Manfred Rehor

Diamanten aus Afrika


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nicht die ideale Zeit für einen Rummelplatz in Berlin. Die Frühlingsfeste waren vorüber und die großen Gartenfeste in den Biergärten hatten noch nicht begonnen. Aber es konnte ja trotzdem sein, dass sich einige Schausteller bereits in der Stadt aufhielten, weil sie nichts Besseres gefunden hatten. Gewöhnlich waren Veranstaltungen in Berlin an den Litfaßsäulen angeklebt. Deshalb machte sich Benjamin auf den Weg nach unten, um den Empfangschef zu fragen, wo in der Nähe des Hotels die nächste Litfaßsäule zu finden sei.

      Der Empfangschef erlaubte sich, zunächst die Augenbrauen hochzuziehen, bevor er sagte: „Das kulturelle Leben der Hauptstadt ist sicherlich vielfältig. Aber Veranstaltungen, die für Personen von Stand geeignet sind, findet man nicht an diesen Säulen auf der Straße.“

      „Ich will wissen, wo ein Jahrmarkt ist“, beharrte Benjamin.

      „Da empfehle ich Ihnen den Blick in die heutige Zeitung, die wie jeden Tag für unsere Gäste bereitliegt“, sagte der Empfangschef. Er deutete auf ein paar Tische, die in der Eingangshalle des Hotels standen.

      Also ging Benjamin dorthin, suchte sich die aktuelle Zeitung aus einem Stapel nationaler und internationaler Blätter heraus und setzte sich in einen der tiefen, weichen Sessel, die penetrant nach Zigarrenrauch stanken. Er überflog die Titelseite und die folgenden politischen und gesellschaftlichen Berichte. Gerade wollte er weiterblättern, als das Wort ‚Afrika‘ ihn innehalten ließ. Ein kurzer Artikel berichtete von einem gewissen Graf Ernest von Wolfer, der nach einer mehrmonatigen Erkundungsreise in die Kolonie und andere entlegene Gegenden Afrikas nach Berlin zurückgekehrt sei. Der Herr Graf plane die Gründung einer Aktiengesellschaft, um die Schätze des schwarzen Kontinents auszuwerten. Die Zeitung empfahl ihren Lesern, soweit sie bereit seien, in eine lukrative und fast risikolose, aber sehr gewinnträchtige Geschäftsidee zu investieren, den Namen des Grafen im Gedächtnis zu behalten.

      Neben dem Artikel war ein Bild des Grafen abgedruckt. Benjamin stutzte. Woher kannte er diesen Mann? Dessen rundliches Gesicht mit einem breiten Backenbart nach amerikanischer Mode war auffällig genug. Es dauerte einen Moment, bis es Benjamin wieder einfiel: Das war der Mann, der damals im Hamburger Hafen zugesehen hatte, als Benjamin mit seinem Vater aus der Lagerhalle kam. Die Halle, in der er Saban getroffen hatte. Der Graf befand sich damals in Begleitung mehrerer Männer, die weit unter seinem Stand waren; Typen, die Benjamin dank seiner Erfahrung auf dem Rummel als Schläger und Ganoven eingestuft hatte. War der Graf damals auch gerade von seiner Reise zurückgekehrt?

      Benjamin blätterte weiter und fand den Teil mit den Veranstaltungshinweisen. Mit dem Finger auf der Seite ging er die vielen kleinen Einträge durch, bis er einen interessanten fand: Ein Kinderjahrmarkt fand statt, mit Zwergen, Tieren und starken Männern. Die Anschrift kannte Benjamin noch aus seinem letzten Aufenthalt in Berlin: ein Eckgrundstück in einem der ärmeren Bezirke der Stadt. Damals waren sein Freund Muck und dessen Mutter dort aufgetreten. Der kleine Muck, der eigentlich Burkhard hieß, und seine Mutter Jedah kannte Benjamin seit seinen Kindertagen.

      Mit der Zeitung in der Hand ging Benjamin zurück zum Empfangschef. „Kann ich die behalten?“

      „Selbstverständlich! Falls Sie es wünschen, abonnieren wir für Sie das Blatt für die Zeit Ihres Aufenthalts, so dass Sie es täglich während des Frühstücks lesen können. Oder wäre Ihnen die Abendausgabe lieber? Oder beide?“

      „Nein, danke. Haben Sie eigentlich schon von Graf von Wolfer gehört, über den in diesem Artikel geschrieben wird?“ Benjamin zeigte ihm den Text und das Bild.

      „Er war nie Gast unseres Hauses. Aber sein Name ist mir selbstverständlich bekannt. War er nicht einige Jahre lang Bismarcks Berater in Fragen der Kolonialpolitik? Ich bin mir nicht sicher, kann aber gerne Erkundigungen einziehen, falls Sie dies wünschen.“

      „Nicht nötig. Ich gehe gleich weg, ich bringe nur die Zeitung hoch.“

      „Aber nicht doch!“, hielt ihn der Empfangschef auf. Er winkte einen Pagen heran und wies ihn an, die Zeitung in die Suite des Herrn Liersch zu bringen. Benjamin gab ihm noch einmal ein Trinkgeld, bevor er das Hotel verließ. Er fühlte sich, als wäre er einer Falle entronnen.

      Es regnete nur noch leicht, als er sich auf die Suche nach der richtigen Pferdetram machte. Den Empfangschef danach zu fragen, scheute er sich. In dem Dreiviertel Jahr, das er nicht in Berlin gewesen war, hatte sich nicht viel geändert. Er fand die Tram, die ihn in die Nähe des Rummelgeländes brachte. Dort stieg er um in einen Pferdeomnibus. Die letzten paar hundert Meter ging er zu Fuß, bis er das Gelände vor sich sah. Mit fachmännischem Blick musterte er den Rummelplatz.

      Das Gelände bestand nach wie vor nur aus einer lehmigen Fläche, die nach dem starken Regen nichts als Matsch war. Man hatte deshalb alte Bretter als Fußwege zwischen die Buden gelegt, aber kaum ein Besucher war auf dem Platz. An Attraktionen gab es die üblichen Fahrgeschäfte und Imbissstände, einen Zauberer, ein Puppentheater, einen ‚stärksten Mann der Welt‘ und ‚die lustigen Zwerge aus den Höhlen Norwegens‘. Das waren Muck und seine Mutter! Benjamin jauchzte laut auf vor Freude.

      Doch auf den zweiten Blick bemerkte er, dass auch einiges fehlte. Die Monstrositätenschau mit den dicken Frauen, zum Beispiel. Bei so einer hatte Benjamins beste Freundin während seiner Rummelzeit gearbeitet, die dicke Rosalinde. Vielleicht hatte sie den Absprung geschafft und war nun dabei, abzunehmen; hoffentlich unter der Aufsicht eines Arztes, denn Rosalinde war wirklich sehr, sehr dick gewesen.

      Ein kleines Zelt schließlich, das am Rand des Platzes stand, dort, wo es zu den abgestellten Wohnwagen und den Ställen für die Pferde ging, erinnerte Benjamin an seine eigene Vergangenheit. Er hatte den Sohn eines afrikanischen Stammeshäuptlings dargestellt. Als solcher hatte er für die Besucher Kriegstänze aufgeführt und den Kindern erfundene Geschichten aus der afrikanischen Steppe und den unendlichen Dschungeln erzählt. Deshalb war das Zelt, das er damals mit dem Gauner Grabow betrieben hatte, entsprechend auf exotisch dekoriert gewesen. So wie dasjenige, das dort stand, nur viel größer. Allerdings war vor diesem Zelt ein weithin sichtbares Schild ‚Geschlossen!‘ angebracht.

      Langsam ging Benjamin weiter. Er freute sich auf Muck, und vielleicht war der ‚stärkste Mann der Welt‘ sein alter Freund Herkules. Aber gleichzeitig fühlte er Angst davor, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Viel war seither geschehen. Bei seinem Vater und ihm in London, aber sicherlich auch bei seinen Freunden vom Rummel.

      Hinter sich hörte er eine Frauenstimme, die laut seinen Namen rief. Er drehte sich um und sah Mucks Mutter, eine kleinwüchsige Artistin, die vom Einkaufen kam. Sie ließ ihre Einkaufstasche fallen und lief auf ihren kurzen Beinen auf ihn zu, die Arme ausgebreitet zur Begrüßung.

      Benjamin auf dem Rummelplatz

      Benjamin sah sich das Zelt an, in dem Saban einige Tage lang aufgetreten war, und es kamen ihm beinahe die Tränen. Seine Kindheit fiel ihm wieder ein, die vielen Auftritte gemeinsam mit seinem Ziehvater, dem Gauner Friedrich Grabow. Jeden Tag Vorstellungen, fast jeden Tag Prügel, und das Jahr für Jahr.

      Benjamin musste sich zwingen, daran zu denken, dass Grabow tot war und ihm nichts mehr tun konnte. Nun lebte Benjamin bei seinem wahren Vater, dem Legationsrat Liersch, in London und war nur zu Besuch in Berlin. Er war zu Besuch auf dem Rummel, aber er war kein Besucher wie jeder andere: Alle hier kannten ihn! Auf jedem Schritt wurde er begrüßt, bekam anerkennende Klapse auf die Schulter und Komplimente zugerufen wie: „Du siehst viel erwachsener aus, wie ein echter englischer Gentleman!“

      Muck führte ihn herum und erzählte, was in dem Jahr seit Benjamins Weggang geschehen war, bevor er auf Saban zu sprechen kam. „Er ist ohne ein Wort zu sagen verschwunden“, berichtete Muck. „Ich hatte ihn anders eingeschätzt, besonders, weil er ein Freund von dir ist.“

      „Eigentlich befreundet sind wir nicht“, schränkte Benjamin ein. „Wir sind uns nur einmal in Hamburg begegnet. Vielleicht hat ihm das Schaustellergewerbe nicht zugesagt. Die Zuschauer können ziemlich gemein sein.“

      „Glaube ich nicht, er hat nur Kindervorstellungen gegeben. Ein richtiges Programm wollten wir erst erarbeiten.“ Muck druckste eine Weile herum, bevor er weitersprach. „Wir haben jetzt ein klitzekleines