Norbert Böseler

Weckzeit


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erreichte ich das Bett. Ich setzte mich auf die Kante. Sofort sprang die Katze schnurrend auf meinen Schoß. Ich kraule sie unter dem Kinn, dabei drehte sie sich auf den Rücken. Unter ihrer rechten Pfote konnte ich den markanten dunklen Fleck auf ihrem ansonsten rosafarbenen Fußballen erkennen. Es handelte sich bei der Katze eindeutig um Lucky. Ich kroch unter die wärmende Bettdecke, derweilen Lucky es sich oben auf der Decke gemütlich machte. Ich hatte keine Einwände, war über ihre Gesellschaft sogar froh. Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, dass ich über eine Stunde umhergewandert war. Der Wecker bestätigte diese Zeitspanne. Während ich an die schmuddelige Zimmerdecke starrte, begannen meine Gedanken sich zu drehen. Was war mit mir passiert? Was es auch sein mochte, ich ordnete dieses mysteriöse Ereignis dem Wecker zu. Ich sah mich darin bestätigt, dass dem antiken Wecker etwas Besonderes innewohnte. Seine geheimnisvolle Magie hatte mich an diesen Ort befördert, von dem ich sicher war, dass es sich um unser Haus handelte. Nur befand ich mich hier nicht in der Gegenwart. Die Zeit musste vor unserem Einzug 2008 liegen. Dem Zustand des Hauses nach zu schließen, weit vorher. Ich überlegte, wie lange das Haus leer gestanden haben mag. Ich wusste es nicht genau. Vier, fünf Jahre vielleicht. Der Erbstreit hatte sich meines Wissens nach lange hingezogen. Ich wusste nur, dass es 1998 erbaut worden war. Blieb die Frage, wie es jetzt weitergehen würde. Musste ich hierbleiben, oder gab es ein Zurück, was ich doch sehr hoffte. Vorerst konnte ich nur abwarten. In der jetzigen Situation sah ich keine Möglichkeit, das Haus verlassen zu können. Ich war zur Untätigkeit verdammt.

      Zweimal suchte ich noch das Bad auf. Nicht unbedingt, um mich zu erleichtern, sondern eher, um etwas zu trinken. Den Hunger konnte ich ja noch verdrängen, doch der Durst trieb mich zum Handeln. Lucky folgte mir bei meinen beschwerlichen Ausflügen auf Schritt und Tritt. Nachdem die Sonne untergegangen war, konnte ich das Bett nicht mehr verlassen. Es gab keine funktionierende Lampe, selbst wenn, konnte ich nicht riskieren ein Licht anzuschalten. Auch wenn das Haus abgelegen vom Dorf lag, würde irgendwann jemand das Licht entdecken und neugierig werden.

      Gegen 19 Uhr wurde ich müde. Mein Blick wurde schläfrig, ich bekam leichte Kopfschmerzen, dann begann es zu Ticken. Ich hörte nicht den Wecker, nein, es tickte in meinem Kopf.

      1985 / 2

      Der elfjährige Junge, der von den anderen Kindern nur Stelze genannt wurde, saß im Schulbus und war auf dem Weg nach Hause. Ihm ging es nicht gut. Während der letzten beiden Unterrichtsstunden hatte er schlimme Kopfschmerzen bekommen. Er hatte seine Schwester in der großen Pause nicht gesehen, was bei ihm eine merkwürdige Unruhe auslöste. Er konnte sich nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren, da seine Gedanken immer wieder zu Johanna abschweiften. Er liebte seine Schwester abgöttisch, was dazu führte, dass er sich jedes Mal große Sorgen machte, wenn ihm etwas außergewöhnlich erschien. Ob sie nun zu spät nach Hause kam, oder ob sich bei ihr eine Erkältung ankündigte, er machte sich stets Sorgen. Er malte sich die abwegigsten Szenarien aus. Wenn sie zu spät kam, sei sie vermutlich entführt worden. Die Erkältung entwickelte sich bestimmt zu einer Lungenentzündung, an der sie vermutlich sterben würde. Seine Eltern versuchten, ihn dann zu beruhigen, was ihnen jedoch so gut wie nie gelang. Am Ende war er derjenige, der mit einem kalten Waschlappen auf der Stirn im Bett lag und unter Kopfschmerzen litt. Seit er Johanna nicht auf dem Schulhof gesehen hatte, glaubte er, etwas Furchtbares sei mit ihr geschehen. Wahrscheinlich habe ein Kinderschänder sie gequält und anschließend getötet. Mit diesem absurden Gedanken und einem gewaltigen Pochen im Kopf stieg der Junge aus dem Bus. Dass die anderen Kinder aufgeregt durch die Fenster sahen, bekam er gar nicht mit.

      Erst als der Bus gefahren war und er an der Haltestelle stand, sah der Junge die dunklen Rauchwolken, die über den Bäumen emporstiegen. Er rannte sofort los. Auf dem Schotterweg parkte ein Polizeiauto und der Polizist bemühte sich, ihn aufzuhalten. Der Junge wich dem Beamten geschickt aus und lief weiter. Der Mann rief ihm etwas hinterher und folgte dem Kind mit schwerfälligen Schritten. Der Junge hörte nicht hin, er streifte die Schultasche ab, ließ sie einfach auf den Boden fallen und rannte so schnell er konnte. Die grausamen Gedanken in seinem Kopf trieben ihn voran. Johanna und seinen Eltern durfte nichts zugestoßen sein, das würde er nicht verkraften. Er brauchte Gewissheit. Die langen schlaksigen Beine legten ein irrsinniges Tempo vor, das der Polizist nicht halten konnte. Als der Junge den Wald erreicht hatte, roch er den Rauch und hörte knisternde Laute. Dann sah er durch die Bäume das Blaulicht der Feuerwehrfahrzeuge blinken und die lodernden Flammen. Am Ende des Waldes angekommen, erstreckte sich das ganze Ausmaß des Unheils vor seinen Augen. Das Haus war völlig zerstört, überall lagen verkohlte Trümmer. Flammen züngelten aus den zerbrochenen Fenstern. Aus dem offenen Dachgerippe stieg dunkler Rauch auf. Gewaltige Wasserfontänen aus grauen Schläuchen prasselten auf das brennende Gebäude nieder. Auf dem Boden hatte sich ein weitgefächerter Schaumteppich ausgebreitet. Der Rasen glich einem Trümmerfeld. Klinkersteine, noch glühende Holzbalken und die Überreste einiger Möbel zerstreuten sich auf dem rußbedeckten Gras.

      Noch hatte niemand den Jungen entdeckt, erst als er anfing, nach seiner Schwester und seinen Eltern zu rufen, wurde ein Sanitäter auf ihn aufmerksam. Er stellte sich dem nun hysterisch schreienden Jungen in den Weg, der auf das brennende Haus zulief. Der Mann bekam das Kind im letzten Moment zu fassen. Er hielt ihn mit verschränkten Armen vor seiner breiten Brust und versuchte, den verstörten Jungen zu beruhigen. Als der Polizist endlich die Unglücksstelle erreicht hatte, zerrte der Junge an den Armen des Sanitäters und biss ihn in die Hand. Der kurze Moment des Schmerzes reichte dem Jungen aus, er riss sich los und rannte davon. Sofort nahmen die beiden Männer die Verfolgung auf. Der Junge mit den dünnen Beinen überquerte in Windeseile den Rasen. Kurz vor den Bäumen sah er etwas Helles liegen. Er lief zu der Stelle, nahm den Gegenstand an sich und floh in den Wald. Scharfkantige Zweige zerkratzten seine Beine, doch der Junge spürte es nicht. Wie von Sinnen eilte er durch den kleinen Wald und verschwand im Maisfeld. Dort verlangsamte er seine Schritte, schlängelte förmlich um die hohen Pflanzen, und bewegte sich weit in das Maisfeld hinein. Als er niemanden mehr hörte, sank er niedergeschlagen zu Boden und verharrte dort. Der Schock hatte seine Glieder gelähmt. Für ihn hatte die Welt aufgehört, sich zu drehen.

      Kurz vor Einbruch der Dunkelheit fanden zwei Einsatzkräfte den Jungen, der von den anderen Kindern Stelze genannt wurde. Er kauerte auf dem Boden und drückte Johannas beigefarbenen Teddybären fest an sich. Mit lethargischem Blick starrte er auf den zerfetzten Arm des Teddys.

      2015 / 3

      In unmittelbarer Nähe klingelte es. Erschrocken riss ich die Augen auf. Der Wecker stand auf der Nachtkonsole, der kleine Schlagbolzen ruhte zwischen den Glocken. Trotzdem läutete es in meinem Kopf. Meine Ohren wurden von dem schrillen Geräusch malträtiert. Ich reckte mich zum Wecker und drückte schlaftrunken den Bügel herunter. Das Klingeln im Kopf verstummte abrupt. Ich rieb mir die Augen, dann sah ich mich um. Ich befand mich in meiner gewohnten Umgebung, in meinem Schlafzimmer mit all seinen Möbeln. Die Krücke stand am Stuhl gelehnt auf dem Parkettboden. Mir fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. Ich sah auf meine Armbanduhr, 7:15 Uhr zeigten mir die Zeiger an. Der Glockenwecker sagte selbstverständlich eine andere Zeit an, weil er wieder entgegengesetzt lief. Ich hatte etwa acht Stunden geschlafen, wenn ich meiner Uhr Glauben schenken durfte. Das konnte hinkommen. Doch hatte ich wirklich geschlafen? War ich in der Nacht nicht ganz woanders gewesen? In einer anderen Zeit? Nichts erinnerte daran. Ich fühlte mich nicht müde, im Gegenteil, ich war munter und ausgeschlafen. Ich erinnerte mich an jedes Detail aus der vergangenen Nacht, so als wäre dies alles gerade erst passiert. Dann fiel mir etwas ein. Ich setzte mich im Bett auf und musste einige Verrenkungen ausüben, um unter meine Fußsohle sehen zu können. Sie war verschmutzt und klebrig. Anschließend suchte ich die Decke nach Katzenhaaren ab, fand aber keine.

      Ich duschte und zog mich an. Auf dem Weg in die Küche spähte ich in Anjas Schlafzimmer. Sie lag in ihrem Bett und schlief fest. In der Küche setzte ich Kaffee auf und machte mir ein umfangreiches Frühstück. Sonst aß ich morgens nicht sonderlich viel, doch nun hatte ich Hunger. Mein Magen fühlte sich an wie ein mit Helium gefüllter Ballon. Nach dem Frühstück setzte ich mich ins Arbeitszimmer und arbeitete an meinem letzten Auftrag weiter. Nach anfänglichen Konzentrationsschwierigkeiten lenkte mich die durchaus