Andreas A.F. Tröbs

Wie der kleine Muck erwachsen wurde


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plötzlich nach seinem Korb und lief ohne ein weiteres Wort eilig hin. Achmed blickte dem Schlangenbändiger kopfschüttelnd nach, grinste die beiden Altersgenossen an und flüsterte: „Ich wusste noch gar nicht, dass SCHWUL eine ansteckende Krankheit ist!“ „Schwul sein, das ist doch keine ansteckende Krankheit! Entweder man ist schwul oder man ist es nicht!“ Achmed achtete nicht auf Mukhtars Worte und stichelte weiter: „Was glaubt ihr, wer von den beiden diese Krankheit zuerst besaß?“ Achmed schaute provozierend in die Runde. „Ich glaube, da haben sich zwei getroffen, die beide stockschwul sind und darum auch prima zusammengepasst haben!“, erklärte Arif altklug.

      „Ist doch eigentlich auch egal. Fakt ist, dass ihn die pinkfarbene Decke und die Geschichte mit dem Bullen verraten haben! Wie da seine Augen geleuchtet haben! Jetzt wissen wir, was das für einer ist! Aber“, er kicherte leise, „sich über ein schwules Kamel entrüsten! An die Story mit dem GPS glaube ich jedenfalls nicht!“, ereiferte sich Achmed. „Da hat er ganz schön dick auftragen! Oder hast du schon jemals davon gehört, dass ein Navigationssystem kein Kamelisch versteht?“ Die Jungen schüttelten stumm die Köpfe und beobachteten Mustafa, wie er eifrig seinen Schlangenkorb nach Beschädigungen untersuchte. Er machte schließlich ein zufriedenes Gesicht, schulterte den Korb und lief, mit der freien Hand heftig gestikulierend, zurück zu den Jungen.

      Der besondere Lohn

      Achmed hatte als erster sein Wettbüro errichtet. „Endlich kann ich auch mal das große Geld machen!“, freute er sich, und die Dorfbewohner stauten sich bereits vor seinem Schalter, als Hassan Ibn Odd Set, der Dorfälteste, erschien. „Seit wann darf denn ein Kind oder Jugendlicher ein Wettbüro leiten? Das ist doch erst ab dem 18. Lebensjahr gestattet!“ Er schnaubte wie ein wütender Stier und befahl dem Jungen ungehalten und ungeduldig, diesen Platz zu räumen. „Aber im Reglement steht keine Altersbegrenzung, von wegen ab 18 Jahren! Jedenfalls ist mir da nichts bekannt! Und außerdem habe ich Mustafa N’Atter das Leben gerettet! Ich war der Erste!“, versuchte Achmed zaghaft, dem Dorfältesten zu widersprechen.

      Hassan Ibn Odd Set schien jedes Mittel recht, Achmed von diesem Platz zu vertreiben, von dem er, der Dorfälteste, ahnte, dass er zur Goldgrube werden könnte. So griff er zu dem letzten Mittel, das ihm zur Verfügung stand und rief mit zorngerötetem Gesicht: „Ha, ha, Leben gerettet! Nun gut, jetzt empfehle ich dir aber, dein eigenes Leben zu retten!“ Er zückte seine neunschwänzige Katze und peitschte den Jungen, der vor Schmerzen laut aufschrie, aus dem Wettbüro, dann nahm er selbst, mit dem freundlichsten Gesicht der Welt, ganz so, als sei überhaupt nichts geschehen, den Platz hinter dem Wettschalter ein. Der Dorfälteste wusste, dass die Wetten so günstig wie noch nie standen. Die Bewohner des Dorfes kannten keine Schlangenbeschwörer. Sie hatten so einen fragwürdigen Menschen noch nie im Leben zu Gesicht bekommen. Sie wussten zwar um die Gefährlichkeit der Reptilien, aber sie kannten weder die Tricks noch die Kniffe eines Schlangenbeschwörers und schon gar nicht dessen magische Flöte, mit der er die Schlangen im Zaume und bei Laune hielt. Aber er, Hassan Ibn Odd Set, der kluge Dorfälteste, kannte diese Kniffs. Er kannte sie alle. Still lächelte er in sich hinein. Er würde als einziger auf Mustafa N’Atter als Sieger setzen, da war er sich sicher. Er hatte nämlich sehr schnell, klug und knallhart kalkuliert. Wenn Mustafa N’Atter wider Erwarten doch gebissen werden würde – halb so wild! Er, Hassan Ibn Odd Set, würde es schaffen, eine zweite Wette zu erfinden, dieses Mal nicht eine Wette auf Leben oder Tod des Schlangenbändigers, sondern eines Zuschauers. So würden unter Umständen gleich zwei Wettverhältnisse entstehen, die ihn, Hassan Ibn Odd Set, den Dorfältesten, in jedem Fall begünstigen und reich machen würden. Er würde gewinnen, in jedem Fall gewinnen. Dieser Gedanke wärmte ihm das Herz, sodass er vor lauter Freude fast wie einer der frechen Dorfjungen gehüpft wäre. Er war der Klügste, die anderen dumm und einfältig. Glaubte er. Diese einfachen Wüstenmenschen besaßen nicht seinen Scharfsinn, seine Schläue oder gar seine Hinterlist. Sie glaubten nur das, was sie sahen oder wussten, und das hielt er für sein Kapital.

      Achmed rieb sich die schmerzenden Gliedmaßen, sagte aber trotzdem träumerisch: „Ach, es wäre doch zu schön gewesen, aber der Dorfälteste …“, seine Stirn verfinsterte sich, er ballte die Faust und schaute hasserfüllt in Richtung des Wettbüros, „…wird seine Strafe auch noch bekommen!“ Dann drehte er sich brüsk ab und erklärte gleichmütig: „Wisst ihr was, ich habe keinen Bock mehr auf Schlangen und schon gar nicht auf Wetten! Aber, was könnten wir stattdessen nur anfangen?“ In diesem Augenblick ging ein Raunen durch die Menge. Hassan Ibn Odd Set hatte eben seinen letzten Wettkandidaten bedient, sein Wettbüro geschlossen und das Zeichen zum Beginn der Vorstellung gegeben. Mustafa N’Atter stand vor seinem Schlangenkorb, hob beschwörend beide Arme, ließ dann schnell einen Arm sinken, der streifte nur den Deckel und dieser sprang wie durch Zauberhand auf. Asad, der gleich neben Achmed stand und für jeden Streich zu haben war, flüsterte ihm ins Ohr: „Wir könnten doch heimlich die Schlangen vom Schlangenbeschwörer freilassen!“ Da erschallte eine anrührende und wehmütige Melodie, die alle gleichermaßen erfasste und verstummen ließ. Die Melodie kam aus Mustafa N’Atters magischer Flöte, und eine Königskobra, die sich plötzlich aus dem Korb erhob, ließ allen den Atem stocken. Die Schlange, die sofort ihre typische Drohhaltung mit dem gespreizten Halsschild zeigte, die Schlange, die Mustafa N’Atter im Schneidersitz vor seinem Korb sitzend mit dieser bezaubernden Melodie entzückte, diese Schlange wand und wogte sich immer weiter aus dem Korb empor. Das sah wie ein betörender Tanz aus. Die gesamte Zuschauerschar, die dieses Schauspiel andächtig verfolgte, schaukelte plötzlich genau wie die Schlange und ihr Bändiger, wie in einer vorübergehenden Bewusstseinstrübung, nach den Klängen der sonderbaren Melodie hin und her. Sie schienen alle wie verzaubert von den Künsten Mustafas und schauten mit geweiteten, sensationslüsternen Augen dem geschmeidigen Tanz der Schlange zu. Wann würde sie zustoßen und dem Schauspiel ein jähes Ende bereiten? Gäbe es ein Opfer? Wenn ja: Würde es den Schlangenbiss überleben? Doch die Schlange, die sich wie im Rausch bewegte, dachte nicht an Angriff, sondern nur an Tanz, den sie von den rhythmischen Bewegungen ihres Herrn und Meisters kopierte.

      Mustafa N’Atter hatte zu Beginn der Veranstaltung erklärt, dass die Schlangen durch den Sandsturm und die Wärme etwas gereizt seien und es keine lauten Geräusche seitens des Publikums oder sonstwoher geben dürfe, da er sonst für nichts garantieren könne. Jedoch Hassan Ibn Odd Set, der Dorfälteste, hatte sich, ungeachtet der Gefahr und auch, um besser sehen zu können, ganz nach vorn in die erste Reihe gedrängt. Er ging durch die Menge, sah in die sensationsgeweiteten Augen der Menschen und rieb sich inbrünstig, das gute Geschäft witternd, beide Hände. Alle sahen nur das Spiel der Schlange und keiner den falschen Glanz in den Augen des Dorfältesten und keiner seine Hände, die er sich geschäftstüchtig rieb, weil er wusste, dass Mustafa N’Atter ein erfahrener Schlangenbeschwörer ist. Solche Fakire und Lebenskünstler hatte er, während eines Einkaufbummels mit seinem Weib, schon mehrmals in den gläsernen Kolonnaden des Sultans erlebt. Nie taten die Schlangen etwas anderes als ihnen ihr Herr befahl. Mit diesem Wissen schaute Hassan Ibn Odd Set dem schaurig-schönen Tanz des giftigen Reptils mit glitzernden Augen weiter zu. Arif, dem die Aufregung der vormittäglichen Rettungsaktion Mustafa N’Atters noch in den Knochen gesteckt hatte, rief, wie eben zu sich gekommen, erbost aus: „Schlangen befreien? Bist du blöd? Ich habe keine Lust, von einer Schlange gebissen zu werden, um dann für alle ein jämmerliches Schauspiel und Grund für eine weitere Wette zu geben!“

      Alle schauten auf Achmed, der Arifs Einwand gar nicht so unbegründet fand. Doch plötzlich begannen Achmeds Augen zu leuchten: „Bei den Giftzähnen aller Schlangen, Arif hat recht! Aber dort steht Mukhtar. Passt mal auf, da ist mir doch in diesem Augenblick etwas eingefallen! Gleich gibt es was zu lachen!“ Und ohne eine Antwort von seinen Freunden abzuwarten, begann er sich an den buckligen Jungen heranzuschleichen. Arif rief noch leise und warnend: „Mit Mukhtar ist nicht gut Kirschen essen. Ich kenne da eine Geschichte ...!“ Asad, der von dem Unmut Achmeds angesteckt schien, erklärte so gleichmütig wie Achmed: „Bleib mir ja mit deinen Geschichten vom Leibe! Alles ist besser als dieser Schlangentanz hier!“ Dabei verdrehte Asad gekonnt die Augen, wog sich in den Hüften und ahmte die Bewegung Mustafa N’Atters nach, warf sich in den Sand und ließ ihn durch die Finger rinnen: „Es ist sooo stinklangweilig, los, Achmed, du hast doch immer die besten Ideen, trau dich!“ Achmed,