Andreas Nass

Erwachen


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      Die Luft flimmerte, ein Lufthauch waberte durch das Zimmer. Kerzen flackerten und ich hatte den Geschmack knusprigen Grillfleisches im Mund. Dann erschien eine kleine Gestalt mit Flügeln an der Stelle, die Luzius zuvor umrissen hatte, und plumpste hinab auf den Boden. Es war Imphraziel und er hatte den Mund noch geöffnet, um in etwas hineinzubeißen. Verdutzt sah er zu uns hinauf.

      »Und?«, fragte ich.

      »Topomok!«, fluchte Imphraziel. »Er ist da. Untrüglich.« Er streckte seine Flügel aus. »Und ich bin wieder weg. Dabei sah der Zwergenschenkel wirklich lecker aus.«

      »Nun denn«, folgerte ich an Luzius gewandt, »damit können wir eine Möglichkeit ausschließen. Was die Lösung des Rätsels noch schlimmer macht.«

      »Oh, mein Hals«, quäkte Imphraziel und rieb sich in Erinnerung an den Handgriff meines Bruders den Nacken.

      »Ja, ist gut, komm her.« Luzius hob ihn vom Boden auf. Wie ein kleines Kind schlang der Imp die kurzen Arme um meinen Bruder und ließ sich tätscheln

      »Wenn nicht Tashna’kam«, führte ich meine Gedanken fort, »wer dann? Kennst du einen Zauber, um einen Blick in die Vergangenheit zu werfen?«

      »Puh. Du kannst ja mal versuchen, eine Gottheit anzubeten, Crish.«

      »Verteufelt! Wenn sie einfach nur tot wäre, könnten wir sie fragen. Aber ohne Seele …«

      »Keine Wiederbelebung. Keine Antworten. Da war ein wahrer Profi am Werk.« Luzius wurde nachdenklich. Dann hatte er seinen Entschluss gefällt und sagte: »Das ist nicht zufällig geschehen. Kein Profi handelt ohne eine bestimmte Absicht und ohne einen Auftrag. Das Ziel war die Seele der Sterndeuterin, kein Zweifel. Ich werde dem Mordfall nachgehen. Du wirst dich um die Flöte kümmern.«

      »Ich werde sie zum Spielen bringen!«

      »Das wirst du, Schwesterherz. Das wirst du. Informiere mich, sobald du Erfolg hattest.« Luzius ging und nahm Imphraziel auf seinen Armen mit.

      Bevor ich das Flötenspiel fortsetze brauchte ich eine Erfrischung. Ich ging in das Badezimmer, rief meine beiden Sklavinnen herbei und gönnte mir eine ausgiebige Massage. Dazu trank ich Fruchtsäfte. Gestärkt widmete ich mich wieder der Querflöte. Im Salon entzündete ich Räucherstäbchen und setzte mich mit untergeschlagenen Beinen auf die gepolsterte Couch. Ich wollte allein sein.

      Schon nach einer kurzen Tonfolge konnte ich dem Instrument so klare Laute entlocken, dass sich gleich mehrere Ranken lösten. Sie dehnten sich aus und waren bald so lang wie meine Beine. Ich spürte die Dunkelheit. Die Luft wurde merklich kühler. Kerzen, die in Berührung mit den Schattengebilden kamen, erloschen. Schon bald umgab mich dichtes Rankenwerk. Eine dunkle Energie durchflutete mich, füllte mich. Die Dunkelheit war in mir. Die Schattenranken krochen über den Boden und wuchsen dann imaginäre Wände hinauf. Sie bildeten einen Raum aus Schattenwänden. Alles Licht erlosch.

      Schwärze.

      Stille.

      Etwas versuchte, in meine Gedanken einzudringen. Meine Gegenwehr oder die unbekannte Kraft machte mich müde. Ich riss die Augen aber wieder auf … und sah.

      In der Dunkelheit zeichnete sich ein Korridor ab und ich nahm eine schwarze, in Roben gehüllte Gestalt wahr. Ich blickte auf ihren Rücken. Mit geschmeidigen Bewegungen ging sie den Gang entlang. Sie zog einen Dolch aus dem Gewand und hielt ihn zur Seite. Dann stoppte sie vor einer Türe und öffnete sie behutsam. Die Tür führte in meine Gemächer. Ich sah mich selbst von hinten. Die Gestalt kam näher. Eine schwarz behandschuhte Hand streckte sich nach mir aus. Ich bemerkte sie nicht.

      Ich spürte eine Hand an meinem Hals und wurde mit dem Kopf zurückgerissen. Gleichzeitig bohrte sich ein Dolch von hinten direkt in mein Herz. Etwas riss an mir und meine Essenz begann zu schwinden.

      Schwärze umgab mich. Schmerz durchdrang mich. Ich trieb im Nichts.

      Vereinzelt zeigten sich Sterne. Sie bildeten ein Firmament, in dem das Gestirn des Arkanen Triumvirats hell aufleuchtete. Der Stern des Chaosmagiers strahlte am stärksten. Im nächsten Moment pressten sich Lippen auf meine Lippen. Sie waren sanft und weich, ihre Berührung zärtlich. Ein Kuss, dem ich mich ganz hingab, und der so zuckersüß schmeckte, wie ich noch nie zuvor einen Kuss genossen hatte. Der Kuss nahm den Schmerz und füllte mich mit Wärme. Er hob mich empor. Ich folgte ihm willig und dankbar.

      Ich sah die Schlüsseltätowierung auf dem Arm von Morrigaine, einer Magierin der Schwesternschaft der Nacht. Der verblasste Schlüssel füllte sich mit Farbe. Die arkane Meisterin stand vor einem gewaltigen, reich verzierten Tor und breitete ihre Arme aus. Die Flügeltüren öffneten sich. Die Silhouette einer Person zeichnete sich dahinter ab und trat hervor.

      Übergangslos wurde ich Zeuge, wie im Scharlachroten Tempel der gewaltige Koloss in sich zusammenfiel. Ich spürte ein Knistern. Dann breitete sich eine von grünen Linien durchzogene, schwarze Dunkelheit von dem zerfallenen Koloss aus und verschlang die ganze Stadt. Schreie. Nur wenige Gebäude am Rand der Metropole blieben erhalten. Das Nichts hatte sie sauber von dem, was einst war, durchtrennt.

      Sogleich sah ich wieder den Scharlachroten Tempel mit dem aufrecht stehenden Koloss, alles unversehrt. Mein Blick schweifte über das Land. Ich flog dahin und näherte mich der Labyrinthstadt. Ein triumphales Brüllen erschütterte mich. Mein Blick wanderte weiter. Die Stadt schien sich zu bewegen und schlängelte sich über Grund und Boden. Sie floss auf den Scharlachroten Tempel zu und bildete einen gewaltigen Irrgarten um die Metropole.

      Die Vision begann zu verblassen. Bilder wechselten sich in schneller Folge ab. Ich sah noch einige Personen, die ich kannte, aber nicht mehr deren Schicksale. Der letzte Eindruck war der Geschmack des Kusses auf meinen Lippen. Ohne Zweifel weiblich, die Frau war mir jedoch nicht bekannt.

      Zitternd sank ich auf meine Knie und küsste die Unbekannte weiterhin. Dann wurde ich gewahr, wie ich verdutzt die Flöte in meiner Hand anstarrte.

      »Was war das?«, fragte ich laut und sah mich im Raum um. Ich war allein.

      Mein erster Gedanke galt Luzius und ich erreichte ihn mit meinen telepathischen Kräften. ›Luzius, ich habe die Kraft der Querflöte entfesselt und in einer Vision gesehen, wie die Schlüssel das Tor geöffnet haben, von dem du gesprochen hast.‹

      ›Was befand sich dahinter?‹

      ›Leider konnte ich nur eine Silhouette ausmachen, keine Details, die auf das Wesen der Person schließen lassen. Aber das war nicht der Einzige Eindruck, den ich gewonnen habe. Luzius, ich habe gesehen, wie ich getötet wurde! Heimlich und Hinterrücks. Und das habe ich auch so real gespürt, dass mir noch immer der kalte Schweiß den Rücken runterläuft.‹

      ›Ich spüre deine Sorge, Schwesterherz. Was hast du noch gesehen?‹

      ›Da war ein Firmament aus unzähligen Sternen. Ich glaubte, das arkane Triumvirat darin wiederzuerkennen … und ich schmeckte einen unbeschreiblich wohligen Kuss …‹

      ›Wann … vor oder nach deinem Tod?‹

      ›Nach meinem Tod. Der Kuss hat mich wieder zum Leben erweckt.‹

      ›Wenn ich die Eigenheiten von Visionen betrachte, hat dich der Kuss und die damit verbundene Person wohl eher vor dem Tode bewahrt.‹

      ›Hm, das mag sein. Aber dann kenne ich die Retterin noch nicht, denn diese Lippen hätte ich bestimmt nicht vergessen. Da waren aber noch mehr Eindrücke, Luzius. Der Scharlachrote Tempel wurde von einem schwarzen Nichts verschlungen. In einer anderen Vision habe ich eine weitere Zukunft des Tempels gesehen, wo er von der sich bewegenden Labyrinthstadt umgeben wird. Das ist alles noch sehr verwirrend für mich. Die Eindrücke waren sehr wirklich, als hätten sie bereits stattgefunden. Bist du sicher, Bruder, dass ich das Tor öffnen soll? Woher hast du das?‹

      ›Wovon ich das habe?‹ Ich konnte sein Schnauben beinahe hören. ›Von unserem Herren und Meister! Und ich rate dir, mit niemanden darüber zu sprechen.‹

      ›Ich wüsste niemanden, mit dem ich darüber sprechen sollte, außer mit dir, Luzius. Und selbst wenn ich jemanden