Hermann Metz

Rechnung ohne Wirt


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»Das brauchen Sie natürlich, falls Sie an der Steckdose arbeiten.« Dann schob ich ihm noch zwei neue Batterien für den Fall über den Tisch, dass die im Gerät eingelegten nicht ausreichten. Ich stand auf, lächelte ihm aufmunternd zu und fragte, ob ich am nächsten Tag wieder kommen und den Bericht abholen könne.

      Markus Occhio seufzte und sagte nur: »Natürlich, morgen. Um vier Uhr, wenn es Ihnen recht ist.«

      Ich trank meinen Kaffee zu Ende und Occhio holte sich einen zweiten Tee. Er erzählte mir wohl noch eine halbe Stunde lang von seiner Krankheit.

      Ich selbst habe Ingenieurwissenschaften studiert, sah aber nach dem Studium meine Aufgabe darin, der Menschheit technische Vorgänge, in Verbindung damit notgedrungen auch Technikgeschichte, zu vermitteln. Mein Podium dafür sind seit langem Fachzeitschriften; darüber hinaus versehe ich einen außerordentlichen Lehrauftrag an der Technischen Hochschule Stuttgart. Bald musste ich einsehen, dass meine sprachlichen Neigungen und mein Ingenieurstudium alleine nicht ausreichten, allen Anforderungen des Journalistenberufs gerecht zu werden. So nahm ich mit fast vierzig Jahren noch die Schur eines Ergänzungsstudiums auf mich, das mich wirklich vorwärts brachte. Vorlesungen und Praktika in Öffentlichkeitsarbeit, an der Hochschule offiziell als Public Relations, kurz: PR, bezeichnet, gingen auch auf die Berichterstattung über Messen, auf Krisen-PR und Sponsoring ein. Als bloßer Textverfasser hat der Journalist von heute ausgedient: Er muss ebenso gut mit Grafik, Design und elektronischer Bildbearbeitung umgehen können. Gerade in diesen modernen Techniken bot mir das anstrengende Studium viel Brauchbares.

      Für den BRENNPUNKT verfasse ich regelmäßig technikwissenschaftliche Beiträge. Dass sie einen kriminellen Hintergrund hatten, war immer wieder einmal vorgekommen. Der Chefredakteur war, als die Forstmaschinen-Affäre ruchbar wurde, wieder mit der Bitte an mich heran getreten, in der Angelegenheit zu recherchieren. Die Kernfragen, auf die ich seinem Auftrag zufolge Antworten zu suchen hatte, lauteten:

      1 Auf welchem Weg gelangten die Maschinen ins Kriegsgebiet?

      2 Wer sind die deutschen Hintermänner?

      3 Aufgrund welcher technischen Eigenschaften eignen sich die Maschinen für militärische Einsätze?

      Darüber hinaus legte der Chefredakteur Wert auf gutes Bildmaterial.

      Da sich das Magazin mit seinen Vergütungen nie geizig zeigte, hatte ich den Auftrag gerne angenommen.

      4

      Am Tag darauf suchte ich Markus Occhio, wie abgemacht, um sechzehn Uhr auf. Da ich mir der Zimmernummer nicht mehr sicher war, erkundigte ich mich an der Pforte danach. Der Mann legte eine klebrige Schneckennudel neben der Computertastatur ab, leckte seine Finger sauber und tippte den Namen ein. Er fuhr mit dem Zeigefinger über den Bildschirm und sagte gelangweilt: »Ja hier, Okzio, Markus, Nummer 216, zweites Geschoss. Dort drüben gibt es einen Fahrstuhl.« Fahrstuhl? fragte ich mich hier zum ersten Mal, woher mochte wohl der Begriff Fahrstuhl stammen? Hatte ich je irgendwo Aufzüge mit Stühlen gesehen?

      Hinter mir machte ein Mann einen Satz in den Lift, um nicht von der sich schließenden Tür eingeklemmt zu werden. Ein breitkrempiger Hut, wie sie in diesem Jahr in Mode gekommen waren, bedeckte sein speckiges, vielleicht einmal blondes Haar und seltsamerweise trug er jetzt schon, im Frühherbst, Handschuhe. An seinem Ohrläppchen glänzte ein goldener Ring. Sein Aktenkoffer hätte mein eigener sein können, wenn er nicht braun gewesen wäre; meiner war schwarz. Auf beiden sah ich dasselbe Schildchen an derselben Stelle neben dem Traggriff silbern glänzen: SECURATE. Das S, größer als die restlichen Buchstaben, war bei ihm rot übermalt. Der Mensch verbreitete einen abscheulichen Schweißgeruch. Er stieg mit mir aus dem Lift aus.

      Ich klopfte an die Tür mit der Nummer 216, aber auf Occhios »Herein« wartete ich vergeblich. Da auf dem Gang niemand zu sehen war, den ich um Erlaubnis hätte fragen können, drückte ich die Türklinke. Im ersten Moment erkannte ich nichts, denn die Sonne blendete mich und es brauchte einige Augenblicke, bis Einzelheiten im Zimmer Konturen gewannen. Dann fiel mir ein überbordender, auf dem Nachttisch stehender Blumenstrauß auf.

      Ich rief gekünstelt: »Guten Tag, Herr Occhio!«

      Keine Antwort. Zögernd ging ich zwei, drei Schritte ins Zimmer hinein. Zu meiner Linken, durch die offene Tür hindurch, sah ich vor dem Waschbecken einen Menschen auf dem Boden liegen – Occhio in seinem grünroten Morgenmantel, Glasscherben, die zerborstene Brille daneben. Was mich in diesem Moment bewegte, was mir durch den Kopf ging, kann ich immer noch nicht mit Gewissheit sagen, aber ich erinnere mich, dass ich ins Zimmer hinein und entsetzt am Bett vorbei zum Nachttisch hastete und die Schublade aufriss. Dort lagen die Batterien und eine Kassette. Ich nahm sie an mich, klappte den Aktenkoffer auf und warf alles zusammen hinein. Das Diktiergerät! Wo war das Diktiergerät? Da ich es nirgends entdeckte und nicht auch noch im Schrank wühlen wollte, ging ich mit zögernden Schritten ins Bad. Aus dem Hahn lief Wasser; der wie leblos Hingestreckte lag mit dem Gesicht auf dem Boden. Ich berührte ihn am Arm und fragte: »Herr Occhio? Herr Occhio, fehlt Ihnen etwas?« Keine Antwort. Er blieb reglos liegen und jetzt bemerkte ich die gelbe, abgestandene Gesichtsfarbe. Um Gottes Willen: Er ist tot! Occhio war tot! Mein Kopf war wie ausgehöhlt. Ich fühlte mich an Fäden hängen wie eine Marionette, die irgendjemand hin und her riss und die von oben auf einen unheimlichen Ort hinab starrte. Im Waschbecken lag ein zerbrochenes Trinkglas, über dessen Scherben Wasser aus dem Hahn lief. Ich stürzte aus dem Bad, schrammte am Ausgang mit dem Kopf an einem Hängeregal vorbei, verspürte einen stechenden Schmerz, riss die Zimmertür auf, schlug sie hinter mir zu, als hätte ich etwas verbrochen, und rannte zum Aufzug, in dessen Nähe sich ein Arzt und eine Krankenschwester unterhielten. Weiter hinten zog eine Putzfrau teilnahmslos ihren feuchten Lappen über den nass glänzenden Boden und der Handschuhmann vom Aufzug stand noch mit seinem Koffer herum. Mir fiel auf, wie der Arzt, ein ungewöhnlich hoch gewachsener, hagerer Mensch in weißem Mantel, mich anstierte.

      In mehrstöckigen Gebäuden nehme ich sonst grundsätzlich den Aufzug, jetzt aber hastete ich durch das Treppenhaus hinab, an roboterhaft staksenden Menschen vorbei und durch die Pforte hinaus ins Freie.

      Es hatte zu regnen begonnen. Hier schüttete es, während weiter hinten die schönste Sonne einen bewaldeten Bergrücken beleuchtete. Auf dem Parkplatz versuchte ich die Tür meines Wagens zu öffnen, bis ich merkte, dass ich im Schloss eines fremden Autos herumstocherte. Als ich meinen Wagen schließlich gefunden hatte, ließ ich mich durchnässt in den Sitz fallen. Ich zitterte an allen Gliedern. War meine Reaktion richtig gewesen? Ich zündete eine Zigarette an. Sie schmeckte wie jene grüne Rankenstängel im Wald, mit denen wir als Halbwüchsige einst unsere ersten Rauchversuche absolvierten und die einen so bitteren, beißenden, furchtbaren Dampf verströmten, dass sie mir diesen Sport eigentlich gleich damals für alle Zeiten hätten vergällen müssen. Sie verdächtigen dich alle, hörte ich mein Gewissen wie einen igendwo hinter mir schwebenden Geist flüstern. Was wirst du tun? Für den langen Arzt wäre ich ein unbekannter Besucher und damit bedeutungslos geblieben, wäre ich jetzt auf Nimmerwiedersehen weg gefahren. Aber wie, wenn Occhio mit jemandem – mit Ursula vielleicht – über mich, über meinen Besuch gestern bei ihm, über unsere Abmachung gesprochen hatte? Oder gar darüber, dass er mich heute wieder erwartete? Was war mit ihm geschehen? Er war doch schon einmal gestürzt, vielleicht war es wieder nur ein Schwächeanfall. Aber, wenn ihn womöglich jemand ermordet hatte? Mit Gift, oder erstochen? War mir die tödliche Wunde, das Blut auf den Bodenfliesen nur deshalb verborgen geblieben, weil ich Occhio nicht umgedreht hatte? Nein, nun steckte ich in einer ganz furchtbaren Sache, man konnte mir Dinge anhängen, mit denen ich nichts zu tun hatte!

      Langsam, um mich zu beruhigen, ging ich mit aufgespanntem Regenschirm, obwohl die ganze Welt wieder in das unschuldigste Sonnenlicht getaucht war, zur Pforte zurück, tappte durch Wasserlachen und überlegte, was ich sagen würde, sollte mich jemand nach Markus Occhio fragen. Vielleicht hatte man ihn noch gar nicht entdeckt, vielleicht lag er nur ohnmächtig auf dem Boden. Er konnte auch wieder zu sich gekommen sein und wäre dankbar gewesen, wenn ihm jemand geholfen hätte, aufzustehen. Läge er noch dort, würde ich in den Gang hinaus eilen und einen Pfleger, einen Arzt, irgendjemanden um Hilfe bitten. Ich drückte den quadratischen Knopf am Aufzugsrahmen, um ihn herum leuchtete es grün auf, aber die Tür blieb ewig geschlossen,