Deike Hinrichs

Slopentied


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den Sichtplatz und schob das erste Band ein. Kaum lief die erste Kassette, klingelte sein schnurloses Telefon. Stopske verlangte von Moritz für das morgige Treffen mit Lehndorff binnen einer Stunde die Zusammenstellung verschiedener Unterlagen: „Quoten, einschließlich der Kurvenverläufe, das Manuskript für die nächste Folge und das Konzept für die Endwahl. Das wär’s erstmal.“ Genervt brach Moritz die begonnene Arbeit ab, ließ den Player das angefangene Band wieder ausspucken und ging zurück an seinen Schreibtisch, um in dem weitverzweigten Ordernetz des Servers zu wühlen, in dem ständig Dateien von einem Ort zum anderen wanderten oder gänzlich verschwanden.

      Am Nachmittag schloss Moritz sich drei Kollegen, unter ihnen Praktikantin Petra, zum Essen an. In Berlins Mitte wimmelte es von Lokalen und Imbissen, deren Angebote sich auf hektisch gegessene Mittagsmenüs spezialisiert hatten. In allen war es zwischen 14 und 15 Uhr überfüllt, danach nur noch voll — es sei denn, man wählte den Fleischerimbiss in der Torstraße, in das Mittagsbrot noch wie in guten alten Zeiten zwischen 11:30 Uhr und 13 Uhr über die Theke ging. Diese Form der frühzeitigen, schweren Verköstigung war freilich für seine Kollegen undenkbar und das Zeitfenster hatte Moritz heute ohnehin verpasst.

      Sie hatten Glück, als sie gegen halb drei einen Vierer-Tisch in einem puristisch eingerichteten vietnamesischen Restaurant in der Rosenthaler Straße ergatterten. Der Lautstärkepegel in dem Lokal glich mehr dem eines Clubs weit nach Mitternacht. Moritz war dieses laute Gebrumm wie in einem Bienenkorb nicht unlieb; so schaffte er es leichter, über einzelne Schlagwörter und ganze Sätze hinwegzuhören. Man lief durch die Enge der Tische leicht Gefahr, die nahezu austauschbaren, fraglos eloquent vorgetragenen Wortfetzen von den Nachbarplätzen aufzuschnappen. Die Gespräche drehten sich stets und ausschließlich um spannende Projekte und das an allen Tischen. Größtenteils agierten die Leute wie auf einer Bühne. Amüsieren konnte das Moritz schon lange nicht mehr. Auch Petra und die beiden Kollegen, die die Mädchen aus den Bundesländern Bremen und Niedersachsen mit der Kamera verfolgten, gaben ihren Senf zu den Teilnehmerinnen von Best Beauty lauthals und in rauen Mengen zum Besten. Wären sie im Fleischerimbiss eingekehrt, hätte ein ganzes Heer von Bauarbeitern ihre Bockwürste darin tunken können.

      Moritz vertiefte sich in seine Tasse Jasmintee, den die Karte mit den Mittagsmenüs wahlweise zur Vorsuppe mit dem Hauptgericht anpries. Konzentriert bepustete er das Getränk von allen Seiten, um sich dann in kleinen Schlucken dem Inhalt der Tasse zu nähern. Das Material, dickwandiges Keramik, ließ den Tee kaum abkühlen. Eine gute Sache für seine kalte Wohnung; hier im Lokal eher hinderlich.

      Zwischen zwei Löffeln Reisnudelsuppe lehnte sich Praktikantin Petra erneut mit ihrer Idee, Melanie und Judith durch den gemeinsamen Ex-Freund David gegeneinander auszuspielen, weit aus dem Fenster. Von den beiden Kollegen am Tisch erntete sie Applaus.

      Der aalglatte, etwas dümmliche Jörg, der noch vor zwei Jahren als freiberuflicher Fahrer bei United Media angefangen hatte, sagte: „Man muss sie nur am richtigen Punkt erwischen. Dann sind alle manipulierbar und fallen aus der Rolle.“

      Noch ein erwachsener Mann, der so dachte. Moritz verging der Appetit.

      Grinsend stupste Jörg mit seinem Zeigefinger den Strohhalm zurück in die Bionade, deren Kohlensäure ihn postwendend wieder nach oben beförderte. „Warum ist deine Tochter nicht bei Best Beauty am Start, Moritz? Sitzt an der Quelle und wir casten eine Lusche nach der anderen. Das geht ja wohl nicht an … “

      „Bin einfach kein Freund vom Vermischen von Privatleben und Arbeit.“ Hoffentlich hielt der Typ jetzt seinen dämlichen Mund.

      Fliehend schweifte Moritz’ Blick durch das Restaurant. Selbst die Bedienung bestand aus Schauspielern, Regisseuren, Musikern, Sängerinnen oder Models — die allerdings noch auf eine Finanzierung ihrer Kunst und auf den damit verbundenen Durchbruch warteten. Sich dieser eingeschworenen Gruppe von Schaustellern nicht mal mit dem großen Zeh zugehörig fühlend, stach Moritz wortlos die Stäbchen in die duftende Schale. Das Essen schmeckte zweifellos hervorragend, nur das Gehabe der Mitesser hinterließ jedes Mal aufs Neue einen faden Nachgeschmack in seinem Mund.

      Als Moritz an diesem Morgen aus dem Haus trat, umspielte ein feines Lächeln seinen Mund. Beim Gehen knöpfte er sich seinen aus grobem Salz- und Pfefferstoff gefertigten Kurzmantel zu, zog den Schal etwas enger und fuhr sich mit den schlanken Händen durch das noch von der ausgiebigen Nachtruhe abstehende Haar. Seine dunkelblonden Haare bildeten einen netten Kontrast zur Farbe des hochgestellten Mantelkragens. Zwar war es bereits Mitte März, doch um diese Uhrzeit noch recht frisch, sodass Moritz vorsichtshalber den Schal dieser Tage noch zu seiner Standard-Ausrüstung zählte. Obendrein war es ein recht schöner Schal, grau mit roten Punkten, aus einem leichten Baumwollgemisch, den einige seiner Kollegen aus der Redaktion aufgrund des Musters als zu modemutig für einen Mann Mitte 20 betrachteten. Genau der Punkt, der ihn für Moritz zum Lieblingsschal machte, was zugegebenermaßen eine sehr kleine Provokation war — aber immerhin.

      Er überquerte die Straße und freute sich dabei über das glänzende Kopfsteinpflaster, welches durch den feinen Sprühregen, der seit den Morgenstunden unablässig vom Himmel fiel, wie frisch poliert wirkte. Er stolperte fast über die außergewöhnlich hohe Bordsteinkante, schlängelte sich durch zwei parkende Trabis und bog in den Park ab.

      Sobald er einige Schritte in die Grünanlage gesetzt hatte, begann er bewusst tief ein- und auszuatmen, wobei er unterstützend die Arme im Atemrhythmus nach oben und unten schwingen ließ; je nach Tagesform fiel er zusätzlich in einen leichten Trab, so wie heute. Eine Horde beranzter Schulkinder überholte ihn. Kaum in sicherer Entfernung drehten sich drei von ihnen um und riefen im Chor: „Schneller, Propeller, schneller, Propeller.“

      Auf den letzten Metern im Park erhörte Moritz den Ansporn der Kinder und beschleunigte das Tempo. Gut gelaunt schaute er nach dieser Ertüchtigung in den beginnenden, noch etwas nebligen Tag.

      Beim Blick auf die Bahnhofsuhr, die er schon vom Ende des Parks sehen konnte, erkannte Moritz, dass er noch acht Minuten auf die S-Bahn nach Grünau warten musste, und verringerte sofort seinen Laufschritt in ein gemächliches Schlendern. In drei Minuten würde quietschend die Straßenbahn um die Ecke biegen, erstaunlich viele Leute ausspucken, wovon dann der Großteil Morgen für Morgen die Stufen hoch zur S-Bahn eilte. Warum jene Menschen diese Hektik an den Tag legten, leuchtete ihm nicht ein. Davon ausgehend, der Fahrplan sei allen berufstätigen Insassen bekannt, schüttelte er bei dem Anblick unwillkürlich seinen Kopf. Mehr als fünf Minuten auf einem zugigen Bahnsteig hielt Moritz schlicht für unzumutbar, weshalb er generell lieber trödelnd die Zeit vor dem Bahnhof verbrachte, als wartend am Gleis.

      So blieb er vor dem großen Schaufenster des Modelleisenbahn-Ladens stehen, obwohl er mit Modelleisenbahnern nun rein gar nichts am Hut hatte. Der große Ernst und die Akribie, mit der selbst gestandene Männer diesem Hobby frönten, waren ihm suspekt. Es war und blieb schlicht und einfach Spielzeug. Jedoch bot das aufmerksame Studieren der unendlichen Details eine hervorragende Möglichkeit, die Zeit angenehmer, als auf dem Bahnsteig wartend, zu überbrücken. Mit dem Mittelfinger drückte Moritz auf die Play-Taste seines Walkmans, der für die ewig ausgebeulte linke Manteltasche verantwortlich war, bevor er sich ganz der Betrachtung zuwandte. Verschiedene Eisenbahnmodelle, die auf einer großen Platte über Brücken und Bahnübergänge durch Tunnel und Wälder fuhren, füllten das Schaufenster. Lebendig wurde die Szenerie durch Miniatur-Menschen, die auf Bänken saßen, tranken und aßen, Bauarbeitern, die ihre Lkws beluden, Frauen, die ihre Kinder in den Kindergarten brachten, alte Leutchen, die im Park Tauben fütterten oder eben Werktätige, die auf Bahnhöfen warteten. Dieses liebevolle Abbild banaler Geschehnisse gefiel ihm, und einige der Figürchen waren Moritz mittlerweile seltsam vertraut. Ein verwegenes Pärchen auf einem Motorroller, beide im Stile der 70er Jahre frisiert und gekleidet, erinnerten ihn an seine erste Freundin Mirijam und sich selbst. Damals war er 16, wohnte in Waren an der Müritz und wollte Mirijam heiraten. Heute wusste er nicht einmal, wo sie lebte, und es interessierte ihn auch nicht mehr im Geringsten. Von Anita bekam Moritz alles, was er zum Glücklichsein brauchte.

      Aus den kleinen Kopfhörern des Walkmans sangen ihm die Elektropopper von Human League ihr Keep Feeling Fascination ins Ohr, während er summend seinen