Klaus Hönn

Tsunami- Protokoll einer Flucht


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Bewegungen der Beine, neuerliches Umgreifen auf erhöhtem Stand brachten ihn unter die Palmenkrone. Wo hingen die Kokosnüsse? Wenn er schon diesen Ausflug unternahm, wollte er mindestens einen kleinen Erfolg berichten können am Abend an der Bar nach überstandenem Abenteuer.

      Er hatte, aus Furcht oder um Panik abzuwehren?, den Ausblick zum Meer hin zuletzt gemieden. Der Lärm stürzenden Wassers zwang seinen Blick widerwillig zur Seite der drohenden Gefahr. Der vordere Rand des dunklen Wasserstreifens hatte den Strand erreicht. Das Wasser stieg jetzt an , viel schneller als zuvor beim ersten Anlaufen des Meeres. Der Blick hatte genügt, ihn zu überzeugen: der Wasserberg, noch immer recht weit draußen, überspülte mit Leichtigkeit den Straßendamm.Vorsichtig trat er mit seinem linken Fuß ein Stück weit um den Stamm herum. Der neue Standort erlaubte Rust, dem Meer den Rücken zuzuwenden. Längst waren Shorts und Strandhemd aufgerissen. Blutige Striemen zogen sich über die Unterarme, Beine und Bauch. Das Kinn hielt er fest gegen rissige Blattanschnitte angeklammert. Die Vorderseite des Körpers würde den Eindruck aufdrängen, man habe ihn grausam ausgepeitscht. Rust achtete nicht auf Wunden. Schmerzen erreichten jetzt keine Geltung im Bewußtsein; alle Aufmerksamkeit galt der nahen Welle. Sein Blick richtete sich schräg nach unten. Zwischen dem Stamm der Palme und der Beuge des linken Armes folgte der Blick dem Anstieg des Meeresspiegels. Er vollzog sich schneller als beim ersten Mal. Ruhig bedeckte sich der Strand mit Wasser. Die Flut erreichte den breiten Sandstreifen vor dem Damm, vor wenigen Minuten noch Standort des Lieferautos von Yvonne.

      Was Rust nur ansatzweise sah: hinter seinem Rücken nahte ein flach geneigter Wasserberg. Erst die unmittelbare Nähe hätte die wahre Höhe und furchtbare Gewalt erahnen lassen. Die Annäherung dieses massiven Berges vollzog sich dennoch mit federnder Eleganz. Ein ungefährdeter Beobachter würde von Schönheit sprechen, solange kein massives Hindernis dem Wasserberg den Weg verschloß. Der Damm war überspült. Hinter seiner abfallenden Flanke bildete sich eine hohe Brandungswelle aus. Schäumend wälzte sich eine Woge über das ausgedörrte flache Hinterland. Dieser Teil des Geländes zwischen Noh und Lam war leer. Das struppiges Unterholz und die wenigen Palmen beiderseits des Bachlaufs boten der Flutwelle wenig Widerstand.

      Auch Rusts Zuflucht wurde von der Dammseite her schäumend angeströmt. Elastisch beugte sich der Stamm dem Druck des nassen Elements. An Stürme vom Meer her sind die schlanken Ufergewächse angepasst. Palmen ertragen ohne Schaden die Anströmung im regulären Sturm, gleich ob mit oder ohne Rust unter ihrem Wipfel auf der Suche nach Schutz Die Bäume duckten sich federnd zur Seite und hielten stand. Dieser Angriff hier war von anderer Art. Die Evolution hat eine Palme mit der Kraft zum Widerstand gegen direkten Meeresanprall nicht ausgerüstet.

      Sobald die Schwelle des Straßendammes überwunden war, trafen die Wirbel der aufgeschreckten See mit gewalttätiger Turbulenz auf das Erdreich über dem Wurzelwerk. Sie lösten den feste Boden in schlammige Schwebeteile auf. Behauptete der schlanke Stamm seinen Stand?, fragte sich Rust in einer Sachlichkeit, die ihn selbst staunen ließ. Er vertraute darauf. Die Wurzeln reichten hier bei der Suche nach süßem Wasser tief genug in den Tropensand. Die Sicherheit seiner Zuflucht unterlag keinem Zweifel. Mehr Aufmerksamkeit verdiente der Meeresanstieg. Das anströmende Wasser bedeckte seine Beine bis zum Knie Nach jedem vernünftigen Ermessen würde auch eine ungewöhnliche Brandungswelle keine Sintflut sein. An der Vorderseite der Palmenstämme hatten sich in der ruhig ansteigenden Meeresoberfläche kleine Erhebungen aufgeworfen. Sie erinnerten ihn an Bugwellen vor einem Ruderkahn. Aufspritzend hatten sie ihn bis zum Bauch durchnässt.

      Der Wasseranstieg hatte sich verlangsamt und kam zum Stillstand. Während der wenigen Sekunden, die dafür blieben, zog er eine vorläufige Bilanz.Nicht lange mehr, dann mußte sich die Flut in Gegenrichtung kehren. Der Rückfluß des Wassers würde in dieser unbequemen Lage abzuwarten sein. Einige Zeit, ähnlich der Frist für die Brandwache nach einem Feuer, würde er ausharren, dann hätten sich auch Ausläufer der Welle verlaufen, dann wäre nach menschlichem Ermessen die Gefahr vorbei. Er suchte längs der überfluteten Linie des Straßendammes nach seinem Leidensgenossen Lars. Unwahrscheinlich, daß der Schwede rechtzeitig Zuflucht gefunden hatte. Vermutlich trieb er im flachen Vorland im kleinen Binnenmeer, das dort entstanden – und noch in ständiger Erweiterung begriffen war..Rust sah kein Problem für den Schweden, sich in der flachen Schlammwüste zu behaupten. Aber auch der vom Sonnenbrand gezeichnete Mann aus dem Norden würde in eine unangenehme Situation geraten sein.

      Mit Sicherheit hatten Yvonne und François mit dem Lieferauto auf der Uferstraße rechtzeitig höheres Terrain erreicht. Ihr Pavillon war spurlos verschwunden unter einer schwach bewegten, gelb eingefärbten Wasseroberfläche. Ausgeschlossen, daß Dach und Seitenwände ihrer leichten Verkaufsboutique dem Andruck der Strömung widerstanden hatten! Trümmer ließen sich von seinem Platz aus nicht erkennen. Rust neigte seinen Kopf ein Stück weit vom Stamm weg und spähte nach Lam und Noh hinüber. Noh verschwamm im Gegenlicht. Im Dunst des Morgens erschien Lam von seinem Standort aus durch das gewaltsame Ereignis nicht stark verändert. Die Wasserlinie war dort anscheinend bis in die Vorgärten der Hotelanlagen vorgerückt. Undeutlich nahm er aus Richtung des Dorfes andauerndes Autohupen wahr.

      Nach einer trügerischen Ruhepause, die Rust fast schon entspannt genossen hatte, erreichte ihn der Wellenkamm. Aus dem Sockel des flach geneigten Höhenzugs aus Wasser hatte sich auch im mittleren Strandabschnitt zwischen Noh und Lam eine steile Schwelle aufgeworfen. Der Anstieg des Meeresgrundes vor seinem Übergang zum Strand prägte dem voran stürmenden grau-blaue Wasserberg das finale Unheil ein. Die Oberzone der Anströmung folgte nur widerwillig der Verzögerung am Fuß. Hier setzte Reibung zwischen fest und flüssig am Meeresboden der raschen Fortbewegung einer Hemmung aus.

      Bewirkt durch schwacher Bindekräfte zwischen den Molekülen des nassen Elements teilten sich den mittleren und höheren Schichten die Verzögerung der bodennahen Wasserzone mit. Als gutmütiger Koloß hatte die flache Woge bisher große Entfernungen im Meer durchmessen. Die schwach hemmende Bremswirkung am Fuß hatte sich fast unmerklich langsam aufsummiert. Seit dem Eintritt der Welle aus dem offenen Meer an den Strand der flachen Bucht war sie schnell angewachsen. Die Riesenwoge hatte an ihrer Unterseite auf den stärker spürbaren Widerstand reagiert und wie aus dem Nichts entstanden einen wild vorwärts drängenden Gipfel aufgebaut.

      Der Scheitel einer steilen Riesenwelle sprang, für Rust unhörbar, über ihn hinweg. Erst dreißig Meter landeinwärts, jenseits der Zuflucht, brach der Kamm. Schmutzige Kaskaden überfielen in aufspritzender Gischt den gerade entstandenen Binnensee. Der brechende oberste Saum am Wellenkamm verwandelte sich in eine breite Zone und zerteilte sich in kochende Wirbel sinnlos tobender Gewalt. Die Wasserfront fraß sich landeinwärts und büßte an Wucht nur kaum merklich langsam ein.. Wäre ein Staudamm im engen Tal geborsten, nicht heftiger konnte unterhalb die Wirkung sein. An dem Strandabschnitt wo Rust sich an seine Palme krallte, milderte, anders als in Noh, kein Anstieg des Geländes das unmäßige Wüten rasch ab.

      Die weite Ebene nahm die Wassermassen auf, als wolle sie sich ins Schicksal ergeben, nun Meeresteil zu sein. Erst bei dem Dorf Koh Kloi, drei Kilometer hinter dem Strand, ging das flache Land beiderseits des Bachlaufes Tao Sang in flache Steigung über. Die Flut verlor an Wucht und lief in Höhe des Dorfes in Erschöpfung aus. Dunkle Verfärbung einer weit vorgeschobenen neuen Uferzone markierte das Ende der Aggression des Ozeans auf trockenes Land. Der Ozean hielt seine Zügellosigkeit nicht lange bei. Ein Gegengefälle, zur Bucht hin, bildete sich aus. Sogkräfte forderten das Recht des Meeres auf die verlorenen Wassermassen ein. Langsam begann der Rückzug, noch mehrfach überlagert von schwächeren Vorstößen der Flut, aber längst wurde der Höchststand nicht mehr erreicht. Schwerkräfte trieben das Element zurück in sein angestammte Revier. Weiter vorne, auf halbem Wege zwischen der Küstenlinie und Koh Kloi, machte sich nach der Erstarrung auf hohem Stand der Rückfluß schon als starker Strom bemerkbar.

      Rust wurde überrollt. Ein gütiges Geschick ließ die Wasserfront erst hinter seiner Zuflucht brechen. Statt ihm Brustkorb und Rippen zu zerschmettern, hätte er sich dort aufgehalten, presste ihn der Druck des Wellenkammes nur brutal gegen den Stamm. Der Wirbel auf der Rückseite des Brechers riß ihn aus der umklammerten Schutzlage heraus und trieb ihn für kurze Zeit an die Oberfläche. Mit weit aufgerissenem Mund schöpfte Rust gierig tief Atem. Er hörte vor sich das donnernde Geräusch des brechenden Kammes, dann spürte er erneuten Sog. Rust fühlte sich von der Oberfläche