Jens H. Milovan

Zeit der Klarheit


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erschuf, hatte mich erneut. Leichte Hektik kam in mir auf.

      »Vielen Dank für das offene und wirklich aufschlussreiche Gespräch«, bedankte und verabschiedete ich mich.

      Erst beim Abholen meines Wagens fiel mir auf, dass ich weder nach seinem Namen noch nach seiner Adresse gefragt hatte. Super. Klasse gemacht! Einmal in den fast 36 Jahren meines Lebens lerne ich einen Menschen mit tiefer Weisheit kennen und frage ihn noch nicht einmal nach seinem Namen. Wie doof ist das denn, dachte ich, nachdem ich in meinem Büro angekommen war. Dort fing der ganz normale Wahnsinn wieder an. Wenngleich ich mich den gesamten Tag darüber ärgerte, diesen Mann wahrscheinlich nie wieder zu treffen, beschloss ich mich mit dem Thema Wissenschaft und Philosophie weiter zu beschäftigen. Vielleicht sollte ich auch ein, zwei Bücher über Meditation kaufen, die mir hoffentlich helfen könnten, meine Gedankenflut in den Griff zu bekommen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht einmal erahnen, wie sehr der Asiate mein Leben verändern würde.

      Übungszeit 1: Klarheit für den Geist

      Nutze diese Übung, um bewusst deine Gedanken zu steuern und deine Konzentrationsfähigkeit zu stärken.

      1. Strecke und dehne dich, wobei du so oft wie möglich gähnst.

      Setze oder lege dich bequem hin und schließe die Augen.

      Spanne deine Arme für zehn Sekunden an, wobei du eine Faust machst.

      Spanne deine Beine für zehn Sekunden an.

      Wiederhole diese Anspannung der Arme und Beine ein weiteres Mal.

      Entspanne alle Muskeln deines Körpers.

      Arme und Beine sind ganz locker.

      Ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit breiten sich in dir aus.

      2. Gelassen beobachtest du deinen Atem.

      Atme langsam und regelmäßig.

      Beim Einatmen atmest du Licht ein.

      Beim Ausatmen atmest du Spannung aus.

      Spüre, wie deine Aufmerksamkeit sich immer mehr nach innen richtet.

      Betrachte deinen gesamten Körper. Deine Füße, Beine, Oberkörper, Arme, Schultern bis zu deinem Kopf.

      Atme ein. Atme aus. Lass die Entspannung zu.

      Spüre, wie dein Körper tiefer sinkt.

      Tiefe Ruhe breitet sich in dir aus.

      Zähle rückwärts von fünf bis eins.

      Fühle, wie du mit jeder Zahl tiefer sinkst und immer tiefer entspannst.

      Visualisiere eine dich schützende Energiekugel, die dich umgibt.

      Verbinde dich mit der Erde. Stelle dir vor, wie Wurzeln aus Licht von deinem Körper, aus den Füßen tief in die Erde

      wachsen.

      3. Beobachte deine Gedanken.

      Möglicherweise wird zuerst eine Flut an Gedanken und Bilder auf dich einstürzen.

      Du nimmst die Position eines Beobachters ein.

      Du lässt die Flut an Gedanken geschehen.

      Du schaust den Bildern gelassen zu und lässt sie ziehen.

      Die Aufmerksamkeit löst sich von diesen Gedanken und kehrt zu dir zurück.

      Atme ruhig und tief.

      Bleibe nun für mindestens fünf Minuten bei nur einem Gedankengang und verfolgen diesen, ohne an etwas anderes zu

      denken, ohne dich zu verlieren und ohne das Verlangen dich zu bewegen.

      4. Bewege deine Arme, deine Beine und dann deinen gesamten Körper.

      Öffne die Augen.

      Kehre in das Hier und Jetzt zurück.

      Zeit für Veränderungen

      Die Tage vergingen. Die Tage vergingen sehr schnell, viel zu schnell. Ich saß auf der Couch und zappte von einem Schrottsender zum anderen. Was mache ich hier eigentlich, dachte ich fassungslos. Soll das jetzt die nächsten Jahre so weitergehen? Morgens aufstehen, allein Frühstücken, ins Büro fahren und abends die wenige Freizeit vor dem Fernseher vergeuden? Ich fühlte mich echt elend. Allein und elend. Der Grund für diesen Zustand war klar. Ich kannte die Ursache schon lange.

      - Ich hatte kein Ziel. -

      Viele behaupten, Menschen benötigen eine Aufgabe. Das ist, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. Konfuzius sagte ja auch »Der Weg ist das Ziel«, nicht »Der Weg ist deine Aufgabe.« Laotse brachte es ebenfalls auf den Punkt, »Nur wer sein Ziel kennt, findet den Weg.« Auch im Koran steht sinngemäß, »Wenn man das Ziel nicht kennt, ist kein Weg der richtige.« Ich weiß nicht, wie vielen meiner Freunde ich diese höchst weisen Zitate mit auf den Weg gegeben und ihnen geraten hatte sich ein Ziel zu setzen. Ich selbst hatte das jedoch völlig aus den Augen verloren und besaß kein ernsthaftes Ziel. Somit konnte ich weder einen sinnvollen Weg einschlagen, noch den Weg bewusst beschreiten. Ich schaltete den Fernseher aus und den Rechner ein. Im Internet suchte ich Literatur über Meditation. Das Angebot erschlug mich fast. Deshalb entschied ich mich für die traditionelle Methode. Der kleine Buchladen etwas abseits der Fußgängerzone mit der belesenen Verkäuferin. In diesem Laden verbrachten meine damalige Freundin und ich so ziemlich jeden zweiten Samstagvormittag.

      »Guten Tag, haben Sie kurz Zeit?«, fragte ich die nette Buchhändlerin, die mich wohl wiedererkannte.

      »Wie kann ich ihnen helfen? Suchen sie ein bestimmtes Buch?« Die schlanke Frau kam einen Schritt näher und schleuderte durch eine kleine ruckartige Bewegung des Kopfes ihren geflochtenen Zopf nach hinten.

      »Nein. Ich suche ein Buch über Meditation. Mit Übungen, ohne große Theorie.«

      »So nach dem Motto, quadratisch, praktisch, gut«, antwortete sie schmunzelnd. »Ja, da weiß ich schon, welches Buch passen könnte.«

      Sie ging zielstrebig den langen Buchreihen entlang und blieb unvermittelt vor einem Regal stehen. Ich hätte sie fast umgerannt, konnte aber gerade noch mit einem Schritt seitwärts ausweichen. Sie war so in Gedanken, dass sie mein Ausweichmanöver gar nicht registrierte. Zielsicher zog sie das gewünschte Buch aus dem Regal.

      »Zum Einstieg bringt ihnen das Buch anschaulich und sehr praktisch das Thema Meditation näher«, sagte sie und übergab mir das unscheinbare Werk.

      Und tatsächlich. Nach nur wenigen Seiten Theorie, stellten massenhaft Übungen und praktische Hinweise den Hauptteil dar.

      »Vielen Dank für ihre Empfehlung«, bedankte ich mich bei der Buchhändlerin an der Kasse, kaufte genau dieses Buch und trat gut gelaunt den Heimweg an.

      Da stand sie. Rehbraune Augen. Ich könnte mich darin verlieren, eine Ewigkeit hineinschauen. Ihre braunen, schulterlangen Haare waren etwas gewellt und eine Strähne fiel locker in ihr ebenmäßiges Gesicht. Ihr Lächeln war magisch und steckte alle in ihrer Umgebung an. Ihr positives Wesen erfüllte den Raum, niemand konnte sich dem entziehen. Die schmale Taille unterstrich ihre weibliche Figur. Wenngleich sie nicht zur Size-Zero-Generation gehörte, erkannte man am Top und am knielangen Rock ihren sportlichen, wohlgeformten Körper. Der Standard des Taille-Hüfte-Index wurde mit Sicherheit ausgehend von dieser Frau definiert. Die dezenten, abgestimmten Farben ihrer Kleidung, ihre Mimik, jedes Wort und jede Bewegung waren Ausdruck vollkommener Harmonie. Würde man ein Beispiel für ›perfekt‹ suchen, hätte man es in dieser Frau gefunden. »Hey, passen Sie doch auf«, knurrte mich der Mann an, den ich beinahe über den Haufen gerannt hätte.

      Ich war wieder in der Realität angekommen und schaute mich um. Sie und alle anderen sahen zu uns beiden auf die Empore hoch. Unweigerlich schoss mir das Blut in die Birne und auch ohne Spiegel wusste ich, dass eine Tomate gegen meinen hochroten Kopf vor Neid erblassen würde.

      »Entschuldigung, Herr Schmid-Edermann. Ich habe Sie gar