und zog sich hinter seinen Tresen zurück.

      Die Suite, in die der Page Benjamin führte, war riesig. Sie bot genügend Platz für eine vielköpfige Familie. Alles war vollgestellt mit Plüschsesseln und Sofas und Tischchen. Überall standen Podeste mit Vasen und Kunstgegenständen. An den Wänden hingen so viele Bilder, dass Benjamin sich an eine Gemäldegalerie erinnert fühlte. Schwere Vorhänge ließen kaum etwas von dem Tageslicht herein, das an diesem Regentag sowieso nur trübe war. Dafür strahlten von der Decke neumodische elektrische Glühbirnen und leuchteten jeden Winkel aus.

      „Ein bisschen groß für einen alleine“, sagte der Page.

      Benjamin sah ihn erstaunt an. Der Page war ein Junge etwa so alt wie er selbst, klein, drahtig und mit einem pfiffigen Gesichtsausdruck.

      „Mir wäre es auch lieber, wenn mein Vater hier wäre“, gab Benjamin zu. „Aber wenn er in dringenden Angelegenheiten weg muss, geht es eben nicht anders.“

      „So hat jeder seins zu tragen“, sagte der Page und zog die Miene eines welterfahrenen Mannes, die ihm nicht gut zu Gesicht stand.

      Benjamin gab ihm Trinkgeld und schickte ihn weg, dann wanderte er durch die Räume. Ein Klopfen rief ihn aber an die Türe zurück.

      „Herein!“

      Ein Diener trat ein. Es war ein kleiner, fast kahlköpfiger alter Mann in einem schwarzen Anzug mit dem Namen des Hotels auf der Brusttasche. „Ich werde Ihre Koffer auspacken, gnädiger Herr“, sagte der Mann.

      Verdattert lehnte Benjamin dies ab, was der Mann mit einem erstaunten Gesicht quittierte. „Dann darf ich Ihnen vielleicht ein Bad herrichten, Sie werden nach der langen Reise erschöpft sein. Haben Sie besondere Wünsche hinsichtlich der Temperatur oder der Badezusätze, gnädiger Herr?“

      Auch dieses Ansinnen lehnte Benjamin ab. Als der Diener dann anfing, die Räume zu kontrollieren, ob auch wirklich alles in Ordnung war und so, wie der gnädige Herr es wünsche, und fragte, was er dem Koch ausrichten solle über die besonderen Befehle des gnädigen Herrn bezüglich des Essens, hatte Benjamin genug. Er gab dem Diener ein extra hohes Trinkgeld und schickte ihn weg.

      Hier würde er sich nicht wohl fühlen. So viel stand für Benjamin jetzt schon fest. Wochenlang in dieser Suite zu wohnen, bedienert und als gnädiger Herr angeredet zu werden, ständig Trinkgelder verteilend, um in Ruhe gelassen zu werden – das würde die Hölle für ihn sein.

      Benjamin setzte sich ans Fenster und sah hinunter auf die regennasse Straße, auf der sich Droschken und Menschen mit Regenschirmen drängten. Es war Mittagszeit, die Stadt wuselte wie ein aufgestörter Ameisenhaufen.

      Berlin war nicht Benjamins Heimat. Er war als Kind und Jugendlicher mehrmals mit dem Rummel in dieser Stadt gewesen, und natürlich während der abenteuerlichen Tage, als er den Rummel verließ und seinen Vater hier suchte und fand. Von den Menschen, die er damals kennengelernt hatte, lebten der Millionär Riehmann und seine Tochter Bettina in Berlin, und zu denen wollte er nicht unbedingt gehen. Der Gassenjunge Hans und seine Freunde – das wäre eine Möglichkeit. Die Schausteller