Rainer Seuring

Eringus, der Drache vom Kinzigtal


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dieses Gefängnis zu verlassen? Trotzig schüttelte Eringus seinen kleinen Kopf. Dabei fiel ihm diese Spitze auf seiner Nase auf. Was das wohl ist? Und was kann man damit machen? Natürlich war ihm dann irgendwann die Idee gekommen, damit die Eischale zu knacken und sich seinen Weg ins Leben zu bahnen. Ich nenne es das animalische Wissen zu überleben. Wahrscheinlich hätte Eringus mich dafür gefressen. Für ihn waren Drachen keine Tiere. Er nannte es immer seinen Urinstinkt. Gleichwohl, nun war er frei. Leicht zerbrach er den letzten hinderlichen Rest und spürte zum ersten Mal heißen Sand unter den Füssen. Er hob den Kopf und blickte in die Sonne. Er streckte sich und riss das kleine Maul auf, als wolle er den Sonnenschein fressen. Tatsächlich war dies sein erstes Mahl. Drachen brauchen Sonnenlicht um zu leben. Sie beziehen daraus viel Energie. Richtiges Fressen ist dagegen fast nebensächlich. Das war aber kein Grund, den leckeren Käfer, der sich gerade aus dem Staub machen wollte, zu verschmähen. Mit einem Happs war der verschwunden. Leise entfalteten sich seine noch feuchten Flügelchen. Langsam, um das junge Gehirn nicht zu überfordern, erwachte das Wissen von Generationen von Drachen in ihm. Wenn Drachen ein Ei legen, so geben sie all ihr Wissen mit, das sie bis dahin erworben haben. So ist es, als habe der junge Drache selbst schon vor tausenden von Jahren gelebt. Drachen vergessen nie etwas. Ein Lügner, wer etwas anderes behauptet. Sie brauchen nur eben länger, bis die richtige Erinnerung gefunden wird. Nun wusste er, dass die Drachen die Herren der Erde waren und ihnen nichts und niemand gefährlich werden konnte. Ausgenommen andere Drachen.

      Bei Drachen gibt es keine Brutpflege. Noch während des ersten Sonnenmahls hat sich Eringus Mutter gemächlich, ihrer Schwere entsprechend, entfernt. Der Kleine war gerüstet und für Sie gab es nichts mehr zu tun. Mit dem Wissen, das ihnen von den Eltern mitgegeben wird, sind neugeborene Drachen sofort in der Lage, sich selbst zu versorgen. Einzig die Kraft sich zu wehren, muss sich erst noch entwickeln. Daher leben junge Drachen immer sehr verborgen, aber mit zunehmender Stärke werden sie natürlich auch aktiver. Nur in der Selbstüberschätzung liegt für sie eine wirkliche Gefahr. So manch einer hat sich in Revierkämpfe eingelassen, die er nicht überlebte, wenn der stärkere Drache keine Gnade für den Emporkömmling empfand, was doch so manches Mal vorgekommen sein soll. Darum war des kleinen Drachen nächste Handlung: Deckung suchen. Die war schnell zwischen den herumliegenden Felsen und dem Geröll gefunden.

       Drachen sehen nie gleich aus. Die Natur war einfallsreich genug, immer wieder neue Gestalten hervor zu bringen. War seine Mutter ein Riese mit fünf Köpfen und einer unvorstellbaren Körpermaße, unfähig zu fliegen und immer an den Boden gebunden, so war er in den letzten 150 Jahren ein graziler leichter Flieger geworden. Er hat auch nur einen Kopf. Er ist jetzt ein langer, schlanker, perlmuttfarbener Drache von elf Schritt Länge mit ebenso langem Schwanz. Seine lange Schnauze beherbergt 100 extrem scharfe Zähne. Seine Reißzähne ragten seitlich aus dem großen langen Maul mit den muskulösen Kiefern, die so ziemlich alles zermalmen können. Aus seinen Nüstern wabert ständig Rauch. Das kommt von der unbändigen Hitze, die sein Inneres erfüllt. Seine großen grauen Augen haben ovale Pupillen, die er zu engen Schlitzen zusammen ziehen kann. Auf seinem Kopf hat er drei Hörner von zwei Fuß Länge, wobei das mittlere Horn noch eine handbreit größer ist. Alle drei sind nach vorne gebogen und bei einem Kopfstoß im Kampf mit einem anderen Drachen eine gefährliche Waffe. Von dort oben bis unten auf den Boden ist er fast 15 ein halb Fuß hoch. Nur seine Schwingen ragen noch sehr viel höher. Von Schulter zu Schulter ist er aber nur etwa sechs und einen halben Fuß breit. Sicherlich sind solch schlanke Kerle wie er der Grund, dass manche Menschen anstelle des Wortes Drache den Begriff eines Lindwurms verwenden. Eringus findet es nicht besonders passend, ihn mit einem Wurm zu vergleichen, doch ist in der Gesamtansicht und dem Verhältnis Länge zu Breite eine entfernte Ähnlichkeit vorhanden. Seitlich am Kopf sind seine langen, spitzen Ohren. Die kann er von vorn nach hinten drehen und findet damit schnell heraus, woher die Töne zu ihm kommen. Der Kragen um seinen Halsansatz dient natürlich zum Schutz vor Angriffen. Er wird aber auch sehr gerne zum Drohen genutzt. Ist Eringus wütend, stellte sich der Kragen fast automatisch und beginnt zu fächeln. Die ledrige Haut erzeugt dabei ein knatterndes Geräusch, das kleinere Drachen sofort in die Flucht schlägt. Letztlich, in heißer Wüste, dient der Kragen auch sehr schön der Kühlung. Erhitzt sich sein Blut zu sehr, hat er Kopfschmerzen und das mag Eringus gar nicht leiden. Daher liebt er den kühlen Wald, den viele seiner Artgenossen meiden. Sie sind eher dem Feuer und der Hitze geneigt. Selbst die Wasserdrachen bevorzugen die warmen Gewässer oder Quellen. Eisdrachen muss man davon natürlich ausnehmen. Der lange Hals macht bestimmt ein Drittel von Eringus Körper aus. Der Hals ist sehr beweglich und erlaubt ihm, den Kopf erstaunlich schnell in alle Richtungen zu drehen. Sein Gehirn hat keine Probleme, die vielen Eindrücke, die es dabei aufnehmen muss, zu verarbeiten. Keine noch so kleine Kleinigkeit entgeht ihm, wenn er will. Seine starken, stabilen Beine, voll Muskeln bis zum kleinsten Zeh, trugen den Körper von vielleicht 250 Pfund ohne jede Schwierigkeit. Springen ist zwar nicht gerade seine Stärke, aber ein großer Bach stellt selbst im dichten Wald kein Hindernis dar. Und im freien Gelände setzte er sowieso seine Flügel zur Hilfe ein. Er liebt es, ohne Flügelschlag zu gleiten und die warmen Strömungen der Aufwinde zu nutzen. Der Schwanz ist am Ende abgeflacht und hat die Form einer Pfeilspitze mit Widerhaken. Legte Eringus sich zur Ruhe, pflegt er seinen Kopf auf die Schwanzspitze zu betten. So eingerollt fühlt er sich wie im Schutze seines Eies. Auch ein Drache fühlt sich gern geborgen. Vom Hals bis zum Schwanzende zieren aufrecht stehende Schildplatten seinen Körper. Die größten finden sich zwischen den Flügeln. Sein ganzer Stolz sind aber natürlich die Flügel. Mit drei leichten Schlägen dieser mächtigen Schwingen von 31 Schritten Spannweite kann er sich in die Lüfte erheben. Dann sucht er die warmen Winde an den Hängen der Hügel und schwebt majestätisch durch die Lüfte. Wo er ist, ist sonst niemand. Kein Vögelchen traut sich in seine Nähe. Selbst ein großer Adler ist ein Zwerg neben ihm, doch der König der Vögel nimmt wenigstens nicht Reißaus vor ihm. Diese Momente liebt Eringus wirklich am meisten. Er ist der Herr in der Luft und auf der Erde und alles fürchtet ihn.

      Wollte tatsächlich sich einer mit ihm messen, sollte er stark, gewappnet und bewaffnet sein. Wer ihm zu nahe kommen will, muss zunächst seinem feurigen Atem widerstehen können. Viele Schritte weit kann Eringus die Flammen stoßen, um seine Feinde zu verbrennen. Dabei ist er durchaus in der Lage, an der Seite befindliche Bäume trotzdem nicht zu verbrennen. Sollte diese Waffe versagen, kann er sich auf seinen starken Schwanz verlassen. Stärkste Bäume kann Eringus mit einem Schlag fällen. Rind und Hirsch und jegliches Getier wird durch die Luft gewirbelt, fegt er durch den Wald. Sollte es zum Nahkampf kommen, kann er sich auf seinen scharfen langen Krallen und Fersensporne verlassen. Selbst seine Schwingen sind reihum an den Knochen mit scharfen Haken bewehrt. Und auch die Hörner auf dem Haupt haben schon manches Opfer aufgespießt. Würde nun trotz alle dem irgendetwas unerwünscht nah an ihn herankommen, gilt es die letzte Abwehr zu überwinden. Sein Schuppenpanzer, der ihn außer um Augen und Maul und unter den Füßen überall umgibt, und diese harte Haut hat bisher noch nichts und niemand durchdrungen. Wer also wollte es wagen, ihn anzugreifen?

      Eringus entzog sich bisher noch niemals einer Auseinandersetzung, doch ein angriffslustiger Raufbold war er nie. Schon so mancher kleiner Drache, der sich mit ihm anlegen wollte, musste sich ihm beugen, als er, auf der Suche nach einer Heimat, über die Erde flog. So ergibt sich das Bild von Eringus.

      Es vergingen Jahrzehnte und Jahrhunderte und dann kamen die Zweibeiner. Eringus mochte sie nicht. Seit seine Vorfahren und er diese Lebewesen kennen, herrscht Krieg unter diesen Wesen. Sie sind erfindungsreich und sehr lernfähig. Nahezu ständig stehen sie im Kampf gegeneinander. Aber auch andere ähnliche Völker werden mit Krieg überzogen. So kämpften denn Menschen gegen Zwerge, Zwerge gegen Riesen, Riesen gegen Menschen, jeder gegen jeden. Bündnisse entstanden und zerfielen, Reiche und ganze Imperien standen auf und fielen. Dabei war das niemals nötig. Es gab mehr als genug Platz, sich aus dem Weg zu gehen. Als Menschen sich in einer großen Ebene nördlich Eringus Gebiet nahe einer Zwergensiedlung nieder ließen schien es, als würde ein Wunder geschehen und es bliebe friedlich. Tatsächlich wuchsen die Siedlungen und man lebte nicht nur nebeneinander sondern sogar miteinander. Man trieb Handel und alles schien gut. Ab und zu verirrten sich ein paar in sein Reich, doch das war für Eringus kein Problem. Rennen oder gefressen werden. Meist ließ er die Zweibeiner rennen. Dadurch konnten sie den anderen erzählen, dass man besser nicht zu diesem kleinen Fluss gehen solle. In Ruhe konnte der Drache die Entwicklungen beobachten. Dann zwang