Norbert Böseler

Weckzeit


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ich weiter in mein Schlafzimmer. Anja und ich hatten getrennte Schlafzimmer. Zum einen, weil wir häufig unterschiedliche Schlafzeiten hatten, zum anderen, weil unser Liebesleben, unsere Zweisamkeit, nicht mehr so harmonisch verlief wie zu glücklicheren Zeiten. Sex hatten wir nur noch selten, meistens trieb uns der Frust gemeinsam ins Bett. Dann gaben wir uns der Hemmungslosigkeit hin, die uns für den Moment aus der grauen Realität entfliehen ließ. Anfänglich hatte Anja Probleme mit meiner Verstümmelung, was ich ihr nicht verdenken konnte, doch mit der Zeit gewöhnte sie sich an den Anblick. Aus Liebe, Zuneigung, oder aus purer Lust wurden wir so gut wie nie intim. Nicht, dass wir uns nicht mehr liebten, doch der Keil, der zwischen uns getrieben worden war, saß fest verankert. Nur die Gewissheit über den Verbleib unserer Tochter konnte ihn lösen. Ich stellte den Wecker auf die Nachtkonsole, die seitlich am Kopfteil des Bettes fest integriert war. Er wirkte auf dem dunkel gebeizten Holz optimal, so als stände er dort schon seit Jahrzehnten. Ich setzte mich auf den Stuhl neben dem Bett, stellte die Krücke an die Wand, und schälte mich aus dem Bademantel. Nachdem ich T-Shirt und Shorts angezogen hatte, hüpfte ich die drei Schritte auf einem Bein zum Bett und kroch unter die Bettdecke. Ich schaltete die Nachttischlampe an, die neben dem Wecker stand, knipste dann mit der Fernbedienung die Schlafzimmerbeleuchtung aus. Mein Blick verfolgte fasziniert den linksherumlaufenden Sekundenzeiger. Ich verglich die angezeigte Uhrzeit mit meiner Armbanduhr. Sie stimmte natürlich nicht überein. Der Wecker zeigte auf 4:30 Uhr, vielleicht handelte es sich auch um 16:30 Uhr, meine Armbanduhr hingegen wies auf 22:30 Uhr. Obwohl ich eigentlich ein nachtaktiver Mensch war, der lieber spät schlafen ging und am Morgen gerne länger im Bett blieb, fühlte ich mich müde. Ich schaltete das Licht aus, drehte mich auf den Rücken, und lauschte. Durch die absolute Stille des Raumes drang ein leises, beruhigendes Ticken in mein Ohr. Es tickte, tickte, tickte..., irgendwann schlief ich ein.

      2005

      Es tickte im Sekundentakt, plötzlich fing es an zu läuten. Verschlafen schlug ich die Augen auf und tastete nach dem Wecker. Ich peilte den Bügel an, der die beiden Glocken miteinander verband und drückte ihn behutsam nach unten. Das Klingeln verstummte, der kleine Bolzen kam zum Stillstand. Instinktiv rieb ich mir die Augen. Tageslicht durchflutete den Raum. Bevor ich die Umgebung wahrnahm, bemerkte ich den modrigen Geruch. Feuchte, abgestandene Luft, die nach Schimmel roch, drang in meine Nase. Ich starrte nach oben. Die weiß gestrichene Decke war mit graugrünen Flecken benetzt. Ich schlug die Bettdecke zurück und richtete mich auf. Eisige Kälte verursachte auf meinen Armen eine Gänsehaut. Ein ganz anderer Schauder lief mir über den Rücken, als ich mich umsah. Ein völlig leeres Zimmer präsentierte sich mir. An den Wänden hingen alte vergilbte Tapeten. Helle, rechteckige Stellen zeichneten sich ab, an denen Bilder gehangen haben mussten. Anstatt Parkett bedeckte ein grauer, muffig riechender Veloursteppich den Boden. Es gab keine Gardinen vor dem Fenster. Nur die Kassettentür aus Eichenholz erinnerte an mein Schlafzimmer. Das einzige Möbelstück, was sich in dem Raum befand, war mein Bett, in dem ich wie versteinert aufrecht saß. Zuerst dachte ich an einen Traum, doch ich war hellwach, spürte die Kälte, roch den unangenehmen Geruch. Aus reiner Verzweiflung kniff ich mir in den Unterarm. Es tat weh. Ich war tatsächlich wach. Ich drehte mich zur Nachtkonsole. Lampe und Wecker standen wie zuvor nebeneinander, doch das Kabel der Lampe lag auf dem Boden. Ein Blick zur Wand zeigte mir, dass die Steckdose fehlte. Ich erinnerte mich, dass in unserem Haus viel zu wenig Steckdosen angebracht waren und wir in dieser Hinsicht kräftig nachrüsten mussten. Unter anderem hatten wir neben meinem Bett eine Dreifachdose installiert, die nun nicht mehr da war. Wie der Kleiderschrank, der Stuhl und vor allen Dingen meine Krücke nicht mehr vorhanden waren. Ich blickte auf den Wecker. Was mir diesmal sofort auffiel, war, dass der Sekundenzeiger sich in die richtige Richtung bewegte, er lief vorwärts. 11:05 Uhr zeigte der Wecker an. Meine Armbanduhr wies auf exakt die gleiche Zeit. Sollte ich etwa zwölf Stunden geschlafen haben? Unmöglich schien das nicht. Doch die Umstände, unter denen ich aufgewacht war, verursachten bei mir großes Unbehagen. Ich rutschte zur Bettkante, widerwillig setzte ich meinen Fuß auf den verschmutzten Teppich. Ich wollte zum Fenster, welches sich rechts vom Bett befand. Mühsam wuchtete ich mich hoch, machte einen kurzen Satz zur Wand, wo ich mich mit der Hand abstützte. So hangelte ich mich an der Wand entlang bis zum Fenster. Vor mir bot sich ein bekannter Anblick, nur mit dem Unterschied, dass der Kirschenbaum, der am Ende des Rasens stand, erheblich kleiner war als gestern.

      Schritt für Schritt hüpfte ich weiter bis zur Schlafzimmertür. Als ich sie öffnete, schlug mir ein noch intensiverer Geruch entgegen. Es roch nach Katzenurin. Auch der Flur war mit Teppichbelag ausgelegt. An der Decke hingen noch die hässlichen Kunststoffpaneele, die wir gleich zu Beginn der Umbauten rausgerissen hatten. Ich öffnete die nächste Tür und sah in das karge Schlafzimmer meiner Frau. Auch hier, Teppich und keine Möbel. Ich ging weiter durch den Flur, wollte zum Bad, da ich auf die Toilette musste. Schwer schnaufend erreichte ich die Tür. Als ich die Klinke drückte, musste ich feststellen, dass die Tür zu allem Überfluss auch noch klemmte. Erst als ich mich mit der Schulter dagegenstemmte, flog sie auf, dabei verlor ich den Halt und fiel zu Boden. Gottseidank konnte ich den Sturz mit der Hand etwas abfangen. Ich robbte zum Waschbecken, wo ich mich wieder hochzog. Ich erledigte mein Geschäft, anschließend drückte ich die Spülung. Nur sparsam tröpfelte bräunliches Wasser in die Kloschüssel. Auch aus dem Kran des Waschbeckens strömte zunächst rostbraunes Wasser. Erst als es hell und klar wurde, wusch ich mir die Hände und das Gesicht. Das Bad hatten wir nach meinen Ansprüchen umgestaltet. Hier sah es so aus, wie ich es bei meiner damaligen Begutachtung vorgefunden hatte. Die Dusche bestand noch aus einer Wanne mit hohem Einstieg. Der Duschvorhang, der zwischen Kabine und Wand hing, erregte meine Aufmerksamkeit, vor allem die Stange, wo der Vorhang mittels Ringe eingefädelt worden war. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand, griff nach dem Vorhang und zog ihn nach unten. Immer wieder zerrte ich ruckartig an der bunten PVC Folie. Erst nachdem zwei Ösen abgerissen waren, fiel die Stange herunter. Fast wäre ich dabei bäuchlings in die Wanne gefallen, doch diesmal konnte ich einen Sturz vermeiden. Die verbleibenden Ringe fädelte ich aus. Es handelte sich um eine Teleskopstange, deren Länge man individuell einstellen konnte. Ich hielt das Aluminiumrohr fest umklammert und drehte die eine Hälfte nach links. Mir schmerzten schon die Hände, als die Spannung sich endlich löste. Ich stellte die Stange auf die passende Länge ein und spannte die beiden Enden, so fest ich konnte. Nun hatte ich zumindest einen provisorischen Gehstock. Da ich mir angewöhnt hatte, mit nur einer Krücke zu gehen, müsste es funktionieren. Ich stützte mich auf der runden Stange ab und hüpfte mit kurzen Sprüngen zurück in den Flur. Ich sah in jedes Zimmer, überall bot sich mir das gleiche Bild. Alle Räume waren leer. Zum Schluss bewegte ich mich in den Eingangsbereich. In dem kleinen Flur hinter dem Windfang befanden sich noch zwei weitere Türen. Die fürs Gäste-WC und die, die in den Keller führte. Die Kellertür stand einen Spalt weit offen. Ich öffnete sie ganz und zuckte erschrocken zusammen. Aus dem dunklen Treppenloch blickten mir zwei goldfarbene Augen entgegen. Sie bewegten sich hin und her und sprangen plötzlich auf mich zu. Ich wich zurück, dabei wäre ich fast schon wieder gefallen. Eine kleine Katze stieß gegen mein Bein. Sie fing gleich an zu schnurren und drückte ihren schlanken Körper immer wieder gegen mein Bein. Die Katze war schwarz, mit weißen Hinterbeinen und weißen Vorderpfoten. Auch der untere Hals und der Brustkorb zeichneten sich mit einer weißen Blesse vom Fell ab.

      „Lucky?“, wich es über meine Lippen.

      Während der Renovierungsarbeiten streunte eine ausgewachsene Katze um unser Grundstück, die genau so aussah, wie diese. Ab und an wagte sie sich ins Haus und war besonders mir gegenüber sehr zutraulich gewesen, so als würde sie mich bereits kennen. Kurz nach unserem Einzug holte ich sie gegen Anjas Willen ins Haus. Wir nannten die Katze fortan Lucky. Sie fühlte sich gleich heimisch. Meine Frau war hinterher diejenige, die die meiste Zeit mit der Katze verbrachte. Vor etwa drei Jahren fand ich sie tot auf einem Acker hinter unserem Grundstück. Sie war von Schrotkugeln durchsiebt worden.

      Ich spähte noch kurz durch die Butzenscheibe der Haustür. Das Wetter war schön, die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Unkraut wucherte durch die Fugen der Pflasterung. Ansonsten fiel mir nichts Ungewöhnliches auf. In der Ferne konnte ich einen Trecker hören.

      Ich beschloss, zurück ins Schlafzimmer zu gehen. Allmählich wurde mir kalt. So humpelte ich mit Hilfe der Duschvorhangstange durch den Flur zum Schlafzimmer.