Ralph-Peter Becker

Der Gelbe Kaiser


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sein.“

      Die Gedanken des Kommandanten werden durch das Geräusch herangaloppierender Pferde unterbrochen. Eine Gruppe von Kriegern sieht der Kommandant auf sich zureiten – und doch greift seine Hand weder nach dem Schwert noch nach dem Bogen.

      „Entweder“, murmelt er still vor sich hin, „bin ich vor Trauer verrückt geworden oder die Geister der Toten reiten jetzt durch die Steppe. Diese Krieger sollte ich kennen. Verdammt, es sind Krieger aus dem Dorf!“

      Die kleine Gruppe der Krieger reitet in schnellster Gangart auf den Kommandanten zu, dessen Augen vor Begeisterung für einen kleinen Augenblick vor Freude hell aufleuchten.

      „Kommandant, Shang-ti sei gedankt, dass wir dich wenigstens lebend und frei hier antreffen.“

      „Auch ich will unserem Gott nicht länger zürnen. Hat er doch wenigstens zehn meiner Krieger aus unserem Dorf überleben lassen. Wo wart ihr, als im Dorf der Tod sein Maul aufgerissen und Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Brüder und Schwestern und alle unsere tapferen Krieger verschlungen hat? Gibt es noch weitere Überlebende?“

      „Ja, Kommandant. Fünfzig Krieger mit ihren Mädchen oder Frauen haben den Zorn der Götter überlebt. Das hast du dem klugen Yao zu verdanken. Als die ersten Kundschafter des Kaisers vor den Toren von Pan-po erschienen und als klar wurde, dass der Kaiser ein großes Heer von Kriegern gegen uns ausgesandt hat, da wusste Yao sofort, dass dies das Ende von Pan-po und seinen Kriegern und Bewohnern sein würde. Er befahl uns, solange der Feind uns noch nicht eingekreist hatte, das Dorf zu verlassen, um in einem sicheren Versteck, das Ende der erwarteten Kämpfe abzuwarten. Er hat uns strengstens untersagt, vor dem Frühjahr hier im Dorf wieder zu erscheinen.“

      „Dann habt ihr euch in den Höhlen versteckt, wo wir unsere Nahrungsmittelvorräte und Waffen für den Notfall deponiert haben?“

      „Ja, Kommandant. Wir waren mit Yao's Befehl natürlich nicht einverstanden. Jeder von uns, auch die Frauen und Mädchen, wollte lieber sterben, als wie Feiglinge die Zeit des Krieges in der Sicherheit eines Verstecks zu verbringen.“

      „Das war außergewöhnlich klug von Yao und ihr musstet seinem Befehl gehorchen!“

      „Kommandant, hätte Yao nicht so klug zu uns geredet, ich glaube, keiner von uns hätte seinem Befehl Folge leisten können.“

      „Was hat er denn gesagt?“

      „Er sagte, Kommandant, dass es nicht so wichtig sei, wer sterben wird und ob unser schönes Dorf niedergebrannt wird, wenn nur genügend junge Krieger und Mädchen übrig bleiben, um Pan-po aus seinen Trümmern neu entstehen zu lassen und es wieder von neuem mit Leben zu erfüllen.“

      „Yao, mein lieber Freund Yao. Ich bin dir so dankbar für deine kluge und weise Voraussicht“, flüstert der Kommandant unhörbar für die Ohren der vor ihm auf ihren Pferden sitzenden Krieger.

      „Im gleichen Atemzug danke ich dir, wie ich auch unserem Gott Shang-ti dafür danke, dass nicht durch meine Schuld Pan-po und alle seine Bewohner für alle Zeiten aus der Welt, aus unserem Teil der Steppe verschwunden sind.“

      „Wie geht es nun weiter Kommandant?“, wollen die jungen Krieger wissen. „Wir wollen gerne sterben, wenn wir dabei Vergeltung am Kaiser üben können.“

      „Seit ich euch habe“, lächelt der Kommandant, „ist alles viel leichter für mich geworden. Überall in der Steppe trifft man marodierende Soldaten des Kaisers, meistens schlecht versorgte Krieger, die sich unerlaubt aus der Armee des Kaisers entfernt haben. Wir werden sie jagen, einfangen, die besten von ihnen auswählen und mit ihnen eine kleine, aber ausgesprochen schlagkräftige Armee aufbauen.“

      „Sie sollen gute Schwertkämpfer und Bogenschützen sein, diese Krieger des Kaisers, Kommandant.“

      „Sie werden gute Krieger sein, meine Freunde, wenn ich sie ausgebildet habe. Auch ihr werdet von mir erst noch zu perfekten Kriegern ausgebildet. Das gilt auch für eure Mädchen. Am Ende der Ausbildung kämpft jeder von euch, Krieger oder Kriegerin, mit der Kriegslanze der Darr ebenso gut, wie die Darr und mit Schwert und Bogen werdet ihr es mit den besten Kriegern des Kaisers aufnehmen können. Ihr werdet lernen, im Umgang mit dem Feind hinterlistig und heimtückisch zu denken und zu handeln und nur gegen eure Freunde ehrlich und aufopferungsvoll und treu zu sein. Denn nur wer selbst hinterlistig und heimtückisch zu denken gelernt hat, kann Hinterlist und Heimtücke des Feindes erkennen und gegebenenfalls auch entgehen. Ihr werdet lernen, wie leicht es ist, ohne Waffe dem Feind großen Schaden zuzufügen, nur durch Lügen und Betrügen, durch Heimtücke und Hinterlist.

      Ihr werdet lernen, jedes Mittel zu wollen, dass euch zum Ziel führt. Mitleid werdet ihr nur noch für eure Freunde und eure Pferde verspüren und niemals werdet ihr jemandem so trauen, wie ihr lernen werdet, eurem Kommandanten zu trauen. Ihr werdet lernen, selbständig zu denken und zu handeln, wenn ihr im Feindesland auf euch allein gestellt seid. Und mit der gleichen Leichtigkeit, mit der ihr lebt, werdet ihr auch lernen zu sterben, wenn es nötig wird …“

      _

      Das Frühjahr weicht dem heißen Sommer und als auch diese Jahreszeit beginnt, dem Herbst zu weichen, beginnt die Jagd auf die marodierenden Krieger des Kaisers erste Früchte zu tragen. Unermüdlich trainiert der Kommandant die von ihm sorgfältig ausgewählten Krieger, die er gefangen hat. Er formt, er lobt und tadelt. Gibt den Kriegern des Kaisers, was der ihnen vorenthalten hat, gibt ihnen Anerkennung und Ehrgefühl, schenkt ihnen Vertrauen und empfängt Vertrauen. Macht Feinde zu Freunden, zu Kameraden, in deren Nähe kein Mädchen sich vor Gewalt und Schande fürchten muss, lehrt die Krieger Wahrheit und Ehre, aber auch Heimtücke und Hinterlist, Lug und Betrug als erlaubte Mittel im Krieg gegen den übermächtigen Feind…

      Als der Sommer sich seinem Ende zuneigt, befiehlt der Kommandant über eine zweihundert Krieger und Kriegerinnen zählende Kriegerelite, die längst begonnen hat, unter den über den Huang-ho vorgeschobenen militärischen Vorposten des Kaisers Unruhe zu stiften.

      „Ihr seid die Tod bringende Lanzenspitze einer Armee“, wendet sich der Kommandant an seine Krieger, „der nur noch der lange, schwere Schaft fehlt. Es gibt weder im Himmel noch hier unten bei uns Sterblichen bessere oder klügere Krieger als euch. Ich bin zwar euer Kommandant und ihr sollt meinen Befehlen gehorsam Folge leisten – in jeder anderen Hinsicht aber bin ich einer wie ihr, bin einer von euch.“

      _

      Weder dem Kommandanten noch den vielen anderen Bewohnern in dem Teil der Steppe, den der Huang-ho von drei Seiten im Westen im Norden und im Osten begrenzt, ist das Licht der magischen Sonne entgangen, das noch weit über die Grenzen hinaus, die der Lauf des Gelben Flusses zieht, dunkle Nacht in hellen Tag verwandelt hat.

      „Verdammt“, murmelt der Kommandant, „die Visionen erfüllen sich eine nach der anderen …“

      _

      „Mein lieber Wu“, flüstert der Magier, „die Achtbeinigen sind weg – und mit ihnen sind auch die Darr verschwunden. Es scheint überhaupt alles verschwunden zu sein. Wohin, bei allen Göttern, ist die Steppe verschwunden, die Sonne, das Licht, der blaue Himmel mit seinen weißen Wolken? Ist dies nicht alles unbegreiflich, mein Freund, ist es nicht zum Fürchten? Ach, du bist auch verschwunden und ich bin als einziger in der Leere zurückgeblieben, in die eben noch die Erde, die Steppe, meine Heimat, Himmel, Wolken und mein Wu eingebettet waren. Wo soll ich suchen, scheine ja selbst in Leere eingehüllt zu sein. Das ist die Rache der Gottheit.“

      „Hast du dies alles nicht schon einmal erlebt, diese Gespräche mit dir selbst, die unerreichbare Ferne von Dingen, die doch direkt vor dir zu sein scheinen, die nicht groß und nicht klein sind und die Unbeschreibbarkeit des Ortes und der Dinge in ihm?“

      „Ja, das kommt mir bekannt vor und ist doch irgendwie anders. Ich habe den Verstand verloren.“

      „Ja, falls du jemals Verstand besessen hast.“

      „Vielleicht bin ich auch nur in einer Umgebung, die für die Hände des Verstands nicht zu ergreifen