Jens H. Milovan

Zeit der Klarheit


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Ja, gut. Alles hat soweit funktioniert. Wir freuen uns, dass wir wieder hier sind und sie sich für uns Zeit nehmen.«

      Herr Reban war ein sehr erfahrener Consultant und beriet uns bei der Gründung eines neuen Sales-Büros in Singapur. Unsere Anlagen zur Herstellung von Nanomaterialien und Nanohalbzeugen erfreuten sich immer größerer Beliebtheit und die Nachfrage stieg weltweit. Nach ersten Anlaufschwierigkeiten erzielten die Vorbereitungen zur Eröffnung des Singapur-Büros jetzt gute Fortschritte. Trotzdem waren wir nicht mehr im Zeitplan und es galt heute Möglichkeiten zu finden, um wieder auf Spur zu gelangen.

      »Die ständig neu erfundenen Mängel an den erforderlichen Dokumenten seitens der Behörden in Singapur, haben uns bis jetzt fast drei Monate gekostet. Mal sollte der Stempel unten rechts anstatt unten links sein, ein anderes Mal waren die Verträge nicht ordnungsgemäß gebunden«, analysierte Herr Reban den Zeitverzug. Ich ertappte mich dabei, wie meine Gedanken immer weiter abschweiften. Die Worte von Herrn Reban hörte ich zwar, jedoch nahm ich deren Bedeutung nicht mehr wahr. Vor meinen Augen formte sich das Bild von Leon mit seinen gelben Schuhen und dem Fußball unter dem Arm. Er ging mit seinen Eltern ins Haus und winkte mir zu. Eine melancholische Stimmung überkam mich. Mir war nun zum ersten Mal so richtig bewusst, dass mir ohne eigene Familie etwas fehlte. Das Gefühl von Einsamkeit stieg in mir hoch. Erinnerungen an meine Kindheit formten ein leichtes Lächeln in mein müdes Gesicht. Ein Film von einem unserer Urlaube auf Korsika, mit meinen Eltern und meinen beiden Geschwistern als Hauptdarsteller, spulte sich ab. Irgendwie glaubte ich fast, den salzigen Geruch vom Meer wahrzunehmen. Auch das angenehm gleichmäßige Rauschen der Wellen klang jetzt in meinen Ohren. Meine Eltern saßen auf Klappstühlen und beobachteten unsere Versuche, eine Sandburg zu bauen. Mein älterer Bruder und meine drei Jahre ältere Schwester überlegten, wie sie den Nordflügel der Festung gestalten sollten. Ich für meinen Teil interessierte mich überhaupt nicht dafür, ob der Bereich nun rund oder rechteckig gebaut werden konnte, sondern buddelte tiefe, lange Tunnels. Immer tiefere und längere Tunnels. Eines dieser unterirdischen Gänge war wohl zu tief oder zu lang für die Burg, oder beides und sie stürzte ein. Bis meine Geschwister den Untergang ihres Königreichs bemerkten, hatte ich mich unauffällig entfernt und bereits ein gutes Stück Vorsprung. Die alten Urlaubserinnerungen verblassten und wurden durch die Bilder der Rubinhochzeit meiner Eltern verdrängt. Seit fast einem Jahr hatte ich so gut wie keinen Kontakt zu meinen Eltern oder zu meinen Geschwistern.

      »Können wir die zusätzliche Anwaltskanzlei Victor NG & Partners in Singapur beauftragen, Herr Bender?«, fragte mich Herr Reban.

      »Die Anwaltskanzlei Victor NG & Partners«, wiederholte ich bedächtig, um Zeit zu gewinnen.

      Ich überflog kurz die vier, fünf Sätze der Präsentation an der Leinwand.

      »Ja, guter Vorschlag Herr Reban. Das könnte aus meiner Sicht den Genehmigungsprozess enorm beschleunigen. Da dies unser Bottleneck darstellt, sollten wir uns darauf fokussieren«, begründete ich meine Entscheidung und fügte hinzu, »gönnen wir uns fünf Minuten Pause.«

      Zeichen der Zeit

      Am nächsten Morgen fuhr ich dann doch mit dem, wie immer völlig überfüllten Bus, zur Werkstatt in die wie immer völlig überfüllte Stadt. Es war noch etwa eine Stunde Zeit, bis mein Wagen, der mich bis zu diesem Zeitpunkt nicht im Stich gelassen hatte, abholbereit war. Das gemütliche Café »Zeitlos« zwei Straßen weiter bot sich an. Bereits beim Eintreten, meint man in einer anderen Welt zu sein. Spätestens, wenn du an einem der kleinen Tische sitzt, sind aller Stress und alle Sorgen der Außenwelt vergessen. Die angenehme Atmosphäre und die ruhige Ausstrahlung lassen jeden Gast sofort entspannen. Ich ging zu einem freien Tisch am Fenster und sank auf die Couch. Mein Blick schweifte durch den Raum über harmonische Gemälde und bequeme Sofas. Irgendwie fühlte ich mich beobachtet. Und tatsächlich, ein Mann asiatischer Abstammung ruhte mit seinem Blick auf mir. Starren konnte man dies nicht nennen. Er sah eher durch mich hindurch. Normalerweise ist mir das unangenehm beobachtet zu werden. In diesem Fall musste ich jedoch irritiert feststellen, dass diese Situation eher belebend war und mein Energielevel kontinuierlich anstieg. Trotzdem wusste ich nicht genau, wie ich mich verhalten sollte. Die anderen Gäste unterhielten sich angeregt, genossen ihren Kuchen oder lasen konzentriert die Zeitung. Aus dem Augenwinkel beobachtend, sah der Mann eher unscheinbar aus. Sein Alter war schwer zu schätzen, so um die 50 Jahre vielleicht. Er hatte dunkles, volles Haar, sympathische wohlgeformte Gesichtszüge, ein gepflegtes Äußeres und dunkle, durchdringende Augen. Durch eine geringfügige Kopfdrehung konnte ich den Mann durch einen Spiegel genauer betrachten. Seine aufrechte, jedoch nicht steife Sitzhaltung, sein friedlicher Blick und sein natürliches Lächeln strahlten absolute Gelassenheit und Weisheit aus. Er sah mich unverändert an. So langsam wurde ich doch nervös und beschloss zu seinem Tisch zu gehen, um ihn anzusprechen. Aber wie? Welches Thema? Politik? Nein, es musste etwas Unverfängliches, Neutrales sein. Aber was? Sport ist immer gut. Mit Fußball oder Basketball kannte ich mich aus. Diese Sportarten werden in Asien wahrscheinlich nicht die gleiche Popularität genießen wie hierzulande. Verschiedenste Themen gingen mir durch den Kopf, aber keines hielt ich für unsere Konversation geeignet. Apropos Konversation. Ich saß doch noch immer allein an meinem Tisch. Mutig quälte ich mich aus dem weichen Sofa. Ich vergewisserte mich, dass der Mann zu mir herübersah und ging zielstrebig in seine Richtung. Kurz vor seinem Tisch bog ich heldenhaft zur Toilette ab. Shit, Shit, Shit! Klasse gemacht. Das gibt es doch gar nicht. Diese kühne Tat erinnerte mich an die anfänglichen Treffen mit meiner ersten Freundin. Aber das ist eine andere Erfolgsstory. Beim Händewaschen entschied ich, dass die Operation ›Kontaktaufnahme mit asiatischem Mann‹ erledigt war. Der Weg zu meinem Platz war leider durch eine große Gruppe an Leuten versperrt. Auf der Suche nach einem freien Tisch brachten sie völlige Unruhe in diesen ansonsten so beschaulichen Ort. Großartig, dachte ich, nun bleibt mir nichts anderes übrig, als durch das halbe Café zu wandern. Es kam, wie es kommen musste. Genau vor dem Tisch des Asiaten ging es nicht weiter, da die Gruppe sich wohl entschlossen hatte, das Café zu verlassen. So verharrte ich notgedrungen vor seinem Tisch. Dies konnte doch nur ein Zeichen sein, oder? Der Mann sah immer noch durch mich hindurch. Ich hörte mich fragen: »Kann ich mich zu ihnen setzen?« Er nickte und bot mir den Platz neben ihm an.

      »Hallo, müder Krieger, zugleich Harlekin und weiser Kaiser. Warum so missgestimmt und betrübt?«, fragte er mich mit wohlklingender, durchdringender Stimme.

      »Mein Wagen hatte eine Panne. Ich musste mit dem überfüllten Bus fahren. Nachher kann ich es aus der Werkstatt abholen«, stammelte ich nach einer kurzen Pause, in der ich den ersten Teil seiner Frage verdauen musste.

      »Das ist sicherlich unangenehm. Das habe ich jedoch nicht gemeint. Junger Freund, ich spreche deine Grundstimmung an, nicht die kurzfristigen Unannehmlichkeiten. Betrachte dich. Sogar an diesem Ort der Ruhe strahlt dein Gemüt keine Freude aus, kein Lächeln ziert dein Gesicht. Deine Finger bewegen sich unaufhörlich und deine Atmung könnte durchaus ruhiger und tiefer sein.«

      Wow! Ich hatte das mit dem müden Krieger und dem weisen Kaiser noch nicht ganz verdaut, aber diese Aussage beanspruchte dann doch meinen kompletten Arbeitsspeicher. In meinem Kopf war die Festplatte im Moment auch nicht gerade mit freier Speicherkapazität gesegnet, sodass die Beantwortung dieser Frage etwas länger in Anspruch nahm. Es vergingen nicht nur Sekunden, sondern sicherlich einige Minuten ohne ein Wort. Alles war ziemlich verwirrend. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ja, die letzten ein, zwei Jahre waren wirklich stressig und aufreibend. Der neue Job, das neue Haus. Aber auch Ereignisse aus meiner Jugend zogen vorbei. Kurz empfand ich den ersten tiefen Schmerz bei der Trennung von meiner großen Liebe. Gefühle, wie vernachlässigt zu werden, Enttäuschung oder Einsamkeit wühlten mich auf. Mein Hirn war kurz vor einem Systemabsturz, als die nette Bedienung vorbeikam. »Möchten sie noch einen Kaffee?« Der Mann sah mich immer noch gütig, fast liebevoll an. Ich hatte das Gefühl, er konnte jeden einzelnen meiner Gedanken lesen und wusste genau, was gerade in mir vorging.

      »Entschuldigung, möchten sie noch einen Kaffee?«, wiederholte die Bedienung freundlich.

      »Oh, ja bitte.«

      Alle Strategien oder Reaktionen, die ich sonst in ähnlichen Situationen eingesetzt hätte, schienen nicht angemessen. Rechtfertigungen, schnelle Beendigung und Wechsel zu einem anderen