Rainer Seuring

Eringus, der Drache vom Kinzigtal


Скачать книгу

viele Hundert Jahre gefangen. Niemand fand ihn und störte diese Ruhe, obwohl viel in dieser Zeit geschah.

      Die Zwerge vergrößerten ihr Gebiet und bauten ihre Siedlung zu einer gewaltigen Festung aus, in der viele Tausend von ihnen lebten. In den umliegenden Gebieten schufen sie weitere kleinere Festungen, die ihr Reich schützen sollten. Eine davon entstand auch in Eringus Reich. Doch er schlief und merkte davon genauso wenig, wie von der Bedrohung von Mensch und Zwerg durch Riesen und wilden Völkern aus Norden und Osten. Es kam zur großen Schlacht und die Zwerge konnten den mächtigen Feinden nicht lange die Stirn bieten. Aus Furcht vor den Riesen war kaum ein Mensch auf dem Schlachtfeld erschienen. Schon drangen Feinde von allen Seiten in die Siedlungen, töten alles und jeden, Menschen wie Zwerge. Mit einer mächtigen Waffe, der legendären Doppelaxt „Zank und Streit“, gelang es schließlich dem Zwergenvolk, den Gegner zu besiegen.

      Doch groß waren die Verluste. Die wenigen Zwerge, die überlebten, sammelten und verkrochen sich in ihrer Bergfestung. Die letzten Menschen flohen und lange Zeit bewegte sich niemand mehr in diesem fast toten Zwergenreich. Auch nicht im Drachenreich. Bis dann die Römer kamen und Eringus langsam wieder erwachte.

      Verstoßen

      „Ihr habt nach uns geschickt, Herr.“ Unterwürfig steht Arnfried in angemessener Entfernung vor seinem Herrn, dem Grafen. Arnfried ist ein behauster unfreier Bauer von etwa 40 Jahren und muss auf des Grafen Land für diesen arbeiten. Entsprechend ist sein Äußeres. Die angegrauten Haare kurz und unfrisiert, das Gesicht dunkel gebräunt und vom Wetter gegerbt. Beim Sprechen werden gelb verfärbte schlechte Zähne sichtbar. Nur die graublauen Augen zeugen davon, dass Arnfried nicht so alt ist, wie er scheint. Seine hagere Gestalt ist eingehüllt in eine schäbige grobe Tunika mit vielen Flickstellen. Einen Mantel kann er sich nicht leisten. Unter der Tunika erkennt man ebenso ärmliche lange Strümpfe über den stark abgenutzten Bundschuhen. Das Mädchen neben ihm ist das Bruderkind Magda. Seit ihre Eltern ums Leben kamen, lebt sie, damals zu jung um zu heiraten, im Haushalt des Onkels. Ihre Kleider sind genauso schlecht. Magda ist gerade 16 Jahre alt geworden, scheint aber figürlich eher noch kindlich zu sein. Ihre langen schwarzen Haare wirken besser gepflegt, als die Kleidung. Die braunen Augen blicken ständig umher. Sie war noch nie in einem so großen und vornehmen Haus und es gibt viel zu sehen. Die edlen Teppiche an der Wand, der große Kamin, in dem im Winter ein wärmendes Feuer brennt, das goldene und silberne Geschirr auf den Tischen, alles zeugt vom Reichtum des Grafen. Allein dieser Raum ist größer, als die ganze verqualmte Hütte, in der sie mit ihrem Onkel, dessen Frau, der Großmutter und den fünf Kindern leben muss. Ihnen gegenüber, auf deutlich höherem Untergrund und nur über zwei Stufen zu erreichen, steht ein großer Tisch, hinter dem der Graf in einem gepolsterten Stuhl sitzt. Der Herr ist bestimmt jünger als Arnfried, etwa 35 Jahre, stärker und größer von Gestalt. Ein Zeichen besserer Ernährung. Er hat wallende schwarze Haare, einen schwarzen kurz geschnittenen Bart und dunkle Augen. Er wirkt sehr edel und ist natürlich viel schöner gekleidet. Die blaue Tunika fällt bis zu den Knien, ist an den Ärmeln wunderbar verziert und lässt eine dunkle Hose in den Beinbinden sehen. Der Mantel wird von einer goldenen Fibel gehalten. Magda fürchtet sich ein wenig vor dem Mann, der sich ihnen jetzt zuwendet.

      „ Ja, Arnfried.“ sagt Graf Guntbert mit voller dunkler Stimme. Er hat die Papiere aus der Hand gelegt und blickt seinen Bauern an. „Wie ich hörte, gibt es wohl demnächst in eurem Hause etwas zu feiern. Dies Mädchen an eurer Seite soll guter Hoffnung sein. Da denke ich doch, es wird vorher noch Hochzeit gefeiert. Ist dem nicht so?“ Guntbert ist zwar ein harter und sehr strenger Herr, aber auch sehr gerecht und nicht schlecht zu seinen Abhängigen. Zu großen Festen lässt er gern einmal die Arbeit ruhen. Ein solcher Anlass wäre eine Hochzeit.

      Arnfried druckst herum. „Ja, Herr, aber auch nein.“

      „Was wollt ihr mir damit sagen? Wie soll ich das Gestammel verstehen?“ Der Graf hat sich in seinem Stuhl etwas aufgerichtet und wirkt auf Magda jetzt noch ein wenig bedrohlicher, obwohl er weiter in ruhigem Ton spricht. „Ist Magda denn nicht schwanger?“

      „Doch, Herr.“

      „Also wird doch auch geheiratet?!“

      „Ich fürchte Nein, Herr.“ Arnfried wird immer kleinlauter.

      „Wieso wird nicht geheiratet? Das Mädchen ist doch nicht von allein schwanger geworden. Sie ist nicht die heilige Jungfrau.“ Es folgt eine kurze Pause, dann fragt Graf Guntbert nach tiefem Atemzug: „Wer ist denn der Vater?“

      „Nun ja, Herr. Bisher ist es mir noch nicht gelungen, dies zu erfahren. Magda verrät es nicht.“

      Der Blick des Grafen schwenkt auf die bisher nicht beachtete kleine Magda, die sich jetzt ganz und gar nicht wohl fühlt. „Was soll das heißen, kleine Frau? Was ist mit dem Burschen? Weigert er sich, zu seinem Kind zu stehen? Ihr könnt ihn auf seine Pflicht verklagen. So sprecht nun auf der Stelle!“ Des Grafen Tonfall ist nun etwas drängender geworden. Magda blickt ihn furchtsam an und sagt nichts. „Wie lange soll ich auf eine Antwort warten?“

      So erreicht er nichts. Magda sieht stur auf ihre schmutzigen Füße und schweigt hartnäckig. Sie weiß: Wenn sie jetzt spricht, wird der Herr nicht mehr so ruhig auf seinem Platz bleiben. Er wird laut werden. Vielleicht lässt sie der Graf schlagen. Wenn sie aber nichts sagt, wird sie vielleicht der Onkel schlagen. Und wenn sie die Wahrheit sagt, wird man meinen, sie lüge und dann wird man sie auch schlagen. Alles läuft in ihrem Kopf durcheinander und kommt immer wieder nur zu einem Ergebnis: Man wird ihr sehr weh tun.

      Das nun währende Schweigen wird für das Mädchen immer bedrückender und endlich entschließt sich Magda, zu reden. Stockend beginnt sie: „Es war so, Herr. Es war zum Frühlingsfest. Wir hatten unsere Arbeit auf dem Feld des Herrn getan und freuten uns auf ein wenig feiern. Es war auch sehr lustig. Die Musik spielte. Manche Leute tanzten. Nebenan waren Burschen in Streit geraten und schlugen sich. Andere lachten und tranken. Ich stand an einen Baum gelehnt. Da hat mir plötzlich einer von hinten die Augen zu gehalten.“

      Magda vergisst ihre Ängste und redet immer flüssiger. Die Erinnerung wird lebendig und damit steigt auch ihre Wut. Ihre Stimme wird fester.

      „Dann hat er die Hände weg genommen und hat sich vor mich gestellt und gelacht. Und er hat mich gefragt, was ich hier mache. Und ich hab gesagt, dass ich ein wenig feiern will und tanzen. Und dann hat er mich an der Hand genommen und ins Gebüsch gezogen. Und er hat gesagt, ich soll mit ihm feiern. Und dann hat er mich gestreichelt, überall, und auch geküsst und dabei meinen Rock hochgezogen. Aber das wollte ich nicht. Doch da hat er gesagt, dass ich das tun muss, weil er sonst seinem Vater sagt, wie böse ich wäre. Dabei bin ich doch nicht böse. Aber ich hab Angst gekriegt und ich hab mich nicht gewehrt. Und dann hat er seine Hose aufgemacht und dann hat es so weh getan und ich hab geblutet und dann war er fertig und hat mir gedroht, dass ich nichts sagen darf, weil ich sonst bestraft werde. Und dann ist er gegangen und hat mich liegen gelassen und …..“

      Ihre Wut ist jetzt dem Schrecken des Abends gewichen. Der Schmerz übermannt Magda und sie beginnt zu schluchzen. Sie kann nicht weiter reden. Tränen dringen durch die Hände, die sie vor ihre Augen geschlagen hat.

      Erschrocken sieht der Onkel auf das Häufchen Elend neben sich und auch der Graf wirkt sehr berührt. „So hat er dir Gewalt getan und muss bestraft werden. Doch sag mir endlich wer?“, verlangt der Graf.

      „Hermann, euer Sohn, der junge Graf!“

      Jetzt ist es heraus. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Erneut herrscht Stille im Raum. Arnfried ist zutiefst erschrocken. Was redet dieses dumme Kind nur. Das kostet ihn Kopf und Kragen. Der Graf wird ihn und die Familie davon jagen. Sie werden Hungers sterben, weil keiner mehr ihnen Arbeit gibt. Bis sie einen neuen Herren finden, haben sie die wilden Tiere im Wald zerrissen. Kein Dach über dem Kopf, nichts zu essen. Soll das sein Ende sein?

      „Herr, verzeiht …“, versucht er einzugreifen. Doch Graf Guntbert winkt und Arnfried verstummt wieder.

      Erneute bedrückende Stille. Zu still. Bedrohlich still.

      „Du