Walter K. Ludwig

Die Wandlitz-Papiere


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Gerne, danke.“

      „Bitte, gerne.“

      Angelika Maiwald hatte Lenz zum Essen zu sich nach Hause eingeladen. Moritz Lenz, ihren Retter. Den Mann, den sie bisher kaum beachtet hatte. Den sie ganz offensichtlich völlig falsch eingeschätzt und unterschätzt hatte. Von dem sie zwar auch keine schlechte Meinung gehabt hatte. Sie hatte einfach gar keine Meinung über ihn gehabt. Sie hatte ihn kaum wahrgenommen, konnte sich nicht erinnern, jemals über ihn nachgedacht zu haben. Natürlich hatte sie mitbekommen, dass manche Kolleginnen über ihn tuschelten, sich über ihn lustig machten. Sie hatte sich da immer rausgehalten. Es hatte sie nicht interessiert. Und jetzt plötzlich das: Wieder und wieder hatten sich die Bilder vom Abend des Anschlags in ihrem Kopf abgespielt. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Lenz, dieser blasse, unscheinbare Bibliothekar als Elitekämpfer. Als Held. Der einen gefährlichen und bewaffneten Profikiller mit bloßen Händen innerhalb von Sekunden mal eben so ausschaltete, als ob es das Normalste der Welt sei, ohne dabei auch nur außer Atem zu kommen. Mit eiskalter Präzision. Der ihr dann einen Becher mit Wasser unter die Nase hielt mit den Worten, sie brauche nun keine Angst mehr zu haben. Und sie dann in seine Arme nahm. Unglaublich, dieser Mann. Sie sah ihn jetzt mit ganz anderen Augen.

       Noch etwas hatte sie im Laufe den Abends bemerkt, etwas, das sie gleichzeitig beruhigte und irritierte: In Lenz´ Gegenwart fühlte sie sich sicher. Angelika Maiwald kam sich vor wie in einem Film.

       Einem Film allerdings, den sie sich selber niemals angesehen hätte.

      Sie hatte gekocht. Das machte sie selten, aber wenn, dann ziemlich gut. Sie hatte eine Vorliebe für deftige Hausmannskost und Lenz hatte, seine Vorliebe für Sushi und andere exotische Köstlichkeiten verschweigend, höflich zugestimmt, als sie ihn einlud und gleichzeitig davon in Kenntnis setzte, was sie zu kochen plante: Knusprig gebratene Ente mit Semmelknödeln und Rotkohl. Dazu ein leichter Salat und Rotwein. Lenz, der eigentlich gar keinen Alkohol trank, hatte ein weiteres Mal mit seinen wahren Vorlieben hinter dem Berg gehalten und sein eigentliches Lieblingsgetränk schamhaft verschwiegen: Am liebsten trank er Milch. Aber Ente mit Milch, das hatte er seiner Gastgeberin dann doch nicht zumuten wollen. Inzwischen waren sie beim Dessert angekommen – Mousse au Chocolat. Lenz, der eine Schwäche für Süßigkeiten jedweder Art hatte, war sehr angetan. Auch die Ente mit Knödeln hatte ihm ausgezeichnet geschmeckt, erinnerte sie ihn doch an seine süddeutsche Heimat und an seine Mutter. Wenngleich ihm die ungewohnte Kost jetzt etwas schwer im Magen lag.

       Gerne hätte er seine Gastgeberin nach einem Klaren gefragt, wagte es aber nicht. Der ungewohnte Alkohol war ihm ohnehin schon etwas zu Kopf gestiegen. Den ganzen Abend hatten sie Höflichkeiten und Belanglosigkeiten ausgetauscht, hatten sich vorsichtig aneinander herangetastet. Immerhin hatte Lenz erklärt, warum er an besagtem Abend so plötzlich in der Wohnung aufgetaucht war. Wieder staunte Angelika Maiwald. Sie hätte nicht gedacht, dass Lenz ein so scharfer Beobachter war. Aber es lag die ganze Zeit noch etwas in der Luft. Es schwebte im Raum. Jeder wusste vom anderen, dass er ein Geheimnis hatte. Ein Geheimnis haben musste. Hätte sonst ein Profikiller versucht, Angelika Maiwald zu ermorden? Wäre Lenz sonst in der Lage gewesen, diesen auszuschalten? Jeder hätte vom anderen gerne dessen Geheimnis erfahren.

       Maiwald machte den Anfang.

      „Wo haben Sie das eigentlich gelernt?“

      „Was meinen Sie?“

      „So zu kämpfen.“

      Lenz zögerte. Also gut.

      „Bei der Bundeswehr.“

      Maiwald lachte.

      „Was ist?“

      „Nun ja. Mein Verflossener war auch bei der Bundeswehr.“

      „Und?“

      „Der ist nicht mal in der Lage, einen Kasten Bier vom Getränkemarkt bis zum Parkplatz zu schleppen.“

      „Es war eine spezielle Einheit“, sagte Lenz leise.

      Maiwald schaute ihn nachdenklich an. „Wohl sehr speziell?“

      Lenz nickte.

      „Was ist passiert?“

       ***

       Zehn Jahre vorher. Irgendwo in Afrika.

       „Los, los, los, schnell, schnell, schnell!“

      Die beiden eben gelandeten Helikopter verursachen eine Menge Lärm, Wind und Staub. Die Menschen rennen auf sie zu. Hinter ihnen wird geschossen. Staub im Auge oder eine Kugel im Kopf, das ist die Wahl, die sie haben. Etwa dreißig völlig verängstigte Zivilisten. In ihre Gesichter hat sich Panik gegraben. Zwanzig Soldaten des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr versuchen, sie in Sicherheit zu bringen. Die Zivilisten werden von den Soldaten flankiert und gesichert, während sie auf die Hubschrauber zu rennen. Einige der Zivilisten sind verletzt, sie humpeln. Zwei können gar nicht mehr gehen und werden von Soldaten getragen. „Boger, Reisinger, die linke Flanke!“

       Hauptmann Lenz leitet die Operation als befehlshabender Offizier. Er hat soeben zwei Männer verloren, aber keine Zeit zu trauern. Er funktioniert wie eine Maschine, tut, was getan werden muss.

       „Schneider, Reith, nach rechts!“

       Die Zivilisten sind Mitarbeiter einer deutschen Hilfsorganisation. Vor vier Wochen wurden sie von Rebellen als Geiseln genommen. Die Rebellen forderten von der Bundesregierung hundert Millionen Dollar Lösegeld. Die weigerte sich jedoch, zu zahlen. Und schickte stattdessen Lenz und seine Männer. Eben haben die Soldaten die Geiseln nach einem heftigen Feuergefecht befreit und dabei viele der Rebellen getötet. Lenz selber sichert mit seinem G36 den rückwärtigen Raum, an seiner Seite Boger und Reisinger, seine besten und erfahrensten Leute. Sie sind in Stellung gegangen, haben ihre Sturmgewehre im Anschlag und feuern. Es sind fast fünfzig Grad Ceslsius. Nun ist es fast geschafft. Die befreiten Geiseln haben die Transporthubschrauber erreicht, klettern hinein. Als alle in den Helikoptern sind, klettern die meisten Soldaten ebenfalls hinein. Einige bleiben noch draußen und sichern und feuern. Feuern. Feuern. Dann springen auch sie in die Helikopter.

       Boger, Reisinger und Lenz sind die letzten.

       „Jetzt ihr beide, ab mit euch!“

       Lenz feuert ein weiteres Magazin in Richtung Rebellen ab. Boger und Reisinger rennen los, erreichen die Helikopter und hechten hinein. Jetzt Lenz. Er spurtet los. Seine Leute geben ihm Feuerschutz, schießen aus allen Rohren. Etwa hundert Meter bis zu den Helis. Die Leichen der beiden gefallenen Kameraden haben sie mitgenommen. Das hat er befohlen. Die sollen in der Heimat ein würdiges Begräbnis bekommen. Mit militärischen Ehren. Der eine war fünfundzwanzig Jahre alt, der andere neunundzwanzig. Ist es Zivilisten zuzumuten, mit zwei Leichen an Bord zu fliegen? Er denkt schon. Die Zivilisten sind Ärzte, Krankenschwestern, Techniker und Ingenieure. Allesamt schon länger in Afrika. Von daher Leichen gewohnt. Dort liegen Tote manchmal tagelang auf der Straße herum, einfach so, und niemand kümmert sich darum. Bei Touristen wäre das vielleicht anders. Die hätten sich womöglich über fehlende Klimaanlagen in den Helis beschwert.

       Siebzig Meter.

       Es ist das erste Mal, dass er bei einem Einsatz jemanden verloren hat. Einmal, vor zwei Jahren, in irgendeinem anderen gottverdammten Krisengebiet dieser Erde, wurde einer seiner Leute schwer verwundet. Ein Hauptfeldwebel, dreißig Jahre alt, ruhiger besonnener Mann. Schweres Schädel-Hirn-Trauma, beide Beine weg.

       Fünfzig Meter.

       Aber jetzt zum ersten Mal Tote. Zwei. Scheiße. Aber er wundert sich nicht. Wundert sich kein bisschen. Wundert sich höchstens darüber, dass es erst jetzt passiert ist, nicht schon früher. Seit sie die Bundeswehr zur Weltpolizei umfunktioniert haben, hat man damit ja rechnen müssen.

       Dreißig Meter.

       Lenz empfindet keine Trauer. Jetzt