Norbert Böseler

Weckzeit


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zwei kleine Kommoden und diverse Lampen. Eine Nachttischlampe! Der Groschen war gefallen. Anja beschwerte sich ständig über ihre moderne Lampe am Bett. Den weit ausschweifenden Leuchtmittelträger hatte sie schon einige Male versehentlich zu Boden befördert. Außerdem konnte sie sich für alte Sachen begeistern, sie ließ keinen Flohmarkt in unserer Nähe aus. Eine antike Lampe hatte sie meines Erachtens nach nie erworben. Vor der massiven Eingangstür befanden sich zwei Stufen. Ich setzte den Gehstock auf die erste Schwelle und ließ mein künstliches Bein folgen. Eigentlich benötigte ich den Stock nicht, doch er vermittelte mir in gewisser Weise Sicherheit. Ich drückte die Klinke nach unten und schob die schwere Tür auf. Über meinem Kopf erklang ein Glockenspiel. Ich schloss die Tür hinter mir, woraufhin es erneut anfing zu Bimmeln. Es roch in dem Laden irgendwie muffig, was an den Teppichen liegen konnte, die in verschiedensten Farben und Formen den Boden bedeckten. Nur an wenigen Stellen lugten alte Bodendielen hervor. Durch eine Nebentür betrat ein älterer Mann den Raum, wahrscheinlich vom Glockengeläut aufgeschreckt, denn er sah aus, als habe er gerade ein Nickerchen gehalten. Die gräulichen Haare standen wirr vom Kopf ab und er versuchte, sie mit den Händen zu glätten, als er auf mich zuging. Er setzte eine Brille auf, die an einem Lederband um seinen Hals hing.

      „Wie kann ich Ihnen behilflich sein“, fragte er mich, wobei er mit den Fingern über seinen gepflegten Schnauzbart wischte.

      „Mir sind die Lampen im Schaufenster aufgefallen, die ich mir gerne näher ansehen möchte“, erwiderte ich.

      „Sehr gerne. Ich hole sie, dann können Sie sie sich in aller Ruhe anschauen. Es sind wirklich ein paar schöne Stücke dabei. Wenn Sie weiter nach rechts gehen, finden Sie auf der großen Kommode noch weitere Lampen“, meinte der Verkäufer und verschwand durch eine Luke im Schaufensterbereich.

      Ich folgte seiner Anweisung und wandte mich nach rechts. Nur wenige Schritte weiter stand ich vor besagter Kommode, die aus dunkel gebeiztem Holz geschreinert worden war. Zwei Nachttischlampen standen auf dem Schränkchen, die mir beide nicht wirklich zusagten. Mein Augenmerk richtete sich viel mehr auf den Wecker, der ganz Linksaußen stand. Die Faszination, die von dem antiken Glockenwecker ausging, nahm mich gleich gefangen. Das Gehäuse bestand aus mattem Messing. Die beiden ebenfalls aus Messing gefertigten Glocken hingegen glänzten im Licht der nebenstehenden Lampe. Beide Glocken waren mit einem Bügel verbunden. Das beigefarbene Zifferblatt hatte einen arabischen Zifferring mit dunklen Minutenstrichen. Der Stunden - und Minutenzeiger schienen aus Kupfer geformt zu sein, während der schlanke Sekundenzeiger wiederum aus Messing gefertigt war. Das hammerförmige Schlagwerk ruhte zwischen den Glocken und hatte auf deren Innenseite punktuelle Spuren hinterlassen. Das Glas des Weckers wies einige Kratzer auf. Vorne stützten zwei kleine abgespreizte Beine den Wecker ab, hinten ruhte der runde Korpus auf der Kommode. Die nostalgische Uhr schien eine magische Ausstrahlung zu haben. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Je länger ich ihn ansah, umso mehr hatte ich das Gefühl, dass mit dem Wecker etwas nicht stimmte. Etwas war anders, nur erkannte ich es nicht auf Anhieb. Ähnlich, wie wenn man vier gleiche Bilder vor sich hat und bei einem ist ein Fehler versteckt. Oftmals findet man ihn erst nach minutenlangem Hinsehen. Dann, wenn man den Unterschied entdeckt hat, ist er so offensichtlich, dass man sich wundert, warum man es nicht gleich erkannt hat. So in etwa ging es mir mit dem antiken Wecker, doch dann fiel wieder der berühmte Groschen, der mich in das Geschäft geführt hatte. Der Sekundenzeiger barg den Fehler in sich. Wahrscheinlich auch die beiden anderen Zeiger, nur konnte man das in der kurzen Zeitspanne nicht erkennen. Der Sekundenzeiger lief eindeutig rückwärts. Ich wollte gerade nach dem Wecker greifen, als der Verkäufer auf mich zukam. Im Arm trug er drei Lampen.

      „Der Wecker ist nur Dekoration! Möchten Sie sich jetzt die Lampen ansehen?“

      Er stellte die Lampen auf einen Tisch, der links von der Kommode stand. Ich sah mir alle drei genau an. Eine, mit aus gedrechseltem Eichenholz bestehender Säule, fand ich sehr schön. Der Schirm war aus hauchdünnem Schweinsleder, fein mit geschwungenen Mustern bestickt. Eine goldfarbene Kordel rundete den oberen und unteren Rand ab.

      „Was wollen Sie für diese Lampe haben?“, fragte ich.

      „180 Euro!“

      „Ist das nicht ein wenig happig?“

      „Echte Handarbeit, etwa fünfzig Jahre alt, unter dem kann ich sie nicht herausgeben“, beschwor der Verkäufer, der nun hellwach zu sein schien.

      „Was ist, wenn ich den Wecker dazu nehme, können Sie mir dann mit dem Preis entgegenkommen?“, wollte ich wissen.

      „Wie bereits gesagt, der Wecker ist eigentlich nur Dekoration und nicht zu verkaufen! Warum interessieren Sie sich für den Wecker?

      „Ich finde ihn ausgesprochen schön, würde gut zur Lampe passen.“

      „Das ist alles, Sie finden ihn nur schön? Das glaube ich Ihnen nicht. Meinen Sie nicht, der Wecker ist etwas Besonderes? Ihre Augen, wie Sie ihn ansehen, sagen mir, dass Sie es wissen. Ich glaube sogar, der Wecker hat Ihnen schon einmal gehört, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich glaube, Sie haben ihn mir vor die Tür gelegt und wollen ihn nun zurückhaben“, schloss der Antiquitätenhändler und sah mich mit fragendem Blick an.

      Der Mann wurde mir langsam unheimlich.

      „Ich habe noch nie solch einen Wecker besessen, ganz zu schweigen davon, dass ich ihn vor Ihrer Tür abgelegt haben soll. Wann soll denn das gewesen sein und wie kommen Sie überhaupt auf diese absurde Behauptung?“

      „Das ist jetzt fast zehn Jahre her. Am Tag vor Heiligabend 2005. Der Wecker wurde mir hier auf dem Weihnachtsmarkt, direkt vor der Lambertikirche, angeboten. Der Preis, den die Frau für den Wecker verlangte, war völlig überzogen. Ich lehnte ab, daraufhin beschimpfte sie mich. Ob ich den Wert des Weckers nicht erkennen würde, sie ließe sich nicht über den Tisch ziehen und so weiter. Ich wandte mich ab und ging nach Hause. Am Abend habe ich einen Mann dabei beobachtet, wie er einen Karton mit dem Wecker vor meiner Tür abstellte. Das Gesicht konnte ich nicht erkennen, es war dunkel und er trug eine Mütze. Doch der Mann hatte die gleiche Statur wie Sie und er hatte genauso einen Handstock wie Sie ihn haben“, erklärte der Verkäufer und deutete demonstrativ auf meinen Stock.

      „Soweit ich mich erinnern kann, war ich derzeit nicht in der Stadt. Ganz sicher ist jedoch, dass ich damals noch keinen Gehstock benötigt habe. Ich verstehe nicht, warum Sie mir solche Hirngespinste erzählen, nur, weil ich mich für diese Uhr interessiere.“

      „Sie wollen diesen Wecker, das wusste ich bereits, als ich Sie vor der Ladentür gesehen habe. Ihnen ist aufgefallen, dass die Zeiger rückwärtslaufen? Als Sie ihn mir vor Jahren gebracht haben, ging er noch richtig. Soll ich Ihnen sagen, an welchem Tag sich das geändert hat?“

      Ich sah den Mann an und nickte.

      „Am 4. Juli 2006. Warum ich das so genau weiß, fragen Sie sich jetzt bestimmt. An dem Tag endete das Sommermärchen. Unsere Nationalmannschaft verlor im Halbfinale 2:0 gegen Italien. Aus lauter Frust habe ich mich an diesen Tisch gesetzt und mich betrunken. Doch ich war noch völlig nüchtern, als ich erkannte, wie der Wecker plötzlich rückwärtsging. Ich habe ihn angestarrt und plötzlich änderte der Sekundenzeiger die Richtung“, erläuterte der Mann und sah mich an. „Ist Ihnen nicht gut?“

      Ich umgriff krampfhaft den Knauf des Stockes und stützte mich mit der anderen Hand am Tisch ab. Mir wurde schwindelig. Tausend Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Der 4. Juli 2006! Der Tag, der mein Leben verändert hatte. Der Tag, an dem ich diesen schrecklichen Unfall hatte. Der Tag, an dem unsere Tochter verschwunden war. Der Tag, an dem ich mein Bein verloren hatte.

      „Sie haben ja keine Farbe mehr im Gesicht! Soll ich Ihnen etwas zu trinken holen?“

      „Nein danke, geht schon. Was ist jetzt mit dem Wecker, verkaufen Sie ihn mir oder nicht?“, wollte ich bloß wissen, nichts schien mir wichtiger.

      „Da Ihnen so viel daran gelegen ist, können Sie ihn haben. Anscheinend habe ich ihn nur für Sie aufbewahrt, warum auch immer. Geben sie mir 200 Euro und Sie können beides mitnehmen. Den Glockenwecker braucht man übrigens nicht mehr aufziehen, er bleibt seit dem Richtungswechsel nicht mehr stehen. Ich wickle die Sachen noch ein und gebe Ihnen eine große Tüte