Torsten Thoms

Nocturnia - Die langen Schatten


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und drohte erfolgreich jedem, der daraus ein öffentliches Ärgernis machen wollte.

      Juchata ging dazu über, die Klinge auf dem steinernen Tisch zwischen ihren langen Fingern hin und her hüpfen zu lassen. Langsam ertönte das stählerne Geräusch auf dem dunklen Stein, das in den Gewölben dumpf widerhallte. Immer schneller ließ sie den Dolch springen, geschickt und mit einem Hauch von Risiko legte Juchata ihr Schicksal in die bedeutungsvollen Bewegungen der Waffe. Sie sprach einen mythischen Spruch, den ihr ihre Mutter vorgebetet hatte, als sie klein war. Bliebe die Klinge am Ende zwischen den geraden Zwischenräumen, würde sie Calavus heiraten, bei den ungeraden Gladicus. Doch auch der Spruch half nur, wenn man die Antwort bereits kannte, soviel wusste Juchata über die Künste ihrer verstorbenen Mutter, die sie eher erahnte als eine tiefere Kenntnis darüber zu haben. In dem Augenblick, bevor sie die letzte Silbe murmeln konnte, bohrte sie den Dolch neben ihre Hand in den Stein, der der Härte des Stahls nachgab. Zitternd blieb die Waffe im Tisch stecken, direkt neben Juchatas Daumen, keinen Recken entfernt. Nachdenklich schaute sie auf die zarte Klinge, deren Grazie über ihre tödliche Wirkung hinweg täuschte und somit zu Juchata passte wie ihr maßgeschneidertes, schwarzes Korsett, das sich jetzt wie angegossen an ihren weißen Körper schmiegte. Geschickt knotete sie es hinten zu.

      Sie streifte danach ihr hauchdünnes, durchsichtiges Seidenhemd über und ließ ihre roten Locken frei und ungebunden über ihren Rücken fallen, die sich so wie ein Umhang um sie herum legten. Sie schlüpfte in ihre ebenfalls schwarze Hose, schnürte die Seiten zu wie vorher das Korsett, ließ danach ihren Dolch im breiten Gürtel verschwinden.

      Ein kleines Flakon stand auf ihrem steinernen Nachttisch, ein Geschenk ihrer Mutter mit scheinbar nie versiegendem Parfüm, das zwar betörend nach bekannten Blüten duftete, doch eine ganze Reihe unbekannter Stoffe enthielt, die Juchata nicht kannte. Zwei Tropfen genügten, die sie hinter ihren Ohren und dem Dekolleté verteilte. Sie kannte die Wirkung dieses Duftes auf andere, doch ihr Vater schien dagegen immun und würde sich nicht davon überzeugen lassen, ihr die Qual der nächsten Stunden zu ersparen. Auf einen letzten Versuch kam es dennoch an, auch wenn sie kaum Hoffnung auf ein Gelingen hatte.

      Juchata seufzte. Zwar war sie jetzt bereit für das Treffen, eine Entscheidung hatte sie immer noch nicht gefällt.

      Sie öffnete die Vorhänge vor ihrem Fenster wieder und blickte in die wohltuende und beruhigende Dunkelheit hinaus. Vielleicht würde die Aussicht, die sie schon seit so vielen Jahren kannte, ihr endlich eine Antwort schenken. Der Mond stand jetzt beinahe im Zenit. Auch wenn er hell leuchtete, machte es ihr nichts aus, ganz anders als die Sonne, die selbst wenn sie hinter den Wolken schien, jeden Nocturnen töten würde. Selbst wenn sie noch nicht einmal erschienen war, gerade im Begriff war aufzugehen, war jedes Nocturnen-Auge so überfordert, dass es erblinden konnte. Einmal, als Kind, hatte Juchata die Zeit vergessen und war in die Nähe des Sonnenaufgangs geraten. Es war zum Glück ein Wintertag gewesen, die Sonne hatte sich hinter einem dicken Schleier aus grauen Wolken versteckt, war aber noch nicht aufgegangen. Doch ein einziger Blick in ihre Richtung hatte Juchata so geschmerzt, dass sie sich, blind und vorwärts tastend, gerade noch hatte nach Hause retten können. Die folgende Blindheit war zu ihrem Glück nur vorübergehend gewesen, doch hatte sie drei Nächte lang angehalten, bevor ihr Augenlicht zurückgekehrt war. Ihre Eltern hatten damals an ihrem Bett gewacht, denn es war eine lange Zeit über nicht sicher gewesen, ob sie jemals wieder würde sehen können. Doch die legendären Heilkünste Marlettas, ihrer Mutter, hatten Juchata damals geholfen, und auch wenn sie schier unerträgliche Schmerzen gelitten hatte, eines Nachts war schließlich alles vorbei gewesen. Die rasenden Kopfschmerzen verschwanden, ebenso der Druck in den Augen. Wie ein wunderschöner Makel in einem perfekten Gesicht war eine winzige Narbe an Juchatas Augenlid zurückgeblieben, die wie zur Warnung zu schmerzen begann, wenn auch nur ein Hauch von Licht sie berührte.

      Selbst Feuerschein ertrugen die Nocturnen nicht, denn es hatte auf sie eine ähnlich blendende Wirkung. Allerdings starben sie nicht, da das Licht des Feuers nicht die Intensität der Sonne erreichte. Doch in der Zeit, in der sie dem Feuer ausgesetzt waren, erblindeten sie völlig. Auch wenn die Wirkung nur temporär war und in der wohltuenden Dunkelheit sofort nachließ, wären Nocturnen in beleuchteten Räumen allem schutzlos ausgeliefert, was auch immer sie dort erwartete.

      Das Mondlicht jedoch war anders, auch die Sterne konnten Juchata jetzt nichts anhaben. Im Gegenteil, als wenn dieses Licht das gute Licht war, eines, dass sie vertrug und dem sie sich gerne aussetzte. Kein Wunder also, dass die Nocturnen den Mond als Gottheit verehrten.

      „Ophras, sag mir, was ich tun soll.“ Doch wie immer antwortete Ophras nicht, denn die Antwort trug Juchata in ihrem Herzen, tief versteckt und für sie selbst unauffindbar, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt.

      Sie vergötterte ihren Vater und war ihm in allem gehorsam. Doch jetzt, in diesem Augenblick, verfluchte sie ihn. Sie verstand genug von Politik, um ihren Vater richtig einzuschätzen, der mächtige Verbündete suchte, um seine Ideen voranzutreiben. Da Naxbil dafür nicht geschaffen war, musste Juchatas Ehemann für ihn einspringen, den Vincus einzunehmen und auszubilden gedachte. Sollte das nicht möglich sein, bliebe Juchatas Sohn, der noch ungeboren war, was Vincus nun so schnell wie möglich ändern wollte.

      Ihr Vater hatte sie zu blindem Gehorsam erzogen, ein Schicksal, dass sie mit allen Nocturninnen in der Oberstadt teilte, vor allem, nachdem ihre Mutter so früh gestorben war. Sie verstand die Politik der Adhiben, ein nie enden wollendes Intrigenspiel zwischen den mächtigen Familien, die somit ihre Macht, auch untereinander, gegenüber den normalen Nocturnen verteidigten.

      Schon lange bevor er vor Juchatas Tür stand, waren seine Schritte zu hören. Baribas, der alte Diener, hinkte nach einer schweren Verwundung in einer seiner zahllosen Schlachten und zog das linke Bein nach, so dass sein Gang unverkennbar in den langen und hohen Korridoren widerhallte. Die schweren, roten Wandteppiche fingen die Geräusche nicht auf, sondern verstärkten sie auf geheimnisvolle Weise, wodurch Juchata schon lange vorher wusste, wann jemand den Korridor zu ihrem Gemach betrat, der sicher hundert Phrakten maß. Ihr Zimmer, das einzige bewohnte in diesem Flügel, hatte sie sich selbst ausgesucht, als ihr Vater sie vor die Wahl gestellt hatte. Damals war es ihr leicht gefallen, nicht nur handelte es sich um den größten Raum, er lag auch am höchsten und hatte als Einziger einen kleinen Erker, von dem aus Juchata einen fantastischen Blick auf die Umgebung hatte. Der größte Vorteil jedoch war die Entfernung zu den anderen Gemächern. Sie logierte weit entfernt von ihrem Vater, der im Hauptgebäude wohnte und auch die Räume des Bruders waren in einem gänzlich anderen Flügel, was Juchata wohl am ehesten erwogen hatte, dieses Zimmer zu wählen. Einst hatten sie sich gut verstanden, als Kinder und Heranwachsende waren sie unzertrennlich gewesen. Doch dann war die Bande gerissen, Naxbil hatte mit seinen Ausschweifungen begonnen, die Vincus sehr verärgert hatten. Seine Reaktion auf Naxbil war kühl gewesen und hatte ihren Bruder verletzt, der nun seine Eifersucht auf die Verbindung lenkte, die zwischen Vater und Tochter herrschte, auch wenn diese eher auf Strenge als auf Herzlichkeit beruhte. Mit der Zeit waren sie immer mehr dazu übergegangen, getrennte Wege zu gehen, schon bald redeten sie so selten wie Fremde, nur noch zu den wenigen gemeinsamen Mahlzeiten sahen sie sich. Zwischen ihnen erstreckten sich nun Korridore und Gänge, die kaum überwindbar wie ein Labyrinth die Geschwister trennten. Eine schier endlose Zahl von Zimmern war unbewohnt, die Möbel mit grauen Laken bedeckt, die einst weiß gewesen waren und nun zwischen Staub und Spinnweben immer mehr vor sich hin moderten. Zu einer anderen Zeit musste die Villa der DeRoveres nahezu vollständig bewohnt gewesen sein. Bilder von unbekannten Verwandten, aus grauer Vorzeit, über die sich wie auf alles andere bereits der Staub des Vergessens gelegt hatte, hingen noch an den Wänden in der Ruhmeshalle. Warum diese so hieß, wusste niemand mehr, doch bildete sie den Mittelpunkt des Hauses, ein hoher, sich über drei Stockwerke erstreckender Saal mit gigantischen Säulen, der aus dem gotischen Gebäude heraus stach. Dieser Saal stieg nicht nur in die Höhe, sondern zog sich auch in die Länge, an die 50 Phrakten reihte sich Säule an Säule, die aus weißem, kalten Stein gefertigt waren. Einige von ihnen wiesen merkwürdige Inschriften auf, die niemand mehr entziffern konnte. Es war der einzige helle Ort in dieser Villa, die düster wirkte mit ihren Kreuzgratgewölben und dunklen Granitsteinen. Doch der Saal war vollständig mit diesen weißen Steinplatten bedeckt, deren helle Adern beinahe lebendig wirkten. Jedes Mal, wenn Juchata eintrat, schmerzte ihre Narbe