Allmählich überwand Frances ihre Scheu und bemühte sich, hinter den Sinn der Worte zu kommen, die ihr fremd waren. Dann griff sie, auch ohne gefragt zu sein, in das Gespräch ein.
Während sie munter drauflos plapperte, überlegte sich der Herzog, ob und was ihm eine nähere Beziehung zu Frances nutzen könnte. Sachlich und kühl wog er das Für und Wider ab, ohne zu einem Schluß zu kommen. So plätscherte das Gespräch über belanglose Dinge dahin. Nebenher ließ der Herzog einfließen, daß er in nächster Zeit nach Paris fahren werde. Er habe am französischen Hofe eine Mission zu erfüllen und bleibe für längere Zeit von London fort. Frances’ Augen verrieten Enttäuschung. Das bewies dem Herzog, wie es um das Mädchen stand.
Und er erwog abermals, wie Frances ihm bei der Verwirklichung seiner Pläne nützlich sein könnte. Dann kam ihm ein Gedanke. Er schlug Frances vor, ihn doch zu begleiten.
Um den Schein der Etikette zu wahren, meinte er, daß es für sie nur von Vorteil sein könnte, ein fremdes Land kennenzulernen und dort ihre Sprachkenntnisse zu vervollkommnen. Er werde dafür sorgen, daß ihr nichts zustoße. Mit ihrer Mutter werde er sprechen und sie sicher zu überzeugen wissen.
Frances war Feuer und Flamme. Soviel Glück! Kaum faßbar! Ihre Phantasie beflügelte sich. Sie malte sich aus, wie sie in Paris, an der Seite des Herzogs, in einer offenen Kutsche durch die Straßen fahren würde. Durch die Stadt mit den eleganten Geschäften, den bestgekleideten Frauen der Welt, den berühmten Vergnügungs-Etablissements. Sie sah sich bereits am Hofe des Königs von Frankreich, bewundert und beneidet.
„Ich werde Maman fragen ...“ „Eben das werden Sie nicht!“ fuhr der Herzog dazwischen. „Der Plan bleibt unser Geheimnis. Sie werden mit niemandem darüber reden — auch nicht mit Ihrer Mutter. Das besorge ich zu gegebener Zeit.“ Und mit einem Lächeln setzte er hinzu: „Sie können doch verschwiegen sein!?“
„Ja, das kann ich!“
Lady Douglas eilte durch die weitläufigen Gänge des Schlosses zu ihren Gemächern. Die Soiree bei den Burtons war amüsant gewesen. Später als vorgesehen, war sie zurückgekehrt. Atemlos betrat sie das Schlafzimmer. Während sie noch Hut und Muff achtlos auf den Frisier-Sessel warf, hörte sie das Glockenzeichen der Königin. Lady Douglas schüttelte den Kopf. Was konnte Ihre Majestät zu so ungewöhnlicher Stunde noch von ihr wünschen? Sie eilte ins Boudoir der Königin, die völlig aufgelöst vor ihrem kleinen Sekretär saß.
„Wo bleiben Sie nur?! Man hat mich bestohlen! Man hat Papiere gestohlen!“ jammerte sie.
„Was denn für Papiere?“ Lady Douglas wußte nicht, worum es sich handelte.
„Es waren ein paar ganz wichtige Briefe, die Seine Majestät mir zur Aufbewahrung gegeben hatte. Und jetzt sind sie verschwunden!“ Die Königin war verzweifelt.
Lady Douglas bot alles auf, um ihre Herrin zu trösten und zu beruhigen. „Wenn nur Seine Majestät nichts davon erfährt!“ schluchzte die Königin. „Liebe Douglas, helfen Sie mit bitte, diese Briefe wiederzufinden!“ Die Tränen rannen. Die Hofdame war von dem flehentlichen Ton in der Stimme der Königin gerührt. Aber sie wußte keinen Rat. Wie sollte sie Briefe wiederfinden, deren Inhalt sie nicht kannte, von denen sie nicht ahnte, wer daran interessiert sein
könnte.
Auch die Königin wußte lediglich, daß es sich um wichtige Dokumente handelte, die mit einer versiegelten Schnur gebündelt waren.
Damit konnte Lady Douglas nichts anfangen. Sie beschloß, den Herzog von D*** ins Vertrauen zu ziehen. Vielleicht konnte er weiterhelfen. Daß er auch hier seine Hand mit im Spiel hatte, glaubte sie allerdings nicht.
Sie gab der Königin ein Beruhigungsmittel, führte sie ins Schlafgemach, entkleidete und bettete sie mit besorgten Worten und Gesten. Sie rückte den Toilette-Sessel an das Bett und hielt die Hand Ihrer Majestät, bis der Schlaf den Kummer in das Land der Träume verbannte. Noch wälzte sich die Königin unruhig auf ihrem Lager, dann schlief sie fest ein.
Der Türklopfer dröhnte durch das Haus. Fanny, auf dem Treppenabsatz, um nach den Kindern zu schauen, drehte sich um und lief zur Haustür, um selbst zu öffnen. Draußen stand der Herzog von D * * *. Fanny, überrascht wegen dieses Besuches zu einer so ungewöhnlichen Zeit, fragte völlig unkonventionell: „Nanu — Sie???“ Erst dann kam ihr zum Bewußtsein, wen sie vor sich hatte. Verlegen fuhr ihre Hand zum Mund und ein linkischer, verunglückter Knicks unterstrich ihre Unbeholfenheit.
Der Herzog übersah diese Folge höfischer faux pas geflissentlich. „Ich muß Sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen, Mrs. Burton!“
„Treten Sie bitte ein, Euer Gnaden!“ Fanny führte den Herzog in die Kaminecke des Salons. Sie rückte zwei Stühle zusammen und holte aus einem geschnitzten Wandschrank eine Flasche Portwein und zwei Gläser.
Nach dem ersten Schluck sah sie den Herzog erwartungsvoll an, der ohne Umschweife auf sein Ziel losging: „Eben war Lady Douglas bei mir. Sie vertraute mir ein eminent wichtiges Staatsgeheimnis an, über das ich nicht näher sprechen kann. Jedenfalls handelt es sich um einen folgenschweren Diebstahl. Das bedingt, daß ich in spätestens vierzehn Tagen nach Paris fahren muß. Ich würde mich freuen, Madame, wenn Sie Ihrer Tochter Frances die Erlaubnis erteilen würden, mich zu begleiten.“
„Um Himmels Willen, Euer Gnaden, wozu denn das???“ In Fannys Gesicht stand helle Verblüffung.
Der Herzog erklärte mit wenigen Worten, es sei für die Pläne, die im Namen Englands auch ihr Gatte Charles in Canada verfolge, von größter Wichtigkeit, daß Frances ihn begleite.
Er werde sie am Hofe von Versailles einführen; dort habe er viele Freunde und Gönner.
Außerdem könne Frances bei dieser Gelegenheit auch ihre französischen Sprachkenntnisse vervollkommnen. Er wisse zudem eine Familie in Paris — Monsieur und Madame Sautier —, bei denen Frances gut aufgehoben sei. Im übrigen habe er, ihr Einverständnis vorausgesetzt, bereits an Madame Sautier geschrieben, um Frances’ Ankunft mitzuteilen. — Das stimmte zwar mit den Tatsachen nicht überein, aber es verlieh seinen Ausführungen mehr Nachdruck.
Fanny entsann sich des Namens Sautier. Charles, ihr Mann, hatte die Sautiers gelegentlich als Pariser Freunde bezeichnet. So beruhigend dieser unmittelbare Familienanschluß hätte sein können, schien es ihr trotzdem unmöglich, Frances den Gefahren auszusetzen, die zweifellos in diesem Falle auf sie zukommen würden. Sie war noch zu jung — und der Herzog ein Mann, dessen politische Ambitionen vor einem jungen Mädchen nicht Halt machen würden, wenn es galt, sie den Interessen einer ehrgeizigen Clique zu „opfern“. Dazu kam, daß der Ruf des Herzogs in Liebesdingen nicht anders als der aller Hofleute war. Überdies wußte sie ja, daß Frances den Herzog verehrte. Was würde die Cole, jene Frau im Hauswesen der Burtons, die nach außen hin nicht in Erscheinung trat, aber eine entscheidende Stimme besaß, dazu sagen?! Nach wie vor war sie eine stille Gegnerin des Herzogs. Frances in dessen Obhut zu geben, würde sie nie gutheißen.
Andererseits konnte Fanny es nicht wagen, ein klares „Nein“ zu sagen. Zuviel hing für Charles davon ab, daß der Herzog ihm, wie den Burtons allesamt, gut gesonnen blieb. Desinteresse oder gar Gegnerschaft konnten unliebsame Folgen haben. Der Herzog galt als unberechenbar. So entschloß sich Fanny für den Augenblick zu einem Kompromiß. Sie bat um Bedenkzeit bis zum anderen Tag. „Ich erwarte Euer Gnaden zum Tee!“ sagte sie, als sie ihn hinausgeleitete.
Mrs. Cole wartete schon auf der Treppe zur Balustrade. Als Fanny die Tür hinter dem Herzog geschlossen hatte, fragte sie eisig: „Was wollte der denn??“ Das „der“ dehnte sie verächtlich. Um ihrer Frage Gewichtigkeit zu geben, stieg sie, betont Autorität, Schritt für Schritt die Treppe hinab.
Fanny ging auf sie zu und zog sie mit sich in die Kaminecke. Sie schenkte sich und Mrs. Cole ein Glas Portwein ein, trank hastig und zog die Luft ein. „Wie bringe ich es bloß der Cole bei?“ dachte sie.
Mrs. Cole maß Fanny mißtrauisch und fragte: „Nun?“ Fanny gab sich einen Ruck und berichtete ihr von der Unterredung mit dem Herzog und dessen Reiseplänen. Mit der Hauptsache, daß er Frances mitnehmen wolle, hielt sie allerdings noch zurück.