Norbert Böseler

Weckzeit


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aus. Wie auf Kommando erklang aus dem Keller das Intro von Vagabonds, ein Song ihrer Lieblingsband New Model Army. Nora zerrte Regina von dem Rasta-Mann weg und drängte mit ihr zur Kellertreppe. Sie stellten die Gläser ab und stürmten auf die Tanzfläche. Die Musik löste bei Nora pures Adrenalin aus. Sie bewegte sich ausgelassen zu dem harten Rhythmus des Liedes, wobei sie die Blicke der Männer auf sich zog. Lange blonde Haare rahmten ihr hübsches Gesicht ein. Ein enges Top und verwaschene Blue Jeans schmiegten sich an ihren perfekt geformten Körper. Noras hingebungsvoller Tanz mit geschmeidigen, rhythmischen Bewegungen faszinierte die anwesenden Jungs. Die beiden tanzten auch noch zu dem nächsten Lied, dann leerten sie ihre Gläser und bestellten an der Kellerbar ein neues Getränk. Nora erspähte viele bekannte Gesichter, Ulf sah sie jedoch nicht. Frustriert drehte sie an dem silbernen Ring, der auf ihrem rechten Mittelfinger steckte. Eine Angewohnheit, die Nora kaum wahrnahm und so nie wieder ausüben würde.

      Etwa zwei Stunden später verließen die beiden Freundinnen leicht angetrunken das Lokal.

      „Lass uns mit der S-Bahn fahren“, schlug Regina vor.

      Nora war einverstanden, woraufhin die beiden den nächstgelegenen S-Bahnhof ansteuerten. Nur wenige Leute befanden sich um diese Zeit auf dem Nachhauseweg. Die Straßenbahn war nur spärlich besetzt. In ihrem Abteil suchte ein Flaschensammler in aller Seelenruhe nach Pfandflaschen, die achtlose Fahrgäste zurückgelassen hatten. Nach drei Stationen stiegen die beiden jungen Frauen wieder aus. An der nächsten Ampelkreuzung trennten sich ihre Wege. Regina musste links die Hauptstraße überqueren, während Nora noch gut einen Kilometer bis zu ihrer Studentenwohnung vor sich hatte und der Straße folgen musste. Die Ampel zeigte auf Rot und die beiden jungen Frauen nutzten die Zeit, um sich mit einer innigen Umarmung voneinander zu verabschieden. Aus den Augenwinkeln sah Nora einen dunklen Lieferwagen, der ungewöhnlich langsam über die Kreuzung fuhr. Das grüne Männchen und der piepende Signalton der Ampel lösten die beiden Freundinnen aus ihrer Umarmung.

      „Ich ruf dich morgen an“, versprach Regina und eilte dann schnellen Schrittes über die Kreuzung. Nora winkte Regina kurz hinterher und setzte dann ihren Weg fort, den sie schon viele Male gegangen war. Nach etwa zweihundert Metern verengte sich die Straße und Nora kam an einem asphaltierten Bolzplatz vorbei, der von hohen Gittern umgeben war. Vor sich konnte sie schon die Eisenbahnunterführung erahnen. Als sie das öffentliche Fußballfeld passiert hatte, überquerte ein Zug mit lautem Getöse die Brücke. Die anschließende Stille wirkte auf Nora bedrückend, zumal sich kein Mensch auf der Straße befand. Im Schein der Straßenlaternen konnte sie ein Fahrzeug erkennen, das direkt vor der Unterführung parkte. Das helle Nummernschild hob sich deutlich von der dunklen Karosserie ab. Nora näherte sich mit unwohlem Gefühl in der Magengegend, obwohl sie eigentlich kein ängstlicher Mensch war. Bei dem abgestellten Fahrzeug handelte es sich um den dunklen Lieferwagen, der Nora schon an der Ampel aufgefallen war. Der Wagen hatte im Bereich der Ladefläche keine Fenster. Nora blickte sich um und machte einen weiten Bogen um das Fahrzeug. Sie sah zum Seitenfenster, konnte aber niemand hinter dem Steuer erkennen. Ohne es zu bemerken, hatten sich ihre Schritte automatisch beschleunigt, die jetzt laut durch die Unterführung hallten. Da die kurze Strecke unterhalb der Bahnschienen nicht beleuchtet war, schnürte aufkommende Panik Noras Magen nun vollends zusammen. Sie war kurz davor loszurennen, als sich eine dunkle Gestalt von dem Betonpfeiler löste und auf sie zugestürmt kam. Ein kräftiger Arm presste sich gegen ihren Brustkorb. Panisch trat Nora mit den Füßen um sich, doch der Angreifer hielt sie mit seiner stählernen Umklammerung fest. Nora wollte gerade nach Hilfe schreien, als ein feuchtes Tuch vor ihren Mund gedrückt wurde. Der durchtränkte Stoff raubte ihr die Luft zum Atmen, stattdessen inhalierte sie Dämpfe, die ihre Sinne benebelten. Nora spürte, wie ihre Kräfte schwanden, dann tauchte sie in eine lautlose Dunkelheit ab.

      1985

      Sie konnte den Tod nicht sehen, nicht hören und nicht fühlen, dennoch roch sie seine Gegenwart. Der Duft des Todes umgab sie wie eine finstere Wolke, sie aber blieb ahnungslos. Falls sie auf den Schalter drücken sollte, würde er sie in seine Arme schließen.

      ***

      Das Leben hatte es nicht gut mit ihnen gemeint. Warum sollte es so früh enden? Musste es jetzt überhaupt enden? Doch Renate und Franz hatten einen Entschluss gefasst. So schwer der Weg auch schien, sie wollten ihn gemeinsam gehen. Renate war im vergangenen Jahr schwer erkrankt. Darmkrebs lautete die niederschmetternde Diagnose – weit fortgeschritten und unheilbar. Starke Medikamente begleiteten sie über den Tag und machten die Schmerzen einigermaßen erträglich. Sie bestand nur noch aus Haut und Knochen, wog gerade mal vierzig Kilo. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie im Bett, doch Schlaf fand sie kaum. Franz, ihr Ehemann, zerbrach an Renates Krankheit. Er litt an Depressionen, die er nicht mehr in den Griff bekam. Zum einen konnte er den Zustand seiner Frau nicht mehr ertragen, zum anderen stand er vor dem Nichts. Die beiden hatten Schulden, die ihre Zukunft zerfraßen wie die Krebszellen Renates Körper. Der landwirtschaftliche Betrieb, der Mittelpunkt ihres Lebens, stand vor dem Bankrott und musste verkauft werden. Für Franz war damals ein Jugendtraum in Erfüllung gegangen, als er den Hof von seinen Eltern übernehmen durfte. Die hatten sich daraufhin in die Stadt zurückgezogen, um ihren Ruhestand zu genießen. Nach mehr oder weniger erfolgreichen Jahren stürzte der Hof unaufhaltsam in eine verheerende, finanzielle Krise. Ein Großteil der Rinder war bereits verkauft worden, doch das Geld bekamen sie nie zu Gesicht. Franz sah keine Perspektiven mehr, dachte immer häufiger an Selbstmord. Bis vor kurzem konnte Renate ihm diese düsteren Gedanken noch austreiben, doch nun hatte sie die Kraft dazu verloren. Sie konnte ihrem Mann keinen Lebensmut mehr einhauchen, da ihr eigener sie langsam verließ. Einzig die beiden Kinder hatten ihren Willen zu leben noch aufrecht gehalten. Johanna, die siebenjährige Tochter sprühte nur so vor Lebensfreude. Um sie brauchte sich Renate keine Sorgen machen. Auch wenn das Schicksal sie hart treffen würde, sie käme bei den Großeltern unter und würde ein anderes Leben beginnen können. Sorgen bereitete Renate der elfjährige Junge. Er war äußerst labil und könnte an solch einer Tragödie zerbrechen. Er wollte nicht wahrhaben, dass seine Mutter so schwer erkrankt war. Jeden Tag fragte er sie, ob sie wieder gesund werde. Und als Renate die Frage eines Tages verneinte, rannte er weinend in sein Zimmer und schloss sich ein. Er konnte sich schwer von etwas trennen. Selbst wenn Rinder zum Schlachten gebracht wurden, weinte er tagelang. Was sollte aus ihm werden, wenn er von seinen Eltern getrennt wurde? Würde er sich jemals wieder fangen? Renate und Franz konnten es nur hoffen, denn sie hatten eine Entscheidung gefällt. Franz hatte seiner Frau unmissverständlich verdeutlicht, dass er ohne sie nicht leben könne. Wenn sie nicht mehr da sei, würde er sich früher oder später das Leben nehmen. Daran hegte er keinen Zweifel. Renate sah in seine Augen, die pure Verzweiflung widerspiegelten, dass er es ernst meinte. Ende letzter Woche stimmte sie seinem Plan zu. Sie kam zu der Überzeugung, dass dieser letzte Schritt für alle das Beste sei. Sie malten sich alle möglichen Szenarien aus, wobei in ihrer Ausweglosigkeit die positiven Aspekte für einen Freitod eindeutig überwogen. Für die Kinder würde gesorgt werden, sie würden nicht alleine sein, dessen waren Renate und ihr Mann sich sicher.

      Franz traf alle Vorkehrungen. Er hatte fünf Gasflaschen im Haus verteilt. Eine im Wohnzimmer, eine in der Küche und die anderen drei im Schlafzimmer. Zudem hatte er den elektrischen Heizlüfter an eine Zeitschaltuhr gekoppelt und den Timer auf zwölf Uhr gestellt. Die Kinder würden eine Stunde später aus der Schule nach Hause kommen. Sie sollten ihre Eltern nicht tot im Bett vorfinden, diesen Anblick wollten sie ihnen ersparen. Wenn die beiden nach Hause kämen, würde das Wohnhaus nicht mehr existieren und die Rettungsdienste würden sich um die Kinder kümmern. Außerdem wollte Franz nichts hinterlassen. Nichts für die Bank, nichts für die Kinder. Alle persönlichen Gegenstände, die in den Kindern Erinnerungen wachrufen könnten, sollten in den Flammen zu Asche verglühen. Die beiden Kinder mussten vergessen, Erinnerungen durften ihrem Neuanfang nicht im Wege stehen. So sehr sie auch mit sich gerungen hatte, letztendlich tolerierte Renate den Wunsch ihres Mannes. Die Kinder sollten nicht zurückblicken müssen. Was vor ihnen lag, würde all ihre Kraft beanspruchen.

      Renate und Franz gingen ins Bad, wo beide Schlaftabletten zu sich nahmen. Franz drehte die Gasflaschen in der Küche und im Wohnzimmer auf. Renate wartete im Flur auf Franz, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Als Franz auf sie zukam, musste sie sich