Deike Hinrichs

Slopentied


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brauner oder schwarzer Fohlen im Frühnebel auf der Koppel oder etwas ähnlich Harmonisches, was Tier und Natur in Verbundenheit zeigt. Es passte zum Wetter, zu seiner Stimmung und die Zuschauer mochten Tiere ohnehin. Falls er sich nicht entscheiden konnte, würde er Ines aus drei Motiven auswählen lassen. Das Redaktionsküken mochte es, wenn Moritz sie nach ihrer Meinung fragte und ihr damit das Gefühl vermittelte, wichtig zu sein. Mit Bestimmtheit tippte Ines auf das jeweils favorisierte Foto und sagte dabei stets: „Auf jeden Fall das hier. Ganz klar, Moritz.“

      Schmunzelnd nahm sich Moritz in Ruhe die Meldungen vor und versah eine nach der anderem mit Notizen für die Bebilderung. Ines spannte das Formular in die Schreibmaschine ein und ließ den Bügel auf das Blatt Papier zurückklappen. „Du grinst ja heute wie ein Honigkuchenpferd“, stellte sie dabei belustigt fest.

      „Na wenn schon, was dagegen?“ Durch eine Verbindungstür schlüpfte Moritz ins Nachbarzimmer, ein wunderbar sortiertes Bildarchiv. Im Laufe der letzten Jahre hatten er und eine Kollegin akribisch hunderte Zeitschriften und Magazine durchforstet, immer auf der Suche nach Motiven, die man einmal gebrauchen könnte. So sammelten sich in den Ablagekästen und Schüben eine Unzahl von Autobildern und Staus, Fotos von Menschenansammlungen und Demonstranten, Porträts sämtlicher Regierungsoberhäupter, Wahrzeichen von Städten, Tiere jeglicher Art und Rasse, symbolträchtige Aufnahmen wie Kreuze, Banknoten, Engel, Ketten oder Friedenstauben. Dafür durften sie auch West-Illustrierte plündern, was für das Wachsen des Bildarchivs eine Unabdingbarkeit darstellte. Allein mit Eulenspiegel, Sibylle, dem Magazin und der Melodie & Rhythmus kamen sie nicht weit. Die Mehrzahl der Printerzeugnisse im eigenen Land war einfach von zu schlechter Papierqualität für eine Verwendung im Fernsehen.

      Moritz bereitete es Freude, ein nicht sofort naheliegendes Motiv oder eine Fotomontage für das Bild zu einer Meldung zu suchen und zu finden. Oft musste ihn Achim dann bremsen, weil er meinte, dem Zuschauer bliebe viel zu wenig Zeit, um über die Bedeutung des Fotos im Hintergrund des Sprechers zu grübeln und damit hatte er wohl recht. So wurde es dann letzten Endes doch oft plakativ, statt raffiniert.

      Ödipus von Loriot feiert gleichzeitig Premiere in Ost- und Westberlin. Nicht undankbar die Nachricht fand Moritz, dafür könnte man eine nette Bildcollage von den Grafikern in der Paintbox bauen lassen. Alle von Achim vorsortierten Nachrichten mit Vorschlägen für die bildliche Umsetzung versehen, ging Moritz vom Archiv durch die Verbindungstür ins Nebenzimmer zurück, zum Nachrichtenchef. Moritz legte den Schwung Papier ab, goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein und suchte im Kühlschrank nach einem Rest H-Milch.

      „Mensch, das war ja klar! Es ist immer derselbe Mist. Und ich probiere es dennoch immer wieder aufs Neue, ich Blödkopf“, ärgerte sich Achim neben ihm, wobei er seinen Kugelschreiber bei jedem Wort in seine linke Handfläche klopfte.

      Selbst aus einigen Metern Abstand erkannte Moritz das Malheur. „Mach die Kulimine wenigstens vorher rein, Achim.“

      „Was?“ Aus dem Konzept gebracht, unterbrach der Nachrichtenchef die Attacke auf seinen Handteller.

      „Drück die Mine rein, hab ich gesagt. Muss eine Meldung runter? Welche? Warte, lass mich raten!“ Moritz schaute rasch die verbleibenden Tickerausdrucke auf Achims Schreibtisch durch und wurde umgehend fündig. Entstehung der ersten nicht kommunistischen Partei in der UdSSR bahnt sich an. Dass sie diese Schlagzeile nicht durchbekamen, fand er wenig verwunderlich. Aber egal, die Leute schauten schließlich nicht nur die Aktuelle Kamera, sondern informierten sich klugerweise auch auf anderen Fernseh- und Radiokanälen. Mittlerweile war es für einen Großteil der Ostdeutschen, wenn sie denn zu den Glücklichen gehörten, die Westmedien empfangen konnten, eine Art spannendes Spiel geworden, nach der heute-Sendung um 19 Uhr die Aktuelle Kamera zu schauen. Oder erst die Hauptausgabe der Aktuellen Kamera um 19:30 Uhr und im Anschluss die Tagesschau. Welche Meldung fiel komplett unter den Tisch, welche wurde den Bürgern des Landes in abgewandelter Form überbracht, welche ging nahezu 1:1 über den Sender? Das Ganze hatte was von Fußball-Toto.

      Er hielt Achim die Nachricht unter die Nase und wie nicht anders erwartet, bestätigte der mit einem Nicken und zog Moritz den Ausdruck aus der Hand. Der Nachrichtenchef hörte nicht auf, den Bogen in der Mitte durchzureißen, bis die Meldung, auf Briefmarken große Schnipsel geschrumpft, im Papierkorb landete.

      „Nun is’ gut, oder willste Konfetti machen?“ Aus den Tiefen ihres Schreibtisches kramte Ines eine angefangene Tafel Schokolade, die sie Achim vor die Nase hielt.

      Kurz nach halb 12 hatten sie dann alles für die Mittagsausgabe komplett. Achim las noch einmal sämtliche Meldungen Korrektur und legte danach die Blätter nebst Durchschlägen feinsäuberlich aufeinander in das Fach am Eingang des Büros. Niemals waren die Blätter weiß. Beim Lesen im Studio unter dem gleißenden Scheinwerferlicht barg das reine Weiß das Risiko, den Sprecher beim Lesen zu blenden. Dieses Wagnis wollte niemand eingehen — die Meldungen ohne Versprecher und Verhaspler vorzutragen, war auch so Herausforderung genug. Also existierten die Bögen mit den abzulesenden Nachrichten in Zartgrün, Zartgelb und Zartblau; Zartrosa gab es aus unbekannten Gründen nicht. Eventuell zu unmännlich, mutmaßte Moritz nach dem Kommentar seiner Kollegen zu seinem gepunkteten Schal.

      Gegen Viertel vor 12 trat der korpulente Aufnahmeleiter Erik Stopske schwungvoll und leicht außer Atem ins Zimmer, um sich die Nachrichten in dreifacher Ausfertigung abzuholen und zu verteilen. Obwohl er in seiner Position als Aufnahmeleiter mit Sicherheit die meisten Wege während des Arbeitstages zurücklegte, ließen sich der Speck in den Hüften und der Wohlstandsbauch nicht vertreiben. Seinen durchschnittlichen Zigarettenverbrauch von ein bis zwei Schachteln pro Tag sah man Stopske deutlich an — er wirkte immer leicht schmuddelig. Besonders unangenehm stießen Moritz neben dem Geruch nach kaltem Rauch, der Stopske wie ein Mantel umwehte, die gelblich-braunen Fingernägel auf. Obwohl Erik Stopske ein umgänglicher Kollege war, blieb Moritz lieber auf Abstand — sowohl körperlich als auch kommunikativ. Es kursierte das Gerücht, Stopske verpfeife gerne und regelmäßig nicht ganz linientreue Kollegen an die Kaderabteilung. Meist war an diesen Gerüchten etwas dran.

      Auf ein anderes Gerücht war ganz sicher nicht viel zu geben, es hielt sich dennoch ebenso hartnäckig in den Redaktionsräumen: Nach einem Ungarnurlaub vor zwei Jahren sah man Stopske ausschließlich mit einer tiefsitzenden Gürteltasche um den Bauch durch die Räume und Flure wandeln. Sie schien mit ihm verwachsen; selbst von der Toilette kam er nicht ohne dieses modische Accessoire. Dieser Umstand hatte die schlüpfrige Fantasie entfacht, Stopske transportiere darin sein Gemächt. Eine weitere Vorstellung, die Moritz nicht sonderlich behagte. Die Kombination aus beiden Gerüchten brachte Erik Stopske den hämischen Namen IM Gemächtträger ein, der bis weit über die Flure der Nachrichtenredaktion reichte.

      Ines provozierte Stopske gerne mit Honecker-Witzen, die harmlos genug waren, um keinen wirklichen Ärger zu riskieren. „Kennt ihr den? Eine alte Frau fragt einen Volkspolizisten: Guter Mann, können sie mir bitte den Weg zum Kaufhaus Prinzip verraten? Der Polizist wundert sich: So ein Kaufhaus gibt es gar nicht. Darauf erwidert die Frau: Doch, doch, das muss es geben. Unser Staatsratsvorsitzender Erich Honecker sagt doch immer, dass es im Prinzip alles zu kaufen gibt.“

      Stopske verzog säuerlich die Miene. „Was vermisst du denn im Angebot des Centrum Warenhaus genau?“, erkundigte er sich agitationsbereit.

      „Ach, du verstehst einfach keinen Spaß“, winkte Ines daraufhin ab. Absatzklappernd setzte sie sich in Bewegung und schaltete unbekümmert das Fernsehgerät ein, wobei ihr alle anwesenden Kollegen auf den runden Hintern glotzten.

      Als die Originalblätter an den Sprecher, Kopien an den Regisseur und weitere Kopien an den Regieassistenten verteilt waren, setzte sich Stopske zu ihnen vor den Fernseher, um die Sendung zu verfolgen. Eine nahezu beschauliche erste Ruhe des Tages kehrte ein.

      Kapitel 4

      Der Februar neigte sich zwar dem Ende entgegen, aber die Herrschaft der frostigen Temperaturen hielt nach wie vor an. Sobald die Sonne am frühen Nachmittag unterging, wehte ein eisiger Wind durch die Straßen Berlins und zwackte in ungeschützte Ohren, Nasen und Finger. Bevor Moritz zaghaft die