Norbert Böseler

Weckzeit


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ohne Zwischenfälle. Nach etwas weniger als einer Stunde bog er links auf den Schotterweg ab. Der Mais ragte zu dieser Zeit nur einige Zentimeter aus dem geeggten Ackerboden. Stelze fuhr durch den kleinen Wald und erreichte den Hof. Vor drei Jahren hatte er das Grundstück mit dem noch vorhandenen Stallgebäude zurückerworben. Als einzigen Erben hatten seine Großeltern ihm einen beträchtlichen Geldbetrag hinterlassen. Wofür er das Geld verwenden würde, war ihm sofort klar. Er wollte sich das zurückholen, was seinen Eltern und ihm genommen worden war. Auf dem elterlichen Hof störte ihn niemand, der erste Nachbar wohnte über einen Kilometer entfernt. Im Ort war er als Eigenbrötler bekannt, es interessierte keinen, was er auf dem abgelegenen Hof machte. Die Bank hatte das zerstörte Wohnhaus abreißen lassen, doch über all die Jahre nie einen potenziellen Käufer für das Grundstück gefunden. Stelze hatte nach dem Erwerb keinerlei Problem gehabt, um eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Eigenheimes zu erhalten. Auch bei der Finanzierung kam ihm die Bank entgegen. Vielleicht unterlagen sie ja auch nur einem schlechten Gewissen, weil sie seine Eltern damals nicht unterstützt hatten. Er beauftragte eine Baufirma, die unter Aufsicht eines Architekten ein schlüsselfertiges Wohnhaus nach seinen Wünschen errichtete. Nach dem Einzug investierte Stelze viel Zeit in das Stallgebäude. Auch den Glockenturm, den sein Vater über den stillgelegten Brunnen gebaut hatte, restaurierte er. Der Turm stand rechts neben der Stallung und war der ganze Stolz seines Vaters gewesen. Die Glocke, die unter dem mit Schieferschindeln verkleideten Spitzdach an einer Kette hing, hatte sein Großvater eigenhändig geschmiedet. Stelze wunderte sich, dass in all den Jahren niemand die Glocke entwendet hatte. Anno 1924 stand auf dem unteren Kranz. Stelze imprägnierte die vier Stützen aus Eichenholz neu und trug anschließend eine Lasur auf. Die vierkantigen Balken trugen in etwa drei Meter Höhe das Gebälk, an dem die schwere Glocke hing. Er ersetzte außerdem einige der gemauerten Feldsteine des alten Brunnens. In den Ecken der ein Meter hohen Brüstung waren die Holzständer fest verankert. Stelze wollte das Erbe seines Vaters so lang wie möglich bewahren. Sein eigener Stolz war schon lange gebrochen, doch die Arbeit ließ seine rastlose Seele ruhen. Das Stallgebäude diente jetzt für Dinge, die er tun musste, um nicht in den Strom der Depression zu geraten.

      Stelze steuerte den Lieferwagen auf das alte Fachwerkgebäude zu, dann stieg er aus, entriegelte das Schloss und öffnete das zweiflügelige Holztor. Er fuhr den schwarzen Wagen in die Remise. Erst nachdem er das Tor wieder geschlossen hatte, schaltete er das Licht an und stellte den Motor aus. Die großräumige Diele wurde beidseitig von Betonstützen flankiert, die alle durch runde Stahlstangen miteinander verbunden waren. Auf den dahinter befindlichen Spaltplatten hatten damals die Rinder gestanden. Auf der linken hinteren Seite gab es noch ein paar Schweineboxen. Dort hatte sein Vater einige Schweine gehalten, die er selber für den Eigenbedarf geschlachtet hatte. Stelze wandte sich dem massiven Eichenschrank zu, der auf der Stirnseite der Diele stand. Er öffnete eine der mittleren Türen und schob einige kleinere Kartons beiseite. Mit wenigen Handgriffen löste er ein Teil der Schrankwand. Dahinter verborgen befand sich ein Schaltkasten mit diversen Sicherungen und einem rot leuchtenden Knopf. Stelze drückte auf den runden Schalter, woraufhin es unter dem Dielenboden zu summen anfing. Wie von Geisterhand hob sich mitten in der Diele ein etwa ein mal zwei Meter großes Feld der roten Klinkerpflasterung. Stelze ging auf das sich öffnende Loch zu und beobachtete, wie ein großer Hydraulikzylinder die schwere Stahlkonstruktion mit den Steinen schräg in die Höhe hob. Diese Vorrichtung zu bauen hatte ihn viel Zeit und Mühe gekostet. Sein Verständnis für Technik und sein in die Wiege gelegtes handwerkliches Geschick, führten letztendlich zum Erfolg. Nach der Fertigstellung verspürte er einen Anflug von Stolz. Der Hydraulikmotor verstummte, als die massive Klappe ihre Endposition erreicht hatte. Eine verzinkte Metalltreppe führte in den verborgenen Keller. Stelze ging die Treppe nach unten und gelangte in den Vorkeller, wo zwei Holztüren abzweigten. An den Wänden standen Regale mit unterschiedlichsten Dingen, wie Töpfe, Einmachgläser, Holzkisten und diverse Werkzeuge. Geradeaus vor dem Treppenabsatz befand sich ein Regal mit großen Pappkartons, die die Wand fast vollständig verdeckten. Stelze schob das Regal beiseite, woraufhin eine dritte Tür zum Vorschein kam. Eine verzinkte Stahltür. Stelze öffnete sie. Ein großer heller Raum tat sich vor seinen Augen auf.

      Stelze ging wieder nach oben und montierte die falschen Nummernschilder ab, erst dann öffnete er die Heckklappe des Transporters. Ein süßlicher Geruch schlug ihm entgegen, der sich aber schnell verflüchtigen würde. Stelze stellte die Umzugskartons an die Seite und widmete sich anschließend der Frau. Er trug sie, noch mit der Decke verhüllt, die Treppe herunter. In der Mitte des weiß gekachelten Raumes stand ein imposanter Tisch, der komplett aus Edelstahl bestand. Dort legte er die immer noch betäubte Frau ab. Stelze fühlte nach ihrem Puls. Sie würde seiner Meinung nach noch für einige Zeit ohne Bewusstsein bleiben. Er ging in Seelenruhe zum Schaltkasten und betätigte einige Knöpfe, woraufhin oben in der Diele das Licht erlosch und die schwere Klappe sich senkte. Unten erhellten Leuchtstoffröhren den sterilen Raum. Es standen einige Regale mit technischen Geräten und sonderbaren Werkzeugen vor den gefliesten Wänden, sowie ein verschlossener Schrank und ein Keramikwaschbecken. Gegenüber der verzinkten Stahltür befanden sich zwei weiß lackierte Türen. Dahinter verborgen lagen weitere Räume, die Stelze für seine Zwecke umgestaltet hatte. Aus dem einen Raum hatte damals eine Holztreppe nach oben geführt. Die Treppe hatte er rausgerissen und die Türöffnung zugemauert. Der andere Raum wurde damals als Lager für Fleisch und Eingemachtes genutzt. In dem großen Keller hatten sein Vater und Großvater früher selber geschlachtet, die Schweine zerlegt, und das Fleisch zubereitet. Jetzt nutzte er die Räumlichkeiten, um seinen krankhaften Zwang zu stillen. Stelze ging in den ehemaligen Lagerraum.

      Als er wenige Minuten später zurückkam, trug er grüne Operationskleidung und eine schwarze Latexmaske. Die Maske schmiegte sich an seinen Kopf wie eine zweite Haut. Nur Mund, Nasenlöcher und Augen waren durch passgenaue Öffnungen sichtbar. Zielstrebig, mit starrem Blick, schritt Stelze auf den Tisch zu. Er zog der bewusstlosen Frau das Oberteil aus und positionierte den schlaffen Körper mit abgespreizten Armen und Beinen. Er öffnete zwei Klappen am Fußende des Tisches und zog aus jeder Öffnung eine Schlaufe. Er legte die Fesseln um die Fußknöchel und spannte das Seil, das unter der Edelstahlplatte befestigt war. Seitlich des Tisches verbargen sich zwei weitere Schlingen, die er um die Unterarme der Frau legte. Zufrieden drehte Stelze sich ab und holte einen Rollcontainer mit drei Schubladen zum Opferaltar, wie er seinen Edelstahltisch gerne nannte. Dann setzte er sich auf einen runden Hocker und wartete.

      Etwa eine viertel Stunde später regte sich die junge Frau, indem sie zaghaft an den Fesseln zog. Sie blickte zur Seite, sah den Mann mit der schwarzen Maske und begann zu schreien, dabei zerrte sie ruckartig an den festgezurrten Schlaufen. Stelze legte den linken Zeigefinger vor seine Lippen, die sich rot schimmernd von der Maske abhoben. Da sich die Frau nicht beruhigte, hielt er ihr mit der anderen Hand den Mund zu. Nur langsam schien sie ihre ausweglose Situation zu erkennen. Ihre angsterfüllten Schreie verstummten. Stelze stand auf und ging zu der Spüle. Oberhalb des Waschbeckens hing ein gläserner Schrank. Er nahm eine Ampulle heraus und zog den Inhalt in eine Spritze auf. Zurück am Opferaltar umfasste er den Unterarm der blonden Frau, fixierte eine hervorgetretene Vene und führte die Nadel mit ruhiger Hand ein. Als er das Serum in ihre Ader drückte, versuchte die junge Frau, sich aufzurichten, was die Fesseln jedoch schmerzhaft verhinderten. Sie sah ihrem Widersacher mit entsetzlich weit aufgerissenen Augen an. In ihrer Panik brachte sie kein Wort über die Lippen. Erst als der maskierte Mann die obere Containerschublade öffnete und ein Skalpell, sowie eine kleine, leicht gebogene Säge auf die Ablage legte, fing sie wieder an zu schreien.

      2015

      Ich mochte Weihnachtsmärkte. Das Aroma von gebrannten Mandeln, den Geruch vom Glühwein in der Luft, die festliche Beleuchtung und die staunenden Kinder, die ihre Eltern von einem Stand zum anderen zogen. Ich war alleine unterwegs, auf der Suche nach einem Geschenk für meine Frau. Wie immer hatte ich keine Idee, wartete darauf, dass der Groschen beim Durchstreifen der Stadt und des Marktes fiel. Bislang blieb die Erleuchtung aus. Der Abend war bereits hereingebrochen, es wurde bitterkalt. Lust verspürte ich keine mehr, weil mein Stumpf unter der Prothese zu jucken begann. Das war bei Kälte nichts Ungewöhnliches, doch recht unangenehm. Ich beschloss, nach Hause zu fahren. Um den Weg zu meinem Auto abzukürzen, ging ich durch eine schmale Einkaufsgasse. Alte Gebäude flankierten