Klaus Hönn

Tsunami- Protokoll einer Flucht


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      Er teilte mit, der Wasserstand, zwanzig Meter entfernt sei unverändert. Noch immer lag der größere Teil des Strandes unter der angestiegenen Flut. Da wo jahrein jahraus das Badepublikum sich unter dem Sonnenschirm dem Müßiggang ergab, brachen jetzt winzig kleine Wellen eine angestiegene trübe Wasserfläche.

      Das Wasser hatte beim Anstieg seine Klarheit eingebüßt. Der Meeresgrund war dadurch dem Blick entzogen. Lars hatte wieder von seinem Feldstecher Gebrauch gemacht. Mit einem Blick in Richtung Noh hatte er sich überzeugt, daß Anlaß zu Besorgnis nicht mehr bestand. Nach Ablaufen der großen Welle waren die ersten Badegäste wieder ans Meer zurückgekehrt. Einige brachten sich wahrscheinlich nach der Suche im Schaum zwischen treibenden Gegenständen wieder in den Besitz der Badetücher

      Rusts Misstrauen blieb dennoch weiter wach. Seit frühen Jahren hatte Vorsicht ihn geleitet. Die Trennung der Eltern hatte ihn als Kind gelehrt, bestehende Ordnung war veränderbar. Es half, mit unliebsamen Änderungen umzugehen wenn er in vernünftigem Umfang Vorsorge traf. Im Privaten ebenso wie im Beruf hatte er sich zu seinem Vorteil in dieser Haltung eingerichtet. Die Eigenschaft des maßvollen Argwohns verlor sich auch nicht im Urlaub unter Palmen. Lars überließ ihm bereitwillig nochmals sein Glas. Rust richtete es, jetzt mehr geübt, kurz auf Lam und Noh. Er fand die Aussage des Gefährten bestätigt, des letzten, der zurückgeblieben war. Die unerwartete Naturerscheinung schien mehr Erwachsene in Noh zum Bad zu inspirieren, als sonst zu dieser Tageszeit Soweit sich erkennen ließ, hielt man Kinder noch am Strand zurück.

      Yvonne hatte gemeinsam mit François die Rückfahrt nach Lam angetreten. Die Trennung von den beiden Zurückbleibenden war herzlicher als sonst gewesen nach dem überstandenen kleinen Abenteuer. Sie hatten sich ein Wiedersehen versprochen, am Folgetag zur gleichen Stunde bei hoffentlich wieder regulär möglichem Verkauf. Der Pick- Up der beiden Thai folgte nur wenig später, nachdem die Insassen achselzuckend Platz genommen hatten. Auch diese beiden winkten einen freundlichen Gruß hinüber zu Rust und Lars.Rust richtete das Glas aufs offene Meer. Das Stangenbrot im Einkaufsbeutel war hinderlich. Ablage im Straßendreck kam nicht in Frage. Um das Abrutschen von der Schulter zu vermeiden, reckte er sich linksseitig hoch und starrte, so verkrümmt, auf das Bild, das sich ihm bot. Erneut zeichneten sich Linienelemente ab, weit draußen auf offener See.

      Fragend sah er zu Lars hinüber. War Lars diese Beobachtung entgangen? Hatte er den Blick nur nach Noh gerichtet? Rasch reichte er das Glas seinem Besitzer zurück und äußerte Besorgnis. Lars nahm das Glas zur Hand und ließ es nach kurzer Zeit wieder sinken. Er schien plötzlich blass geworden im Gesicht. Nur die Stellen mit starkem Sonnenbrand zeigten sich noch als dunkelbraune Flecken im Gesicht.

      Rust nahm wahr, seine Pulsfrequenz stieg an. Er mühte sich um schnelles Atmen. Panikattacken war er nicht gewöhnt. Seit seinem ersten Blick durchs Fernrohr konnten nicht mehr als drei Minuten verstrichen sein. Die Linien konnten kaum Anderes bedeuten als Anzeichen für eine Rückkehr der eben erst überstandenen Flut. Sollte der Vorgang sich wiederholen, vielleicht verstärkt gegenüber vorhin, so blieb nicht mehr als eine kurze Spanne Zeit bis zur Ankunft einer nächsten Welle. Ihnen blieb der Rückzug auf den Straßendamm. Er würde einigen Gewinn an Höhe bringen um vielleicht einen Meter gegenüber dem schon erreichten überhöhten Wasserstand. Was geschah wenn der Anstieg die Dammkrone übertraf ?

      Er schämte sich fast seiner Furcht beim Blick in den ungetrübten Morgenhimmel und die friedliche Szenerie, die sie umgab. Kein Sturm drohte, kein Angriff Außerirdischer stand an. In halbstündiger Entfernung wartete Clarissa im „Thai Oriental“ auf ihr Baguette. Er warf sich Kleinmut vor, aber er beschloß, unverzüglich den Rückweg anzutreten. Das erneut gereichte Glas wies er jetzt mit Dank zurück. Lars würde in gleiche Richtung gehen. Eilig legten beide die Sandalen an und brachen auf. In die ersten hastigen Schritte hinein rief Lars ihm gepresst zu, die Brandungslinie habe sich zuletzt anders gezeigt als vorhin. Ohne Unterbrechung im mittleren Strandabschnitt. Sie ziehe sich jetzt voll durch die breite Bucht, soweit er habe sehen können.

      Rust ließ sich entgegen erstem Vorsatz erneut das Fernglas reichen. Er verlangsamte den Schritt. Kurzes Innehalten mußte ausreichen für den Blick zum Horizont. Lars hatte Recht. Die dünne weiß-graue Linie zeigte keine Unterbrechung wie vorhin. Sie reichte vom Vorgebirge auf der Halbinsel von Lam his hinüber zum „Eden Hotel“ in erhöhter Lage auf dem kleinen Hügelabhang hinter Noh. Beide Flanken am Ende der sichtbaren Bereiche zeigten sich stärker ausgeprägt. Der mittlere Abschnitt dazwischen, der ihnen gegenüberlag, war nur schwach ausgebildet. Auch in ihrem Abschnitt zeigte sich, wenngleich weniger deutlich, ein schmaler Streifen Schaum auf der sonst gleichmäßig dunklen Wasserfläche. Er gab das Glas zurück. Beim Blick auf den zuvor noch halb gefluteten Strand fiel ihm auf, daß die Wasserlinie erneut zurückgewichen war. Wieder warfen sich runde Steine auf im nassen Sand, die er seit seinem ersten Tag in Noh nie vom Wasser frei gesehen hatte.

      Beide blickten sich sich unsicher gegenseitig an. Wenn erneut Anstieg des Meeres drohte, würde es den Damm erreichen? Würde die Straße überspült, wäre Überschwemmung im Hinterland die Folge. War das bedrohlich für die Feriengäste? Rust war im Wassersport nicht ohne Übung. Ein Leichtes würde es ihm sein, im schlimmsten Falle erhöhtes Gelände schwimmend zu erreichen. Dennoch verspürte er in sich den kopflosen Drang zur Flucht. Wohin sollte man sich wenden? Das Hotel in Noh bot Sicherheit, aber keine Aussicht auf eine Gelegenheit.zur Fahrt dorthin. Seit der Welle vorhin hatte sich kein Fahrzeug mehr gezeigt auf der sonst belebten Küstenstraße. Zwanzig Minuten zügigen Marsches hatte der weg zu Yvonnes Stand ihn gekostet. Im Laufschritt zurück würde diese Spanne kaum unter zehn Minuten zu drücken sein.

      Er war der erste der Beiden, der in Trab verfiel. Lars schloß sich an. Rust war im Laufen ungeübt und spürte rasch die Wirkung seiner vierzig Jahre in lebenslanger Abneigung gegen Anstrengungen im Sport. Der Schwede war ihm schon bald weit voraus geeilt. Keuchend verhielt der schwerfällig trabender Rust zum tiefen Atemschöpfen. Kurz warf er einen erneuten Blick aufs Meer. Schaum auf dem Wasser draußen erkannte man jetzt mit bloßem Auge. Vor dem weißen Streifen bauten sich graubraune Kuppen unregelmäßig über die leichte Schräge der Wasseroberfläche auf. Kurz züngelten sie zu steilen Spitzen hoch; beim Rückfall auf die Wasserfläche warfen sie schäumende Flecken auf. Vor dem Schaumteppich schob der Wogenkamms einen Streifen schwärzlicher Färbung zu ihm her. Rust konnte nicht wissen nicht, daß er dem nahenden Abhang eines Wasserberges von sieben Meter Höhe gegenüber stand, der mit der Wucht und der Geschwindigkeit eines Vorortzuges näher kam. Wohl aber spürte er die nahende Gefahr. Der Anblick entsprach nicht dem Bild von Brandungswellen, die ihm geläufig waren.

      Im Gefühl der Bedrängtheit wuchs ihm zum eigenen Erstaunen Ruhe zu. Sein Hotel in Noh war nicht mehr vor der Ankunft dieser Flut erreichbar. Hinter dem Gehweg, jenseits des erhöhten Dammes reckten drei Kokospalmen ihre Wedel malerisch in seinen Blick. Er erwog die Aussicht, einen der mittelhohen Bäume zu besteigen. Kaum weiter entfernt machte Rust einen Betonmast aus. Der Mast trug durchhängende Leitungen und zeigte stabförmiges Gerät an seiner Spitze, vermutlich Antennen für den mobilen Telefonverkehr.

      Rust rannte mehr schlecht als recht im Laufschritt. Der Mast war fast über die volle Höhe mit Kletterstufen ausgerüstet, sogar Bügel als Rückenschutz für den sicheren Aufstieg hatte man angebracht. Nicht für eine Besteigung durch Rust! Enttäuscht fand er den Zugang am Fuß versperrt durch ein mehr als mannshohes Gitter, mit solidem Schloss gesichert und einem Schild mit aufgedruckter Aufschrift, vermutlich ein Warnhinweis in der ihm nicht lesbaren Landessprache. Ein sirrendes Geräusch war jetzt von der Meeresseite her vernehmbar. Lars entfernte sich noch weiter in unermüdetem Galopp. Der Abstand zwischen beiden mochte schon dem Viertel der Distanz bis zum Hotel in Noh entsprechen. Lars hatte das Fernrohr vom Hals gestreift, es einige Schritte lang in seiner rechten Hand getragen, dann, als vermeidbare Behinderung erkannt, es hinter einen Busch geworfen.

      Rust erreichte die Palmengruppe am Fuß der kleinen Böschung zum Straßendamm. Hastig löste er seine Strandsandalen und stieg langsam am Stamm empor. Die Stummel der gestutzten Wedel gaben seinen Füßen Halt. Auf der Suche nach festem Stand umschloß er den staubigen Stamm mit dem Oberkörper und ausgestreckten Armen. Die Aststummel erwiesen sich als hart und ausgetrocknet. Er spürte hartes Kratzen an seiner unbedeckten Haut. Sicher würden sich Schürfwunden zeigen, später, nach seinem Wiederabstieg