Manfred Rehor

Der Brief der Königin


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erklärte Georg. „So weit ich es beurteilen kann, ist der Inhalt rein familiärer Natur. Aber ich betone noch einmal: Eigenhändig geschrieben! Dieser Brief ist noch einmal so viel wert, wie Sie uns für den Schmuck geben haben.“

      Grabow verzog das Gesicht und tat, als wolle er den Brief fallenlassen. „Ach, was!“

      Melanie schrie vor Schreck auf.

      „Für Sammler ein unbezahlbarer Schatz!”, beeilte sich Georg noch einmal zu versichern.

      Grabow zögerte. Er konnte sich von dem Brief nicht trennen. „Ich gebe zu, ich habe noch nie etwas besessen, das von einer echten Königin stammt. Gut, einverstanden.“

      Georg steckte das zusätzliche Geld ein, nahm Melanie bei der Hand und verließ mit ihr eilig das Zelt.

      Als Grabow auf den Hinterausgang zuging, den Brief wie eine Ehrenurkunde vor sich haltend, rannte Benjamin zurück zum Wohnwagen und gab sich den Anschein, eine Ecke auszukehren.

      Polternd kam Grabow herein und zog sich die Kette mit dem Schlüssel über den Kopf. „Verschwinde“, herrschte er Benjamin an. „Bring das Zelt in Ordnung!“

      Als Benjamin nicht schnell genug reagierte, schlug Grabow beiläufig nach ihm und traf ihn mit der Hand auf der frischen Wunde am Rücken.

      Aufschreiend vor Schmerz flüchtete Benjamin nach draußen. Rosalinde hatte Recht: Es musste ein besseres Leben geben als dieses, ob nun bei einem echten Vater oder irgendwo sonst. Es war Zeit, zu gehen.

      Benjamin haut ab

      Am frühen Abend kam eine Polizeistreife auf den Rummel und befragte Besucher und Schausteller. „Hör zu, was die wollen und was die Kollegen reden“, befahl Grabow. „Aber lass dich nicht dabei erwischen.“

      Benjamin lungerte also in der Nähe der Polizisten herum und belauschte die Befragungen.

      „Wurden von Ihnen verdächtige Personen am heutigen Morgen hier auf dem Gelände beobachtet?“, fragte ein Polizist den Herkules, der sein Kostüm aus Fellen trug und lässig eine Keule schwenkte.

      „Ich weiß von keinem Gelände und Personen“, behauptete Herkules. „Und beobachten tu ich schon gar nicht.“ Er hob seine Keule und der Polizist machte, dass er weiter kam.

      Alle Befragten würden leugnen, das Dienerpaar gesehen zu haben, daran zweifelte Benjamin nicht. Auch diejenigen, die wussten, dass die beiden Gesuchten zu Grabows Zelt gegangen waren. Die Schausteller hielten zusammen, solange es gegen Staat und Ordnungsmacht ging.

      Benjamin ärgerte sich nicht über die abschätzigen Blicke, mit denen die Polizisten ihn bedachten. Es war zu seinem Vorteil, wenn sie ihn wegen seiner Hautfarbe für zu dumm hielten, Fragen zu beantworten. Solange er sich den Beamten nicht in den Weg stellte, würde er unbehelligt bleiben.

      Später war er dabei, als Grabow vernommen wurde, und für einen Moment sah er ihn so, wie ihn die Polizisten sahen: als bulligen Kerl mit Schnapsfahne, dessen glasige Augen verständnislos aus dem geröteten Gesicht starrten.

      „Heute Morgen?“, grunzte Grabow auf ihre Frage. „War ich noch gar nicht wach.“

      „Also haben Sie niemanden gesehen?“

      „Sag ich doch!“

      Das genügte den Beamten, sie gingen weiter. Benjamin blieb in ihrer Nähe, bis sie das Gelände verließen. Anschließend nahm er seinen Mut zusammen und ging zu Rosalinde. Er wusste, sie würde von ihm eine Entscheidung erwarten, und die auszusprechen fürchtete er sich. Obwohl er sie für sich schon getroffen hatte.

      „Hast du alles genau so gemacht, wie ich es gesagt habe?“, fragte Rosalinde.

      „Ja“, sagte er. Dann sprudelte es aus ihm heraus: „Heute Nacht werde ich ihm das Schlafmittel geben. Dann haue ich ab.“

      „Gut. Was tust du, wenn du deinen Vater gefunden hast?“

      „Ich glaube, ich suche ihn gar nicht, sondern gehe gleich nach Afrika. Wenn meine Mutter dort herstammt, ist das ja mein Zuhause.“

      „Du willst in die Kolonien? Da ergeht es dir schlimmer als hier.“

      „Nein! Es gibt nicht nur die Kolonien. Das meiste Land dort ist noch gar nicht erforscht.“ Benjamin war nicht bereit, sich von Rosalinde seine Vorstellung von Afrika schlechtreden zu lassen. Für ihn war es das Paradies auf Erden: ein riesiges Land, in dem sich niemand um seine Hautfarbe kümmerte. Und natürlich voller Löwen, Zebras, Abenteuer und Geheimnisse.

      Rosalinde fuhr ihn an: „Nichts da! Du suchst deinen Vater! Wenn du erwachsen bist, kannst du immer noch nach Afrika gehen.“

      „Schon gut. Aber was ist, wenn mein Vater mich nicht bei sich haben will? Vielleicht jagt er mich fort.“

      „Kann sein. Reiche Leute haben manchmal seltsame Anwandlungen.“

      „Wie kommst du darauf, dass er reich ist?“

      „Weil er viele Jahre lang Geld an Grabow gezahlt hat, damit der dich groß zieht. Wäre er nicht reich, hätte er dich einfach ausgesetzt oder in ein Findelheim gegeben. So etwas passiert ja alle Tage.“

      Sein Vater ein reicher Mann! Auf die Idee war Benjamin noch nie gekommen. Er stellte sich seinen Vater immer als jemanden vom Rummel vor. Aber richtig reich war auf dem Rummel niemand – nicht einmal Breitmann, wenn man ihn mit den wohlhabenden Bürgern einer Stadt verglich. „Glaubst du, er war so richtig reich, mit eigenem Haus und Kutsche und allem?“, fragte er, fuhr aber ohne Rosalindes Antwort abzuwarten fort: „Das kann nicht sein. So jemand hat keinen Mischlingssohn. Der würde mich nicht einmal als Diener nehmen.“

      Rosalinde stopfte Kuchen in sich hinein, deshalb verstand er ihre Antwort zunächst nicht. Es ging ihr besser an diesem Abend, das konnte Benjamin an ihrem zufriedenen Gesichtsausdruck erkennen. Außerdem war süßer Tee mit Kuchen ihr Lieblingsessen.

      „Unsinn, er muss dich gern haben“, wiederholte sie deutlicher. „Auch das lässt sich daraus schließen, dass er für dich bezahlt. Zumindest hat er ein schlechtes Gewissen.“

      „Du hast ziemlich viel Verstand für ein Mädchen“, lobte Benjamin.

      „Und ziemlich viel Gewicht, das gleicht sich wieder aus. Denkst du an mich, wenn du bei deinem Vater bist?“

      „Wenn er wirklich reich ist ...“ Benjamin stockte bei dem Gedanken an all das, was möglich wäre mit viel Geld. Es dauerte eine Weile, bis ihm auffiel, dass Rosalinde ihn wartend ansah. „Dann werde ich ihn bitten, dich in eine Klinik zu schicken, wo du ohne Nachteile abnehmen kannst“, versprach er. Er umarmte Rosalinde, so gut es ging, wischte ihr mit seinem Taschentuch eine Träne von den dicken Backen und verließ sie.

      In der Abendvorstellung war Benjamin so geistesabwesend, dass es nicht nur Grabow, sondern auch dem Publikum auffiel. Die Leute murrten, als er lustlos herumtanzte. Eine Ohrfeige von Grabow nach der Vorstellung brachte Benjamin von seinem Gedanken an Reichtum und Afrika zurück in die Wirklichkeit. Trotzdem kam es in der Spätvorstellung zu vereinzelten Pfiffen, aber das war öfter so. Die Spätvorstellung fand nur in größeren Städten statt. Wie Benjamin nur zu gut wusste, erhofften sich die Zuschauer nachts eine obszöne Vorführung mit knapp bekleideten schwarzen Frauen. Grabow stand vor dem Zelt und lockte Besucher an, indem er Andeutungen in diese Richtung machte. Die meisten Zuschauer verließen das Zelt bald wieder, weil ein tanzender Negerjunge sie langweilte.

      Grabow ging nach der Vorstellung weg, um sich irgendwo zu betrinken. Benjamin holte die bauchige Flasche mit dem ausländischen Etikett aus dem Versteck und ging zum Wohnwagen. Er fing an, sein Bündel zu packen, ohne zunächst selbst so recht zu wissen, was er tat.

      Es gab nicht viel, was ihm gehörte. Er nahm diese Dinge nacheinander in die Hand: ein paar Kleidungsstücke, Holzspielzeug aus seiner Kindheit und die zerlesenen Reste seines einzigen Schulbuches. Das geschnitzte Schaukelpferd, das auf die Fläche einer Hand passte und viele Schrammen aufwies, war Benjamin besonders lieb. Manchmal hatte er genug von seinem Dasein als Jahrmarktsattraktion.