Norbert Böseler

Weckzeit


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ließ sie sich aufs Bett nieder und legte sich hin. Franz drehte die Ventile der drei restlichen Gasflaschen auf, kontrollierte nochmal die Zeitschaltuhr und legte sich anschließend zu seiner Frau aufs Bett. Renate öffnete das Nachtschränkchen und holte einen Rosenkranz hervor. Sie legte ihn in die offene Hand und wandte sich ihrem Mann zu. Er griff nach ihrer Hand mit dem Rosenkranz und umschloss sie sanft. Dann gab er seiner Frau einen letzten Kuss, wobei ihm eine Träne des Abschieds über die Wange rann. Beide lagen im Schlafzimmer und starrten an die Decke, wo vor ihren Augen Bilder aus einer glücklichen Vergangenheit abliefen, die sie nicht wiederbeleben konnten. Das Ehepaar würde ihre Kinder nie wieder wiedersehen. Renate und Franz warteten darauf, dass die Bilder erloschen. Voller Wehmut hofften sie auf die baldige Erlösung.

      ***

      Johanna saß frohgelaunt im Bus und unterhielt sich angeregt mit ihrer Freundin. Die letzten beiden Stunden waren heute ausgefallen, da die Deutschlehrerin erkrankt war. Als der Schulbus anhielt, verabredete Johanna sich noch schnell mit ihrer Freundin und stieg dann aus. Den Rest des Weges musste sie zu Fuß bewältigen. Der Hof lag weit abseits der Wohnsiedlung hinter einem kleinen Wald verborgen. Ein mit Schotter befestigter Weg führte links von der Landstraße ab, dem musste sie knapp vierhundert Meter folgen, um nach Hause zu gelangen. Rechts und links flankierten Maisfelder den Weg. Die Pflanzen ragten so weit in die Höhe, dass Johanna sie nicht überblicken konnte. Sie schippte einen Stein vor sich her und als er im hohen Gras am Wegesrand verschwand, suchte sie sich einen neuen Schotterstein. Ein einziges Mal hatte sie es bislang geschafft, mit nur einem Stein den Hof zu erreichen. Dabei hatte sie für die Strecke die doppelte Zeit benötigt, weil sie sich voll und ganz auf ihre Schusstechnik konzentriert hatte. Heute ging sie zügig, ihr war egal, wohin die kleinen Steinchen rollten. Vor ihr endeten die beiden Maisfelder und sie erreichte den Wald, der ausschließlich aus Laubbäumen bestand. Von hieraus war es nicht mehr weit. Kurze Zeit später sah sie das Wohnhaus. Johanna wunderte sich, weil es auf dem Hof so still war. Normalerweise arbeitete ihr Vater um diese Zeit im Stall, der sich noch ein Stück weiter hinter dem Haus befand. Jetzt hörte sie keine Geräusche, selbst die Türen waren alle verschlossen. Bestimmt hilft er Mama im Haus, dachte Johanna und ging unbekümmert zur Eingangstür. Die Tür war abgeschlossen, was ebenfalls ungewöhnlich war. Johanna nahm die Schultasche ab und bückte sich zu dem Blumentopf, der auf dem Treppenstein stand. Darunter lag für den Notfall ein Haustürschlüssel. Klingeln wollte sie nicht, falls ihre Mutter schlief. Johanna schob den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Sie stellte die Schultasche im Windfang ab und ging dann durch eine zweite Tür in den Flur. Sie bemerkte sofort den komischen Geruch. Er stieg beißend in ihre Nase auf und füllte Johannas Augen mit Tränen. Ihre Mutter hatte in der Küche sicherlich wieder etwas anbrennen lassen, glaubte Johanna, das kam in letzter Zeit häufiger vor. Sie rief einmal nach ihren Eltern, erhielt jedoch keine Antwort. Der Flur war fensterlos, nur wenig Licht fiel durch die Verglasung der Haustür. Johanna begann zu husten und hielt sich die Hand vor den Mund. Mit der anderen Hand tastete sie nach dem Lichtschalter. Sie legte ihre kleinen Finger auf die Wippe und drückte sie nach unten.

      2004 / 2

      Stelze waren die beiden jungen Frauen schon von Weitem aufgefallen. Sie standen an der Ampel, und schienen sich voneinander verabschieden zu wollen. Als Stelze sich langsam der Ampel näherte, fing sein Herz laut an zu pochen. Die ganze Nacht war er durch die Stadt gefahren, auf der Suche nach einem Opfer, auf der Suche nach jemand, der sich von etwas trennen sollte. Vor zwei Tagen hatte ihn wieder dieses bedrückende Gefühl übermannt. Wenn er nur daran dachte, wurde er es nicht mehr los. Je länger er es mit sich herumtrug, umso intensiver wurde es. Es hatte sich im Laufe der letzten Jahre zur Sucht entwickelt. Dieses Gefühl, dieser aufkommende Zwang, es tun zu müssen. Er hatte gelernt, seinem Gefühl schnell Folge zu leisten, bevor es ihn krank machte. Vor Jahren wäre er fast daran zerbrochen. Viele schlaflose Nächte lagen hinter ihm, weil er sich nicht überwinden konnte. Nun machte es ihm sogar Spaß. Nicht, dass es ihn sexuell erregte, doch es befriedigte in gewisser Weise sein Selbstwertgefühl. Danach ging es ihm wesentlich besser. Die quälenden Kopfschmerzen blieben aus. Früher hatte er immer so lange gewartet, bis er die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte. Heute gab er sich dem Zwang gleich hin, er konnte sich der Sucht ohnehin nicht entziehen. So bereitete er sich schon bei den ersten Anzeichen in aller Ruhe vor. Die Zeitabstände, in der ihn die Vergangenheit einholte, wurden immer geringer. Das Gefühl der Trauer lag fest in seinem tiefsten Inneren verwurzelt. Damals musste er sich von etwas trennen, was niemand jemals ersetzen könnte. Er hatte sich gewissermaßen von seinem Leben getrennt. Nur die eine Hälfte in ihm konnte ein gewöhnliches Leben führen, der andere Teil kämpfte mit dem Trennungsschmerz, den die Vergangenheit hinterlassen hatte. Seine wahre Persönlichkeit konnte er nur entfalten, wenn ein Auserkorener einen Teil seiner selbst abgab, wenn diese Person etwas opferte. Der Mann, der nur auf diese Art und Weise seine Vergangenheit bewältigen konnte, wurde von Kindheit an Stelze genannt und näherte sich langsam der Kreuzung.

      Die Ampel zeigte auf Rot. Stelze stoppte den Lieferwagen, sah dann in Richtung der beiden Frauen, wobei sich sein Magen zusammenzog, als die Blonde mit den langen Haaren kurz zu ihm herüberblickte. Sie konnte nicht viel erkennen, dessen war sich Stelze sicher, außerdem trug er eine Perücke, die sein Aussehen erheblich veränderte. Doch eins wurde ihm in diesem Augenblick bewusst, sie würde es sein, die seine innere Unruhe besänftigen sollte. Er griff die Opfer nie wahllos auf. Etwas in ihm wusste genau, welche Person für sein Vorhaben in Frage kam. Die Ampel sprang auf Grün. Stelze ließ den Wagen langsam anrollen. Im Rückspiegel beobachtete er, wie die eine Frau die Kreuzung überquerte und die blonde Frau daraufhin weiter der Straße folgte. Soweit er erkennen konnte, fuhr kein weiteres Fahrzeug hinter ihm. Er vergewisserte sich noch einmal, ob die junge Frau auch weiterhin in seine Richtung ging. Nun musste er nach einer geeigneten Stelle Ausschau halten, die sich in unmittelbarer Nähe befand. Sein Opfer könnte jederzeit die Straßenseite wechseln. Vor ihm tauchte die Eisenbahnunterführung auf. Stelze sah nochmal kurz in den Rückspiegel. Die Frau befand sich noch außer Sichtweite. Er stoppte den Wagen direkt vor der Unterführung und stellte den Motor ab. Stelze holte aus dem Handschuhfach eine luftdicht verschlossene Plastikdose, öffnete sie und entnahm das mit Chloroform getränkte Tuch. Eilig griff er nach der Sturmhaube, die auf dem Beifahrersitz lag, und stieg aus. Er sah sich hastig nach einem geeigneten Versteck um und entschied sich für eine Betonsäule, die kurz vor dem Ende des kurzen Tunnels stand. Hinter der runden Säule stehend blickte er die Straße entlang. Tatsächlich tauchte die Frau in seinem Sichtfeld auf. Stelze hoffte nur, dass ihr niemand folgte, oder ein Auto in diese Richtung fuhr. Er brauchte nur wenige Minuten, wenn alles reibungslos verlief. Nur wenige Minuten, in denen er ungestört bleiben musste. Die junge Frau näherte sich der Brücke. Als sie den Lieferwagen erreichte, wich sie über die Straße aus. Sie ging einen weiten Bogen und beschleunigte ihre Schritte. Stelze stülpte die Sturmhaube über seinen Kopf. Ein letzter Blick nach rechts und links, niemand war zu sehen. Als die Frau die Betonstütze passierte, sprang er mit wenigen Schritten auf zu. Er bekam sie gleich fest in den Griff, presste ihren Oberkörper gegen seine Brust und hielt ihr das Tuch vor den Mund. Er hatte es so dosiert, dass das Chloroform möglichst schnell wirkte. Die blonde Frau trat mit den Füßen nach ihm und traf mehrfach sein Schienbein. Doch ihre Gegenwehr ließ schnell nach. Von einem Moment zum anderen erschlaffte ihr Körper in seinen Armen. Stelze schleifte die Frau zum Lieferwagen. Die Sturmhaube klebte an seinem verschwitzten Kopf. Mit einer Hand öffnete Stelze die Heckklappe des Transporters. Er griff um Oberkörper und Beine der Frau und wuchtete sie auf die Ladefläche. Dann stieg er selber ein und positionierte den leblosen Körper auf der rechten Seite der Ladefläche. Er nahm eine Decke zur Hand, womit er sein Opfer verhüllte. Mehrere Umzugskartons, die mit alter Kleidung befüllt waren, verteilte er wahllos im Frachtraum. Zwei dieser Kartons verkeilte er auf der bewusstlosen Frau. Außerdem öffnete er eine große Tüte mit Weingummis und warf sie auf die Decke. Wenige Augenblicke später schloss er die Klappe des Transportes und setzte sich ans Steuer. Stelze riss schwer schnaufend die schweißdurchtränkte Haube vom Kopf und griff hinter den Fahrersitz. Dort befand sich eine kleine Gasflasche, dessen Ventil er öffnete. Ein dünner Schlauch führte nach hinten. Das Chloroform-Sauerstoff Gemisch sollte ihn vor unangenehmen Überraschungen bewahren. Den süßlichen Duft im Fahrzeuginneren konnte er erklären, wenn es sein musste. Stelze öffnete eine weitere Tüte Gummibärchen,