Walter K. Ludwig

Die Wandlitz-Papiere


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hatte Niveau, das hatte Stil, das war eine Herausforderung für einen ausgebildeten Scharfschützen wie ihn, das war diskret, sauber und professionell. Musste er direkt am Objekt arbeiten, was ihm weniger lag, bevorzugte er ein Stück Wäscheleine, das zu seiner Grundausstattung gehörte und sich vorzüglich als Würgeinstrument eignete. Oder er nahm seine bloßen Hände, die in der Lage waren, einem Menschen binnen einer Sekunde das Genick zu brechen. Ehrliches, solides Handwerk. Messer aber machten immer eine Riesensauerei.

      Die Wohnung lag im zweiten Stock. Auf der Etage gab es noch zwei weitere Wohnungen. Die eine wurde von einem jungen Mann bewohnt, Typ Student, die andere stand derzeit leer. All das hatte er tags zuvor ausgekundschaftet. Gewissenhaft wie immer. Heute hatte er die Frau an ihrem Arbeitsplatz in der Zentralbibliothek aufgesucht. Er hatte sie sofort erkannt. Es schien ihr nicht gut zu gehen. Sie machte einen leidenden Eindruck, rannte nervös von einer Abteilung zur nächsten, bat ihre Kollegen um irgendwas, zog jedes mal erfolglos von dannen. Sie wirkte genervt. Dann wäre das ja sogar eine gute Tat, wenn er sie von ihrem Leid erlösen würde, hatte er boshaft gedacht.

       Bei einer fetten Qualle mit einer unmöglichen Frisur hatte sie schließlich offenbar doch Glück gehabt. Er war ihr dann in der U-Bahn bis zu ihrer Wohnung gefolgt. Ihr Zuhause lag nur wenige hundert Meter von der U-Bahn-Station entfernt. Sie hatte einen kleinen Umweg gemacht und in einem Supermarkt Obst, Brot und Katzenfutter gekauft. Katzenfutter? Von einem Haustier hatte sie ihm nichts gesagt! Griffen Katzen ein, wenn man ihrem Frauchen zu Leibe rückte? Wohl eher nicht. Egal, ein Hund wäre auf jeden Fall schwieriger gewesen.

      Wenn die Arbeit erledigt wäre, würde er noch einmal die Schwarze vom Kiez aufsuchen, beschloss er, das hatte er sich dann verdient. Die Wohnung lag am Eilbekkanal, der mit Bäumen und Sträuchern gesäumt war. Ideal für seine Zwecke, dort konnte er sich bis zum Einbruch der Dunkelheit verbergen. Hätte er einfach so stundenlang vor dem Haus herumgelungert, ohne Deckung, ungeschützt, wäre das sicher aufgefallen. Er war jetzt in der Wohnung. Der Fernseher lief. Die Frau war im Wohnzimmer. Vorsichtig schlich er durch den Flur. Die Wohnzimmertür war nur angelehnt, langsam drückte er sie auf und spähte in das Zimmer. Die Frau war nicht zu sehen. Dafür räkelte sich ein blödes, fettes Katzenvieh auf dem Sofa, das sofort hochschnellte, als es ihn erblickte und ihn mit großen Augen anstarrte. Sogleich begann es laut zu fauchen.

      „Herr Müller-Lüdenscheidt, was ist denn?“, tönte es aus dem Badezimmer.

      Da stand sie auch schon im Flur, nur mit einem Bademantel bekleidet, die Haare nass. Das ungläubige Staunen in ihren weit aufgerissenen Augen machte in der nächsten Sekunde fassungslosem Entsetzen Platz. Diese Sekunde nutzte er. Zwei, drei Schritte und er war bei ihr, versetzte ihr einen Kinnhaken. Sie schlug mit dem Kopf an die Badezimmertür, sackte sofort zusammen. Er kniete sich auf ihren Brustkorb, hielt ihr mit einer Hand den Mund zu, drückte mit der anderen ihre Kehle zusammen. Sie war nicht bewusstlos, aber benommen, ihre Gegenwehr war schwach. Der Schlag war recht stark gewesen.

      Na also, der Fall wäre erledigt, dachte er. Vielleicht zwei, drei Minuten noch, höchstens, dann hätte sie es überstanden. Ihre Schließmuskeln würden sich öffnen und er hatte Feierabend. Was machte das blöde Katzenvieh? Er wandte den Kopf Richtung Wohnzimmer. Das war ein Fehler.

       Denn so sah er den Mann nicht, der durch die Wohnungstür schlüpfte und durch den Flur glitt. Seine Bewegungen waren geschmeidig, präzise und blitzschnell. Der Mann wusste genau, was zu tun war, er zögerte keine Sekunde. Der Schlag kam von hinten und völlig unerwartet, auf beide Ohren gleichzeitig. Er verlor sofort jegliches Gleichgewichtsgefühl, fuhr herum.

      „Was zum Teufel ...“

       Er war schockiert. Er kam nicht dazu, auch nur den kleinsten Gedanken zu Ende zu denken. Er sah den Mann, er kam ihm irgendwie bekannt vor. Der Mann trat ihm ins Gesicht, mit einer unglaublichen Präzision und Härte, traf genau sein Kinn. Er überschlug sich, rollte durch den Flur Richtung Wohnzimmer. Er spuckte Blut und Zähne. Sein Schädel schien zu zerplatzen. Er tastete nach seiner Waffe. Eigentlich nur formhalber. Um das Gesicht zu wahren. Er wusste, dass er keine Chance hatte, nicht gegen ihn. Der Mann war ein Profi. Ein Nahkampfexperte der allerersten Garnitur. Vielleicht, wenn er nicht schon so angeschlagen gewesen wäre. Wenn sie sich gegenübergestanden hätten, Mann gegen Mann, Auge in Auge. Im ehrlichen Zweikampf. Aber auch dann nur vielleicht. So aber … Eigentlich hatte er schon nach dem ersten Schlag genug gehabt. Mit den Handballen auf beide Ohren. Von hinten. Hinterhältig. Gemein. Wo brachten sie den Leuten bloß so fiese Tricks bei? Er tippte auf Mossad. Oder CIA? Möglicherweise auch Delta Force. Aber was machte so einer hier? Wo kam der plötzlich her?

      Der nächste Schlag ging direkt auf seine Kehle. Knapp neben die Stelle, die sofort tödlich gewesen wäre. Ihm wurde schwarz vor Augen. Die Frau röchelte, hustete, sagte etwas. Das blöde Katzenvieh fauchte. Der Mann sagte etwas. Er verstand nichts. Dann verlor er das Bewusstsein. Angelika Maiwald stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Und doch: Zu dem Entsetzen gesellte sich etwas, das fast genauso stark war. Ungläubig staunend starrte sie den Mann an, der ihr soeben das Leben gerettet hatte.

       „Verdammt, Lenz, wo kommen Sie denn plötzlich her?“, presste sie mühsam hervor und begann zu husten.

      „Moment.“

      Es gab zunächst Wichtigeres zu tun. Lenz tastete Maiwalds Kopf ab, ihren Hals, ihr Gesicht, stellte fest, dass sie keine ernsthaften äußeren Verletzungen hatte.

      „Wie fühlen Sie sich?“, fragte er besorgt.

      „Beschissen."

      Lenz ging ins Badezimmer, füllte einen Zahnputzbecher mit Wasser, gab ihn Maiwald. Gierig trank sie. Dann begann sie zu schluchzen. Etwas unsicher und unbeholfen nahm Lenz sie in die Arme, versuchte sie zu trösten.

      „Es ist vorbei, der kann Ihnen nichts mehr tun.“

      Maiwald heulte los. Lenz ging zum Telefon, alarmierte Rettungsdienst und Polizei. Er durchsuchte den Angreifer, nahm ihm Revolver, Schalldämpfer und Messer ab. Mit einem Stück Wäscheleine, das er in seiner Hosentasche fand, verschnürte er ihn fachgerecht: Füße und Hände band er so zusammen, dass sich der Mann keinen Millimeter bewegen konnte, wenn er wieder zu Bewusstsein kam. Laut Pass handelte es sich um einen gewissen Sergej Dubajew, sechsunddreißig Jahre alt, geboren in Grosny, Tschtschenien, aber deutscher Staatsbürger. Ob der Pass echt war? Es klingelte an der Wohnungstür. Polizei und Rettungsdienst.

      „Lenz?“

      Angelika Maiwald wollte unbedingt noch etwas loswerden, bevor es in ihrer Wohnung jetzt gleich von fremden Leuten wimmeln würde.

      "Ja?“

      „Danke.“

      „Schon gut. Gern geschehen."

       * * *

      Holzinger war ein misstrauischer, alter Hund. Kriminalhauptkommissar Georg Holzinger vom Hamburger Landeskriminalamt. Abteilung Staatsschutz. Mit einem Kollegen hatte er Lenz an dessen Arbeitsplatz in der Bibliothek aufgesucht. Die Maiwald war krankgeschrieben. Die Streifenbeamten hatten am Abend zuvor mehr oder weniger bloß Maiwalds und Lenz´ Personalien aufgenommen. Angelika Maiwald war nicht vernehmungsfähig gewesen, Lenz ziemlich wortkarg. Jetzt wollte es Holzinger ganz genau wissen. Lenz kam es so vor, als ob er seine Geschichte nun schon ungefähr zum zehnten Mal erzählte.

      Wie ihm am Nachmittag aufgefallen war, dass ein Mann die Kollegin Maiwald beobachtete. Wie er bemerkte, dass der Mann ihr hinterher spionierte. Ihr nach Dienstschluss folgte. Wie er sich dann seinerseits an dessen Fersen heftete. Warum? Keine Ahnung, einem unguten Gefühl folgend, irgendwie.

      „Bemerkte der Mann nicht, dass er verfolgt wurde?“

      „Offenbar nicht.“

       Wie er sah, dass der Mann vor Maiwalds Wohnung Position bezog, dort wartete, stundenlang, bis zum Anbruch der Dunkelheit. Wie er dann in die Wohnung eindrang. Wie er ihm folgte.

      „Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?“

      „Dazu war keine Zeit mehr, ich meine, er war in ihrer Wohnung ...“

      „Mit dem Handy wäre das doch ganz schnell gegangen.“

      „Ich