Hermann Metz

Rechnung ohne Wirt


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ich auf den Flur, sah gegenüber ein WC-Schild, ging hinein, wusch mir den Schweiß aus dem Gesicht neben einer im Rollstuhl sitzenden Frau, die umständlich ihr Gebiss säuberte, und dazu schrecklich stöhnte, fuhr mit dem Kamm durch mein verwildert aussehendes Haar. Dabei entdeckte ich die Wunde über der Schläfe, zog ein Papierhandtuch aus dem Spender und tupfte das Blut ab, das mir bis auf den Hemdkragen herunter gelaufen war. Dann ging ich zum Zimmer 216, Gott sei Dank war dieser lange Arzt nirgends, klopfte an. Hatte jemand »Herein« gerufen? Ich trat ein, am Tisch ganz hinten stand eine Frau, die einer anderen gerade einen Löffel zum Mund führte. Entschuldigung, verzeihen Sie. Irritiert schaute ich nochmals auf das Türschild: 316, kein Wunder. Ich vergewisserte mich an den benachbarten Türen: links 315, rechts 317. Ich ging durch das Treppenhaus in den 2. Stock hinab und merkte erst dort, dass ich meinen Regenschirm nicht mehr hatte.

      Einen sicheren Schritt vortäuschend und doch fürchtend, meine weichen Knie könnten mich einknicken lassen, visierte ich in der Hoffnung Zimmer 216 an, dort sei jetzt jemand und habe alles schon aufgeklärt. Ich klopfte zögerlich an: Stille. Wieder öffnete ich vorsichtig die Tür, kämpfte mit drei, vier Schritten gegen das entsetzlich gleißende Sonnenlicht an und sah es sofort: Occhio lag unverändert vor dem Waschbecken. Leichengeruch umfing mich, Buchsgeruch. Für mich ist Leichengeruch mit Buchsgeruch verbunden, denn in meiner Kindheit wurden die Särge mit den Toten, die damals bis zur Beerdigung in den Häusern standen, mit Buchszweigen drapiert. Doch mein Verstand sagte mir, das sei dumme Einbildung, weil es nirgends in dem sonst freundlichen Zimmer auch nur einen einzigen Buchszweig gab. Die Blumen in der Vase waren Sonnenblumen und Zinnien und andere, die ich nicht kannte, und sie rochen sicher nicht wie Buchs. Sofort trat ich wieder auf den Gang hinaus, suchte nach einer Tür, auf der ‚Stationsarzt‘, ‚Krankenschwester‘, ‚Zutritt verboten‘ oder Ähnliches stand. Aus einem der Krankenzimmer kam eine Schwester und huschte quer über den Gang; wir vermieden den Zusammenstoß, und sie fragte streng: »Ja?«

      Ich stotterte: »Entschuldigung. ... Es ist so ... ich wollte eigentlich schon einmal Herrn Occhio besuchen, aber ich glaube, er hat einen Anfall oder ... ich weiß es nicht. Er liegt auf dem Boden ... er antwortet nicht.«

      »Zimmer 216?« vernahm ich ihre männlich tiefe Stimme.

      »Ja, 216. Dort, rechts.«

      »Mein Gott, Oktschio!« stieß sie aus, drehte sich abrupt um und rannte nach 216.

      Ich zwang mich, gemächlich ihren kläppernden Schritten nachzugehen, um mich in keinem Falle verdächtig zu machen. Da stürzte sie schon wieder heraus, verschwand hinter einer der gegenüberliegenden Türen und kurz danach sah ich eine an der Decke hängende Kugel rot blinken. Da war sie wieder, kläpperte wieder in Richtung 216, verlor dabei einen Schuh, bremste, um die umgekehrt da liegende Öffnung mit dem entblößten Fuß irgendwie zu angeln und wieder hinein zu schlüpfen. Eine zweite Schwester zeigte sich auf dem Gang – es war Ursula, Occhios »Augenweide« – , und weiter vorne tauchte der Arzt auf; auch er schoss an mir vorbei in Richtung 216.

      Ich blieb einige Schritte vor der Tür stehen, hinter der sie jetzt Occhio wohl erste Hilfe leisteten. An der Wand vor mir hingen blasse Aquarelle, Burgen, Kirchen, durchweg in verkorkster Perspektive dargestellt. Nach einer Weile kamen der Arzt und die Krankenschwestern mit ernsten Mienen heraus. Ursula schlug zu meiner großen Erleichterung die andere Richtung ein.

      »Tot?« fragte ich leise durch den vorwurfsvollen Blick der Krankenschwester hindurch, die den Schuh verloren hatte.

      »Ja«, antwortete an ihrer Stelle der Arzt und sah mich einen Moment prüfend an. »Sie haben sich an der Schläfe verletzt.«

      »Das kommt vor«, antwortete ich und traute mich nicht, nach der Wunde zu tasten. Der Arzt fragte: »Waren Sie nicht schon einmal bei Herrn Occhio, vor einer viertel, halben Stunde?«

      »Ja«, würgte ich heraus.

      »Gut – dann sollten wir miteinander reden. Kommen Sie doch bitte mit mir.«

      Er führte mich in einen nach Medikamenten und Desinfektionsmitteln riechenden Raum, bot mir einen Stuhl an, und ging nochmals hinaus. Von draußen herein hörte ich ihn mit der Krankenschwester reden. Vielleicht gab er ihr Anweisungen, was mit dem Leichnam zu geschehen hatte. Meine Aufregung hatte sich etwas gelegt, denn ich sagte mir: Das Einzige, was in dieser Situation auf deiner Seite angreifbar ist, ist die Sache mit dem Diktiergerät. Markus Occhio hast du nichts getan. Sollte er jetzt nicht mehr leben, wäre es furchtbar, aber mit dir hat das alles nichts zu tun.

      Eine Viertelstunde später, die mir wie eine Ewigkeit erschien, kam der Arzt endlich zurück, hinter ihm die Schwester. Sie blieb stehen und mir fiel ihr hartes Gesicht auf. Der Arzt nahm einen Streifen Leukoplast aus einem Schrank, trat zu mir, klebte ihn mir auf die Wunde und sagte: »Wenn Sie erlauben, das kann man ja nicht mitansehen.« Dann ließ er sich auf den Drehstuhl hinter seinem Schreibtisch fallen, schob die auf der Tischplatte herumliegenden Medikamente auf einen Haufen zusammen, atmete tief durch, und sah von seiner beängstigenden Höhe auf mich herab.

      »Herr Occhio war schwer krank«, sagte er, »aber er hatte sich hier relativ gut erholt. Sein Sturz vor einigen Tagen ... « Er zögerte, dann fuhr er fort: »Gestern morgen allerdings gab es einige Probleme. Ich bedauere zutiefst, dass er nun so unerwartet verstarb. Sind Sie verwandt mit ihm?«

      »Nein, ein Bekannter«, erwiderte ich. »Genau genommen nicht einmal das.«

      »Gut, Sie haben ihn besucht. Ich hätte doch sehr gerne gewusst, warum Sie vorhin so hastig sein Zimmer verließen, überstürzt, wie mir vorkam.«

      Der Arzt war ein noch junger Mensch, vielleicht fünfundreißig – ich hätte fast sein Vater sein können. Beim Anblick seiner ergrauenden und seltsam wirren Haare dachte ich: Sicher hat er schon viel erlebt, Unglück, Krankheit, Leiden, Tod, Misserfolge in seinem Bemühen, Menschen die Gesundheit, wenigstens ein besseres Leben zurück zu geben. Sein Polizeiton wollte mir nicht recht dazu passen. Seine auf der Tischplatte liegende Hand zitterte.

      »Die Situation hat mich«, brachte ich heraus, »wie soll ich es sagen ... verwirrt. Ich wollte Herrn Occhio besuchen. Als ich sein Zimmer zum ersten Mal betrat, lag er so am Boden vor dem Waschbecken, wie wahrscheinlich auch Sie ihn angetroffen haben.«

      »Gut, aber warum haben Sie uns Ihre Entdeckung nicht gleich mitgeteilt?«

      Ja, warum? Ich sah die Krankenschwester mit einer Gießkanne zu den Blumen am Fenster gehen. Die Kanne schien leer zu sein, es kam nur ein Spritzer Wasser heraus, der die lanzenförmigen, wie zu grünen Kanälen gekrümmten Blätter erreichte und von dort auf den Boden lief.

      »Ich kann es Ihnen nicht genau sagen. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich in dieser Art mit einem Menschen konfrontiert sah. Ich befürchtete schon gleich, Herr Occhio sei tot und fühlte mich in Panik. Ich hatte zuerst tatsächlich vor, davonzufahren, irgendwohin. Doch unten auf dem Parkplatz, ich saß bereits im Wagen, plagte mich das Gewissen, denn es hätte ja sein können, dass Herr Occhio in einer Schwäche gestürzt war und dringend Hilfe benötigte. Deshalb überwand ich mich, zurück zu kommen, um mich zu vergewissern, ob ich ihn nicht voreilig alleine gelassen hatte. Den Rest kennen Sie.«

      »Gut. Das heißt, Sie waren auch beim ersten Mal nur kurzzeitig im Zimmer?«

      Gut! Gut! Merkte der Mann nicht, dass er einen Sprachtick hatte? Gut! Wenn er ihn schon als Intelligenzler nicht selbst bemerkte, dann hätte ihn seine Frau oder sonst eine ihm nahe stehende Person darauf aufmerksam machen können. Unpassender als mit »Gut!« hätte man im Moment keinen Satz einleiten können, denn es war überhaupt nichts gut. Eine seltsame Aggression hatte mich erfasst.

      Die Krankenschwester hatte die Kanne unter den Hahn im Waschbecken gestellt; das Wasser lief schon eine ganze Weile über. Abwechselnd blickte sie auf mich und auf den Arzt und übersah dabei völlig ihr sinnloses Tun. Dann drehte sie den Hahn zu und kippte die Kanne zur Henkelseite, um sie teilweise zu entleeren. Platschend schwappte das Wasser über den Beckenrand auf den Boden. Der Arzt drehte sich um und warf ihr einen strafenden Blick zu. Hier ging es um einen Toten und diese Krankenschwester dachte anscheinend an nichts anderes als an Gießkannen.

      Was hatte der Arzt gesagt? »Entschuldigen