Walter K. Ludwig

Die Wandlitz-Papiere


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Haben die beiden einen Fehler gemacht? Womöglich nicht genügend auf Eigensicherung geachtet? Lenz denkt, all diese Fragen mit Nein beantworten zu können. Verluste sind bei solchen Einsätzen manchmal einfach unvermeidlich. Klar, eine Untersuchung wird es geben. Wie immer bei solchen Vorfällen. Aber der kann er mit gutem Gewissen entgegensehen. Auftrag ausgeführt, bei geringfügigen eigenen Verlusten, so würde die knappe Meldung an seinen Kommandeur lauten. Geringfügige Verluste. Allein die Formulierung macht ihn schon rasend. Aber so lautet die Militär-Terminologie.

       Zwanzig Meter noch.

       Hinter Lenz rattert eine Kalaschnikow los, mit ihrem unverwechselbaren, trockenen Sound. Boger und Reisinger feuern sofort zurück. Lenz fliegen die Kugeln jetzt aus zwei Richtungen un die Ohren, von vorne und von hinten, er hört sie regelrecht an seinem Kopf vorbei zischen. Dann explodiert zunächst der eine Hubschrauber, dann der andere. Lenz wird durch die Wucht der Detonation mehrere Meter durch die Luft geschleudert, bleibt aber, von einigen Prellungen und Abschürfungen abgesehen, unverletzt.

       All seine Leute sowie sämtliche Zivilisten sterben in den Flammen. * * *

       „Die Schreie höre ich noch heute.“

      „Mein Gott, Lenz, das ist ja furchtbar.“

      „Muss wohl ein Raketenwerfer gewesen sein. Waffen haben die da unten ja genug. Nichts zu essen, aber Raketenwerfer.“

      Maiwald tastete nach Lenz´ Hand, ergriff sie.

       „Angeblich hat ihn ein Kind abgefeuert. Wir konnten doch nicht auf Kinder schießen, oder?"

      Er hatte ihr, bei Mousse au Chocolat und klassischer Musik, die ganze Geschichte erzählt. Er hatte sie zum ersten Mal jemandem erzählt.

      „Das konnten wir doch nicht, oder?“

      Hatte ihr erzählt, wie er in den Busch geflüchtet war. Wie er sich ganz alleine fast eine Woche durchgeschlagen hatte. Immer die blutrünstigen Suchtrupps der Rebellen auf den Fersen.

       „Oder hätten wir das machen sollen? Hätten Sie das gemacht?“

      Maiwald schüttelte den Kopf.

      „Natürlich nicht.“

      Wie er dann in ein gottverlassenes Kaff gekommen und dort tatsächlich auf einem Nonne mit Satellitentelefon getroffen war. Eine Nonne mit Satellitentelefon, wirklich wahr. Wie er dann direkt das Einsatzführungskommando in Deutschland angerufen und seine Position durchgegeben hatte. Wie sie ihn da rausgeholt hatten.

      Und wie sie ihm später das Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold und die Entlassungsurkunde überreichten, gleichzeitig.

      „Die Entlassungsurkunde?“

      „Ja, auf eigenen Wunsch.“

      Er sei nach der Katastrophe nicht mehr in der Lage und auch nicht willens gewesen, jemals wieder irgendetwas mit Waffen und Gewalt zu tun zu haben. Totales Trauma.

      „Kann ich verstehen. Dennoch: Sie haben ja keinen Fehler gemacht. Oder hat man Ihnen einen Vorwurf gemacht?“

      „Es gab natürlich eine Untersuchung. Bei der kam heraus, dass ich mich vollkommen vorschriftsmäßig und sogar vorbildlich verhalten hatte. Trotzdem ist es ein sehr merkwürdiges Gefühl, wenn man der einzige Überlebende einer solchen Aktion ist. Noch dazu, wenn man der Verantwortliche war.“

      Nach seinem Abschied von der Truppe habe er ein neues Leben begonnen, sei ein ganz anderer Mensch geworden. Und habe sich einen neuen Beruf gesucht.

      „Das war aber ein extremer Wandel.“

      „Wenn schon, denn schon.“

      Flucht? Klar sei das eine Art Flucht, Flucht vor seinem früheren Leben. Ein Versuch, Heilung zu finden.

      „Und in meinem neuen Leben fühle ich mich sehr wohl, das können Sie mir glauben.“

      Ein Leben zwischen Bonsais, Büchern und Beethoven.

      „Vorgestern Abend, das war gewissermaßen ein Ausrutscher.“

      „Ein Ausrutscher, der mir das Leben gerettet hat“, stellte Maiwald klar.

      „Dass Sie das noch so drauf haben, dass Sie noch so fit sind, nach all den Jahren“, wunderte sie sich.

      „Ehrlich gesagt: Das wundert mich auch. Das ist gewissermaßen reflexartig abgelaufen. Wir wurden damals während der Ausbildung dermaßen gedrillt, dass uns das wohl in Fleisch und Blut übergegangen ist.“

      Hinterher, als es vorbei war, als der den Attentäter überwältigt hatte, hätten ihm aber ganz schon die Knie geschlottert, gestand er ein. Herr Müller-Lüdenscheidt hörte die ganze Zeit aufmerksam zu.

       "Jetzt können Sie mir aber auch Ihr Geheimnis verraten“, fand Lenz.

      „Geheimnis? Welches Geheimnis? Ich habe keines.“

      „Also, immerhin hat irgendjemand einen Profikiller auf Sie angesetzt, da muss also irgendetwas sein.“

      Maiwald zuckte hilflos mit den Achseln.

      „Das hat die Polizei auch schon gesagt. Aber mein Leben ist vollkommen langweilig und ereignislos.“

      Wie meines, dachte Lenz. Mein zweites.

      Maiwald zögerte, schaute Lenz in die Augen. Doch, sie vertraute ihm.

      „Na ja, da wäre höchstens diese eine Sache. Aber ich kann mir nicht vorstellen ...“

       „Welche Sache?“

      „Die Erbschaft. Ich habe kürzlich geerbt. Von einem entfernten Onkel in der früheren DDR. Ich kannte ihn gar nicht. "Was denn? Geld?“

      „Schön wär's. Nein, bloß ein paar vergilbte Papiere.“

      Lenz wurde hellhörig.

      „Papiere? Aus der DDR?“

      „Ja. Und ein paar Bücher. Ach, Erbschaft ist eigentlich zu viel gesagt. Ich habe halt den Nachlass übernommen. Der Onkel ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und das Erbschaftsgericht hat mich als einzige lebende Verwandte ausfindig gemacht. Ich hätte das Erbe auch ablehnen können.“

      „Und der Nachlass besteht aus Büchern und Papieren?“

      „Und aus ein paar alten Möbeln halt. Aber die hab' ich einer karitativen Einrichtung gespendet. Den übrigen Hausrat auch.“

      „Alles?“

      „Bis auf den Schreibtisch. Der gefiel mir so gut, der sieht so altertümlich aus. Dort steht er übrigens.“

      Maiwald deutete in die Ecke. Das klobige, schwarze Ungetüm machte auf Lenz den Eindruck, als habe es nicht nur die DDR, sondern auch schon das Dritte Reich erlebt.

      „Bei den Büchern sind übrigens einige Fontane- und Eichendorff-Erstausgaben dabei. Das interessiert Sie vielleicht. Wenn Sie möchten, zeige ich sie Ihnen gerne mal.“

      „Oh ja, gerne!“ Lenz war hoch erfreut.

      „Das dachte ich mir.“

      Maiwald lachte und wollte aufstehen, um die Bücher zu holen.

      „Und was sind das für Papiere, von denen Sie sprachen?“

      Maiwald setzte sich wieder.

      „Das ist bloß ein Karton mit privater Korrespondenz. Briefe, Ansichtskarten. Sogar Stromrechnungen und so was. Absolut belangloses Zeug. Und ziemlich vergilbt, wie gesagt.“

      „Ach so.“

      Lenz schien enttäuscht. Trotzdem. Irgendetwas hatte sein Unterbewusstsein berührt. War es der Begriff „Papiere“, in Verbindung mit „Korrespondenz“ und „DDR“? Sein militärisch trainierter Instinkt war jedenfalls, nach langen Jahren, sofort erwacht und lief auf Hochtouren.

      „Was hat Ihr Onkel eigentlich beruflich gemacht?“

      „Nichts