Torsten Thoms

Nocturnia - Die langen Schatten


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Ewigkeit, deren Existenz länger gedauert hatte als die Erinnerung an die Modelle. Auf einer Erhebung am Ende des Saales stand nun ein langer, schwerer Holztisch, der eigentlich Platz für 20 Gäste bot, doch nun meist nur für drei gedeckt wurde. Baribas, der alte Weggefährte des Vaters, bediente nun ihren Bruder, sie und Vincus in den seltenen Fällen, wenn sie zusammen Mahlzeiten einnahmen. Der einzige weitere Angestellte war der alte Koch Elotril, der wie Baribas auch gedient hatte und deren Kochkunst sich auf die einfache Küche der Krieger beschränkte. Aus Dank für irgendeinen Dienst hatte Vincus ihn übernommen, warum wusste Juchata nicht. Die beiden wohnten in den Kellergewölben, irgendwo weit unter der Villa, und Juchata hätte nicht sagen können, wo genau, zu weit erstreckten sich die Gewölbe unter dem Bauwerk, das sicher ebenso viele Etagen unter wie über der Erde hatte. Vielleicht sogar mehr. Juchata hatte es nie vollständig erkundet. Eine Klingel an jeder Tür war jedoch mit den Quartieren der Diener verbunden, so dass sie diese nur betätigen musste, um die Dienste des Baribas zu erbitten, was nur in seltenen Fällen geschah.

      Jetzt hörte sie ihn kommen, er musste noch Dutzende Phrakten entfernt sein, doch Juchata geriet bereits in Panik. Sie fühlte, wie die überall gefürchtete Wut in ihr emporstieg, eine Wut, die sie selten zu kontrollieren wusste, die jedoch gegenüber ihrem Vater allerhöchstens eine stumpfe Waffe war, deren er sich meist rasch und wortgewandt entledigte. Die Schritte kamen näher, auf Juchatas Ärger folgte Verzweiflung, danach Trauer.

      Es gab keinen Ausweg.

      Kapitel 2

      Für Naxbil war es ein kurzer Tag gewesen, denn lange hatte er mit seinen trinkfesten Freunden gefeiert. So hatte er auch erfolgreich verdrängt, was für ein wichtiges Ereignis seiner Schwester Juchata bevorstand, denn zu ihrer Bekanntgabe der Heirat war auch er geladen. Es sollte eine wichtige Nacht für die DeRoveres werden, aus diesem Grund hatte er bereits vor einigen Nächten entschieden, der Zeremonie fern zu bleiben. Auch wenn sein Vater den Ophraces, einen Hohenpriester des Ophras, hinzubestellt hatte, um die Bedeutung zu unterstreichen. Doch Naxbil wusste, dass es um mehr ging als nur die Höherstellung der Schwester gegenüber ihm, dem Sohn und Erstgeborenen. Die Enttäuschung über das Scheitern seiner eigenen Hochzeitspläne saß noch tief im Gemüt seines Vaters fest, so dass diese Zeremonie nur auf eine Demütigung Naxbils selbst hinauslaufen konnte.

      Seit Jahrhunderten wurde der erstgeborene Sohn vermählt, danach alle anderen Geschwister. Die Tatsache, dass seiner Schwester Juchata nun diese Ehre zuteil wurde, bedeutete für Naxbil nichts Gutes. Zwar hatte sein Vater ihm offiziell verziehen, die öffentliche Waschung im Tempel des Ophras vollzogen, doch Naxbil wusste, dass das, was er getan hatte, in einer Gesellschaft, wie die der Nocturnen nicht geduldet werden würde. Missmutig zog er die Decke über den Kopf und bereute bereits, überhaupt nach Hause gekommen zu sein. Insgeheim wünschte er sich, jemand würde kommen und ihn zwingen, doch zu erscheinen, aber das würde nicht geschehen. Er hatte zwar die Einladung erhalten, der er folgen konnte oder auch nicht. Keiner würde sich dafür interessieren oder darauf achten, ob er erschien. Zu tief saß die Wut seines Vaters, als dass dieser ihm seine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Es war als wäre seine Chance ein für alle Mal vorbei. Er hatte es gespürt, als er es tat, selbst in den Sekunden vorher wusste er, dass seine Handlungen beobachtet wurden. Selbstzerstörerisch hatte er dennoch weiter gemacht, bis es geschehen war, seine Gedanken immer bei der Sache, von der er wusste, dass sie ihn für alle Zeit ins Abseits schicken würde.

      Wie hatte es nur soweit kommen können? Er hätte wählen können zwischen drei bildschönen Nocturninnen, alle aus angesehenen Familien, alle drei mit besten Verbindungen und gefüllten Schatullen. Seine Zukunft war gemacht, denn Vincus hatte seit seiner Geburt für diesen Augenblick gelebt und gearbeitet, hatte genau so viel Zeit für seine Karriere wie für diese Verbindungen getan. Auch hatte er das Kunststück fertiggebracht, ihm überhaupt eine Wahl zu gewähren, was selbst unter Nocturnen seines Standes höchst ungewöhnlich war. Vincus' Taktik hatte wie immer die Zufriedenheit aller Parteien umschlossen, selbst die beiden Nicht-Erwählten hätten profitiert, weil ihre Töchter in die engere Wahl gekommen waren. Wie genau das Geschäft ausgesehen hatte, wusste Naxbil nicht, nur dass es ein Privileg gewesen war.

      Die angehenden Bräute waren ihm vorgestellt worden, alle drei zusammen. Am Anfang waren noch deren Mütter zugegen, dem Ritual folgend bewirteten sie den Gatten und die heiratswilligen Töchter. Naxbil hatte sich umworben gefühlt, es genossen, im Mittelpunkt zu stehen, und dieses seltene Gefühl ausgekostet. Sein Vater wartete im Zimmer nebenan, samt den anderen Vätern und Naxbil war sicher, dass sie dem Schauspiel durch geheime Löcher in Wänden und Möbeln folgten. Dann waren die Mütter gegangen, Naxbil wurde Zeit allein gewährt, um seine Braut zu wählen. Bis dahin war alles gut gelaufen, der nötige Abstand zwischen den Parteien war gewahrt worden, eine Unterhaltung über Nichtigkeiten in Gang gekommen. Als nur noch er und die drei jungen Nocturninnen in seinem Gemach waren, begann die Beklommenheit, der er nicht Herr wurde. Das Zimmer wurde von den Müttern versiegelt, niemand durfte dieses Siegel brechen außer er selbst, wenn er seine Entscheidung getroffen hatte. So wollte es der Brauch in diesen Fällen, der Jahrhunderte alt war. Selbst die Väter durften nicht eingreifen, was immer auch geschehen sollte.

      Vielleicht war es die uneingeschränkte Macht in diesem Moment, mit der Naxbil nicht umgehen konnte, vielleicht auch seine unbändige Lust, die er mehr auslebte, als alle anderen ahnten und die ein so großer Teil von ihm geworden war, dass er sie kaum mehr kontrollieren konnte. Auch hatte immer sein Vater für ihn entschieden, hatte ihm aufgetragen, was zu tun wäre und durchgesetzt, dass das auch getan wurde. In dieser Situation aber war er ganz Herr seiner selbst und nicht nur das. Auch drei wunderschöne Nocturninnen hatte er in seiner Gewalt, die sich allem fügen mussten, was er von ihnen verlangte. Anfangs konnte er sich noch zügeln, hielt eine Art Gespräch am Laufen, doch bald schon fing er damit an, Unzüchtigkeiten von seinen Bräuten zu verlangen. Er befahl ihnen, ihre Kleider abzulegen, was an sich schon eine Schande für sie bedeutete. In diesem Augenblick war es vorbei, das wusste er, denn die Väter beobachteten alles. Wie von Sinnen war er, hörte seine Stimme, seine Befehle aus weiter Entfernung, sah sich selbst neben sich stehen, beobachtete seinen roten Kopf, als er den Nocturninnen befahl, Zärtlichkeiten auszutauschen. Die wagten nicht, sich zu widersetzen, zwei von ihnen gehorchten ihm nur widerwillig, die Dritte schien sogar erregt, auch wenn sie sich vordergründig wehrte. In diesem Augenblick war schon alles zu spät, so dass er fortfuhr, selbst eingriff. Er wurde sogar kurz gewalttätig, nahm sich, was er wollte, auch wenn er dazu Schläge austeilen musste. Nach einer halben Stunde war alles vorbei. An eine Wahl dachte er jetzt nicht mehr, denn er hatte, statt zu wählen, die drei Nocturninnen entweiht, für alle Zeiten. Sie waren alle von höchster Geburt und ihre Väter und Mütter waren Zeugen seiner Tat geworden, die nicht zu verzeihen war.

      Keiner der Älteren jedoch hatte es gewagt, ihn zu stoppen, für alle war der Brauch wichtiger gewesen als die Ehre ihrer Töchter. Die Drei saßen danach verängstigt in der Ecke des Zimmers, als er langsam auf die Tür zutrat. Er wusste, dass dahinter sein Untergang wartete, ob körperlich oder seelisch, deshalb zögerte er mit dem Aufbrechen des Siegels. Am Ende jedoch war es ihm egal, ob er es jetzt tat oder noch einige Minuten wartete, sein Schicksal war bereits geschrieben.

      Als er die Tür öffnete, sah er nur noch für den Bruchteil einer Sekunde die wutverzerrte Visage seines Vaters, der ihm mit aller Kraft einen Faustschlag verpasste, der ihn in eine gnädige Ohnmacht versetzte.

      Stunden später war er in seinem Gemach aufgewacht. Von seinen Freunden hatte er erfahren, dass die Familien sich geeinigt, das Ansehen seines Vaters durch diese Eskapade jedoch stark gelitten hatte. Der Vergleich war ihn teuer zu stehen gekommen, und es waren nicht nur die vielen Arcinmünzen aus der Schatzkammer, sondern der folgende Machtverlust, von dem einige glaubten, er würde sich davon nicht erholen.

      Binnen kürzester Zeit waren alle drei seiner Gespielinnen vermählt, mit zweitklassigen Gatten, etwas, dass die Eltern der hohen Familien nur akzeptiert hätten, wenn sie etwas anderes, Höheres, bekommen hatten. Was das war, wusste Naxbil nicht, auch seine Freunde konnten ihm nicht helfen, so geheim musste das Übereinkommen sein. Über die Sache schwiegen alle, kein Wort drang nach außen. Und doch ahnte es jeder. Einer seiner Freunde hatte etwas mehr erfahren als die anderen, woher war Naxbil ein Rätsel.

      Vincus