Deike Hinrichs

Slopentied


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die Woche wieder los, wat. Schönen Arbeitstag dann mal für Sie“, wünschte der Mann aus dem Häuschen heraus, während er ihm die Berliner Zeitung in die Hand drückte. Dabei kam er fast mit dem ganzen Kopf aus der kleinen, rechteckigen Öffnung in der Scheibe des Kiosks herausgekrochen, sodass Moritz sich Sorgen machte, die hochgeschobene Glasscheibe möge bitte halten und dem Zeitungsverkäufer nicht wie das Beil einer Guillotine in den dünnen Nacken fallen. „Steht übrigens wieder nüscht Gescheites drin“, schob der Mann sorglos hinterher.

      Moritz ließ sich ganz entgegen seiner Art zu einer Bemerkung hinreißen, die ihm, das imaginäre Fallbeil vor Augen, wirklich am Herzen lag: „Damit’s ein schöner Tag für Sie bleibt, den Kopf lieber drinnen, im Schutz des Häuschens lassen.“

      Den Kommentar: „Na, der hat vielleicht Probleme“, den die Frau hinter ihm verwundert ausspuckte, hörte Moritz genauso wenig, wie das: „Der hat wohl een, zwee Schrauben locker“, des Zeitungsverkäufers, der ihm verblüfft mit noch längerem Hals aus dem Kioskfenster heraus hinterherschaute.

      Erfreut stellte Moritz beim Betreten des Bahnsteiges fest, dass noch exakt zwei Minuten verblieben, bis die Bahn laut Fahrplan einfahren würde. Daraufhin holte er seine Fahrkarte aus der Hosentasche und steckte sie zum Lochen in den gierigen Automaten-Schlitz.

      Das Fernsehgelände glich mit seinen beeindruckenden Ausmaßen einer kleinen Stadt. An die 5.000 Menschen arbeiteten hier am Programm 1 und 2 des DDR-Fernsehens. Nach seiner Lehrausbildung als Fotograf bei der Studiotechnik Fernsehen war Moritz auf das Gelände des Fernsehfunks in Johannisthal gewechselt, bevor er im Herzstück des Senders, in Adlershof landete. Neben den großen Studios, der Unmenge von Büroräumen, den Lagerhallen und Archiven, dem Kostüm- und Requisitenfundus, gab es beinahe alles, was man zum täglichen Leben brauchte und mehr: Eine hauseigene Druckerei und eine zentrale Poststelle, eine Fahrschule, die angeschlossene Poliklinik und sogar ein Friseur warteten auf Kunden. Es gab den kleinen Konsum, der vor allem dann rege besucht wurde, sobald sich das Eintreffen einer Lieferung Erdbeeren, Tomatenketchup oder anderer Begehrlichkeiten herumgesprochen hatte. Ferner luden drei Kantinen, wovon sich eine großspurig Casino nannte, zum Mittagstisch ein. Grund für diese exponierte Bezeichnung gegenüber den anderen Kantinen war die extra lange Öffnungszeit der Küche.

      Moritz steuerte am Goldfischteich vorbei auf den dreistöckigen Neubau zu, in welchem die Nachrichtenredaktion untergebracht war. Ab und an zerbröselte Moritz für die dicken Fische nach der Mittagspause eine Scheibe Brot, die die Köche in den Kantinen zum Eintopf reichten. Nach den Ausmaßen der Teich-Bewohner zu urteilen, pflegte er dieses Brotentsorgungs-Ritual nicht alleine.

      Dicht hinter ihm hupte plötzlich ein Barkas. Nach einem flotten Seitensprung auf den Gehweg erhaschte Moritz noch eine Aussicht auf den Fahrer, der, lässig aus dem heruntergekurbelten Seitenfenster grüßend, vorbeifuhr. Der Mann kam ihm gänzlich unbekannt vor. Den Gruß zu entgegnen verkniff er sich deshalb.

      Das Gebäude R2 war hässlich, ohne jegliche Verzierungen oder architektonische Extras; lediglich nach praktischen Aspekten innerhalb weniger Wochen hochgezogen. Nachdem Moritz den vierstelligen Code in das Kästchen neben dem Eingang eingegeben und mit der Rautetaste bestätigt hatte, öffnete sich die Tür mit einem sanften Klicken. Die Büros reihten sich, jeweils rechts vom langen Flur, auf allen drei Stockwerken Tür an Tür in identischen Abständen aneinander. Ein kleines Studio und ein Abnahmeraum waren im Erdgeschoss linker Hand am Ende des Flurs untergebracht. Im zweiten Stock befanden sich drei Schnittplätze und die Paintbox.

      In der Redaktion empfingen ihn ein müder Nachrichtenchef und eine munter dreinblickende Redaktionssekretärin. Beide hatten einen Becher Kaffee vor sich stehen, der, dem Dampf nach zu urteilen, noch heiß, damit frisch gebrüht und somit genießbar war. Schnell schenkte sich Moritz ebenfalls eine Tasse ein und stellte sie auf seinen Schreibtisch, der bis auf wenige Ausnahmen stets picobello aufgeräumt war. Er stellte erst danach seine Tasche ab und legte die Zeitung weg, die in der Tat keine spannenden Neuigkeiten zu bieten hatte — man konnte ja nie wissen, oft waren diese ersten morgendlichen Abläufe für den Erhalt des Heißgetränks entscheidend. Es gab Tage, da stolperten die Kollegen so fix hintereinander zur Kaffeemaschine, dass wenige Minuten später bereits die letzten Tropfen laut zischend auf der heißen Platte verdampften.

      Seinen Mantel hängte Moritz auf einen der Holzbügel und verstaute ihn in dem dafür vorgesehenen Garderobenschrank. Zu guter Letzt legte er den fröhlich gepunkteten Schal, einmal ordentlich in der Mitte gefaltet, über die Bürostuhllehne, obwohl er wusste, von dort würde er im Laufe des Tages etliche Male auf den Boden fallen — in einigen Dingen zeigte sich Moritz Montag unbelehrbar.

      „Schönes Wochenende gehabt?“ Ines rückte die mit blauen Blümchen verzierte Kaffeetasse ein wenig weiter nach rechts, von der elektrischen Schreibmaschine weg, und richtete die vorsortierten Papierbögen — ein farbiges Blatt, ein Kohleblatt, ein Durchschlagpapier und noch ein Kohleblatt nebst Durchschlagpapier, sauber Kante auf Kante aus. Wie gewohnt präsentierte sich das 19-jährige Redaktionsküken sorgfältig geschminkt und nach der neuesten Mode gekleidet, was heute die Kombination von eng anliegendem Samtbody, in undefinierbaren Farbtönen, zu hellblauer stonewashed Jeans bedeutete, die nur von Westverwandten oder aus dem Intershop stammen konnte. Die dünnen blonden, halblang geschnittenen Haare, bei deren Anblick Moritz jedes Mal an Spaghetti denken musste, konnten mit viel Haarspray aufwendig frisiert, in Hinblick auf die modische Garderobenauswahl mithalten. Spuren ihrer ausschweifenden Wochenenden, von denen alle aus Erzählungen en détail wussten, sah man Ines nie an, wie Moritz etwas neidisch feststellte. Durch Ines kannte er alle angesagten Diskotheken in und um Berlin, zumindest namentlich. Ein Privileg der Jugend, nachts um die Häuser zu ziehen, das sich bei Moritz, seit er Vater geworden war, verflüchtigte. Ausführlich berichtete Moritz von den neusten Sprachfortschritten seiner Tochter und dem Ausflug ins Puppentheater, gemeinsam mit den Schwiegereltern, die sich seit der Geburt von Valentina verdammt häufig bei ihnen sehen ließen.

      Dann leitete er zu seinem persönlichen Arbeitsbeginn über: „Aber jetzt mal zur Sache, Kollegen. Was liegt denn an?“ Moritz schaute dabei bewusst von Ines weg und fokussierte Achim, den Nachrichtenchef. Achim stand kurz vor seinem 35-jährigen Betriebsjubiläum und war das, was man in der Branche einen alten Hasen nannte. Ihn brachte so schnell nichts aus der Ruhe. Wenn es hektisch wurde, bekam Achim, meist kurz vor der Sendung, einen roten Kopf — das war das einzige Anzeichen, welches bei ihm auf nervliche Anspannung schließen ließ. Ausbrüche in Form von Gebrüll oder Gängelei gegenüber seinen Mitarbeitern hatte Moritz bei ihm nie erlebt und fand dieses Verhalten außerordentlich souverän, dem Posten angemessen.

      Mit einem Schwung kippte Achim den letzten Schluck Kaffee in den Mund, strich darauf mit der anderen Hand sein bereits tadellos sitzendes Hemd über der Brust glatt und nickte Moritz zu: „Zu den Meldungen auf dem Stapel hier, dazu gehört das Wetter, kannst du dir schon mal Gedanken machen. Sind mit großer Wahrscheinlichkeit die Meldungen — falls nicht noch was Spektakuläres passiert — die um 12 Uhr laufen. Keine große Weltpolitik, aber zwei, drei hübsche Sachen sind dabei. So einen Kracher wie den Olympia-Sieg von unserer Kati in Calgary kriegen wir wohl vorläufig nicht so schnell wieder.“

      Die drei blickten sich versonnen an, als sie an das Hochgefühl vor einigen Wochen zurückdachten. Der Nachrichtenticker hatte Ende Februar nüchtern den Sieg der DDR-Eiskunstläuferin bei den Olympischen Winterspielen ausgedruckt und die komplette Redaktion hatte sich augenblicklich wie der Nabel der Welt gefühlt. Moritz hatte ein Bild von Katharina Witt im Carmen-Kostüm herausgesucht und sie dann von der Grafik auf ein Sieger-Treppchen setzen lassen Um den Hals hatten ihr die Kollegen von der Paintbox eine riesengroße Medaille mit dem Schriftzug: DDR und Eins gehängt. Alle in der Redaktion liebten diese Art von Nachrichten, die auch über die Grenzen der sozialistischen Republik hinaus einen echten Nachrichtenwert besaßen. Parteitage, inklusive der jeweiligen Parteiprogramme der SED, gehörten nicht dazu. An dem Kati-Nachmittag hatten sie die fast in Vergessenheit geratene Flasche Rotkäppchen-Sekt aus dem Kühlschrank geholt und auf die Sportlerin angestoßen. Ines und Moritz waren zur Kantine geflitzt, um belegte halbe Brötchen und Salzstangen zu holen und es war ein richtig netter Abend geworden.

      Für die bildliche Umsetzung des Wetters