Tod des Vaters
Nein, Vater, du gehst nicht!“ Die Augen des Jungen schauten bettelnd: „Du weißt doch, dass der die Leute nur belügt und betrügt!“ Mukhtar hatte seine Wanderung unterbrochen und wandte sich flehend an seinen Vater, einen hinfälligen und spindeldürren alten Mann. „Vater, hast du vergessen, dass du für Hassan Ibn Odd Set schon zwei Paar der feinsten Schuhe anfertigen musstest, und dass es keinen Gewinn für dich gab? Hassan Ibn Odd Set hat dich schlichtweg getäuscht! Getäuscht, so, wie er das seit Jahr und Tag mit allen hier tut!“ Mukhtars Vater, der inmitten seiner Schuhmacherutensilien wie ein weiteres Inventarstück saß, legte erbost seine Arbeit nieder und fixierte seinen Sohn: „Statt hier große Volksreden zu halten, könntest du endlich lernen, wie man einen Schuh haltbar macht und ordentlich flickt. Ich bin der einzige Schuhflicker im Dorf und werde mich bald auf die lange Reise zu Allah begeben. Es wird also höchste Zeit, Sohn, dass du dieses ehrbare Handwerk erlernst!“ Seine Rede wurde von einem heiseren Husten unterbrochen. Mukhtars Vater litt unter der gefürchteten Sandkrankheit, die in jedem Jahr ihren Tribut von den Alten forderte. Mukhtar wusste das, er zögerte und setzte sich neben seinen Vater. „Vater, ich weiß, dass du recht hast! Aber findest du das jetzt fair? Ich meine, davon anzufangen, wo ich dich doch nur vor einer neuen Dummheit bewahren will!“ „Dummheit?“, die Augen des Alten hatten sich verengt: „Sprich du mir nicht von Dummheit!“ Mukhtar zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. „Vater, ich kann deine Arbeit nicht weiterführen. Die Welt ist so groß! Ich spüre, wie mich alles in diese Welt hinauszieht! Ich will meine Lebtage nicht in dieser Oase fristen. Der weise Ibrahim – du weißt doch, das ist der, der mich umsonst lesen und schreiben lehrte und der mir viel von der weiten Welt verriet – also, der weise Ibrahim erzählte mir auch von Maon, der Sultanstadt, und dass dort einer wie ich sein Glück bestimmt finden würde!“ „Firlefanz, das ist doch alles Firlefanz!“, erregte sich der Alte und bekam einen schlimmen Hustenanfall. Als er ihn endlich überstanden hatte, flüsterte er mit traurigen Augen: „Aber Sohn, wie kann man denn ohne seiner Hände Arbeit das Leben meistern? Du kannst nichts, hörst du, niiiichts! Lesen und Schreiben, na immerhin! Aber hat man je gehört, dass so etwas einen Mann, geschweige denn eine ganze Familie ernährt hat?“
Der Vater zögerte. Er senkte seinen Blick und musste erneut husten. Danach sammelte er sich mühsam und brummelte versöhnlich: „Mukhtar, mein Sohn! Ich will nicht im Streit von dir scheiden. Gehe deine Wege! Aber lass dir gesagt sein, dass es schwer werden wird, den einmal eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen! Allah möge dich segnen und dich auf all deinen Wegen begleiten!“ Mukhtar küsste seinem Vater Stirn und Hände und rief gerührt: „Hab tausend Dank, Vater! Ich laufe noch mal schnell zum alten Ibrahim und bin gleich wieder zurück.“ „Vater, Vater, stell dir vor: Omar ist am Leben! Es geht ihm gut! Du hättest also wieder eine Wette verloren, weil du auf seinen Tod setzen wolltest!“ Mukhtar war in die kleine Hütte gestürmt, um schnell diese freudige Nachricht loszuwerden. Doch sein Vater saß aschfahl und stumm, zusammengekauert auf seinem Holzschemel und atmete nicht mehr.
„Vater, Vater!“ Mukhtar schüttelte ihn. „Was ist los? So rede doch, sprich mit mir! Schimpfe mich aus, was ich nur für ein nutzloser Tagedieb bin! Oh Vater, du hattest ja so recht! Und weil du recht hattest, konnte ich nichts erwidern und bin davongelaufen. Ich war nicht bei Ibrahim. Ich hatte Angst vor dir und konnte deine Wahrheit einfach nicht mehr ertragen! Und nun bin ich zurück und du bist tot! Tot! Du hast gewusst, dass du sterben wirst und hast mir deinen Segen gegeben! Ach, was warst du nur für ein guter Vater! Allah, ich bitte dich: Sei meines armen Vaters Seele gnädig!“ Mukhtar fiel in sich zusammen und weinte laut und hemmungslos.
Die unglaublichen Abenteuer des Schlangenbeschwörers
Die Treibsandfalle
Der große Sandsturm hatte sich gelegt, und die Sonne schien wieder mit ihrer vollen, gnadenlosen Kraft auf das kleine Dorf inmitten der Oase. Die kleine Siedlung war über und über mit einer zentimeterdicken Sandschicht bedeckt und glich der Miniaturlandschaft in einer wassergefüllten Schneekugel, bei deren Schütteln ein heftiger Flockenwirbel ausgelöst wird. Nur war diese Ansiedlung nicht im Schnee, sondern im feinen, weißgelblichen Sand versunken und es schwebte auch keine Riesenhand zum Schütteln am Himmel. Trotzdem schien das gewohnte Bild irgendwie gespenstisch, fremd und anders zu sein.
Endlich wagte Mukhtar, nach diesem schrecklichen Sandsturm aus der Hütte seines Vaters herauszutreten. Er betrachtete neugierig seine Oase, die völlig unwirklich, ja fast feindlich und irgendwie grotesk wirkte. Da erblickte er einen seltsamen, korbähnlichen Gegenstand, der nun wirklich fremd an dieser Stelle war, und staunte nicht schlecht. Er richtete ihn auf und mühte sich redlich, seinen Deckel zu öffnen. Jedoch, so sehr er sich auch anstrengte, der Korb ließ sich nicht öffnen! „Was mag nur in diesem seltsamen Korb stecken?“, murmelte er und wollte gerade nach einem geeigneten Hilfsmittel Ausschau halten, um den Korb mit Gewalt zu öffnen, da ertönte von fern eine leise, aber befehlende Stimme: „Lass den Deckel zu, hörst du, versuche nicht, ihn zu öffnen! Komm mir lieber zu Hilfe, hörst du, hilf mir hier aus dem Sand raus!“
Mukhtar stutzte, und seine Augen forschten angstvoll nach der Herkunft der Stimme. Und wirklich, nur wenige Meter entfernt, am Rande der Oase, steckte ein menschlicher Kopf umwickelt mit einem Turban, in einem Sandtrichter, und er sah die dazugehörigen Arme, die verzweifelt herumfuchtelten. Da schossen ihm vergangene Erlebnisse und Erfahrungen durch den Kopf, und er zählte eins und eins zusammen: „Sand, Sandsturm, Treibsand? Natürlich, da steckt ein Mann im Treibsand fest, der braucht jetzt meine Hilfe!“
Er rief: „Halte noch einen Augenblick durch, ich hole schnell Hilfe!“ Der Mann im Sand konnte nicht mehr fuchteln. Man sah nur noch zwei Hände bewegungslos aus dem Sand ragen. Jetzt, das wusste der beherzte Bursche, war höchste Eile geboten. Er rief zwei gleichaltrigen Jungen, die gerade des Wegs kamen, zu: „Arif, Achmed, fragt nicht, schnappt euch ein Seil, da braucht jemand dringend unsere Hilfe!“ Die Jungen begriffen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Sie hatten schnell ein Seil bei der Hand und folgten Mukhtar. Mukhtar hatte sich das Seil fest um den Leib gebunden, sich auf den Bauch geworfen und schrie den beiden Jungen zu, indem er eine Hand des Verunglückten fasste: „Los, zieht, zieht, als wenn es um euer Leben ginge!“ Arif und Achmed zogen aus Leibeskräften und hatten bald, gemeinsam mit Mukhtar, den Mann aus der tödlichen Falle gerettet. Der Mann, ein Typ von beachtlicher Körpergröße und mit einem assyrischen Backenbart, war über und über mit Sand bedeckt.
Er atmete stoßweise, keuchend, hustete heftig und kam schließlich zu sich. Er prustete jede Menge Sand aus dem Mund, hustete noch immer heftig und musste fortwährend niesen. Dabei schoss ihn das Wasser aus den Augen und bildete zwei kleine Sturzbäche, die über die Wangen liefen, aber bald im Sand auf diesen Wangen versiegten. Er wischte sich die Augen, schüttelte, klopfte und nestelte an sich herum, erblickte seine Befreier und lachte endlich: „So sehen also meine Retter aus? Ohne euch wäre ich jetzt schon bei Allah!“ Sie lachten gemeinsam laut und befreit, und die Jungen begriffen, dass sie eben ein Menschenleben gerettet hatten. Mukhtar rief spitzbübisch: „Bei Allah soll es doch auch nicht schlecht sein; schließlich wohnt der im Paradies, und dort ist es allemal besser als in der Wüste!“ Arif und Achmed schauten ihren kessen Altersgenossen kritisch von der Seite an, aber der Fremde hatte verstanden und erklärte: „Da wirst du wohl recht haben, mein buckliger Freund, aber meine Zeit fürs Paradies scheint noch nicht gekommen!“ Er lachte erneut und fuhr fort: „Aber lasst mich euch erst einmal vorstellen: Ich bin Mustafa N’Atter, der Schlangenbeschwörer. Dort drüben steht mein Korb, gefüllt mit den giftigsten Schlangen der Wüste, und hier in meinem Gürtel steckt meine magische Schlangenflöte. Sie ist zwar noch etwas sandig, aber ich will ihr die richtigen Flötentöne schon wieder beibringen.“
„Au, da hatte ich ja richtig Glück, dass sich dein Schlangenkorb nicht öffnen ließ!“ erschreckte sich Mukhtar. „Vielleicht war es auch die Vorsehung?“, mutmaßte Mustafa. „Aber jetzt mal im Ernst: Mein Schlangenkorb