das Wasser raubte Baldur fast das Bewusstsein. Mühsam kämpfte er darum, nicht zu ertrinken. Immer wieder wurde er von der Gewalt der Wassermassen am Atmen gehindert. Er verlor die Orientierung, sodass er bald nicht mehr erkennen konnte, wohin er schwimmen musste, um an der Oberfläche zu bleiben. Sein Kopf prallte gegen einen im Wasser verborgenen Felsen und er schrie vor Schmerz auf. Das hatte zur Folge, dass er einen beträchtlichen Teil Wasser schluckte. Er hustete und prustete, aber seine Kräfte begannen bereits zu erlahmen. Verzweifelt klammerte er sich an sein Bewusstsein. Ihm war klar, dass es sein Todesurteil wäre, wenn er seiner Schwäche nachgeben würde. In dem Moment, als er glaubte, den Kampf endgültig zu verlieren, spürte er, wie er fest an den Beinen gepackt und nahezu mühelos aus dem Wasser gehoben wurde. Das Letzte, was er sah, ehe ihn der Schlaf der Erschöpfung umfing, war ein riesiger Bär, der scheinbar interessiert auf sein Gesicht herunter starrte.
4.
Tim, der alte Bär, lebte schon seit vielen Zeitaltern an den Ufern des Flusses.
Er hatte einst seinen Freund, den Fuchs, losgeschickt, um Ursula zu Widukind zu führen, er hatte die hungrige Frau mit Honig versorgt und in den kalten Nächten durfte sie sich an sein Fell schmiegen. Er war es auch, der sich um die leblosen Körper der Liebenden gekümmert hatte. Zuerst um Ursula und Jahre später um Widukind. Doch niemals würde er jemandem verraten, was mit Ihnen geschah.
Und nun saß er hier, ratlos, am Ufer des Nerd.
„Achte auf die Zwillinge der Hexe“ hatten sie ihm gesagt.
„ Beschütze sie, wenn du Ihnen begegnest“ lautete sein Auftrag.
Und er hatte ihn erfüllt! Stolz betrachtete er das Menschenkind zu seinen Füßen. Das Junge wäre ertrunken, wenn er, Tim, es nicht gerettet hätte.
Doch wie sollte es jetzt weitergehen? Er war ein Bär und nicht in der Lage, sich um ein Menschenjunges zu kümmern. Betrübt leckte er dem Jungen das Gesicht, worauf dieser undeutliche Worte zu murmeln begann. Erschrocken fuhr der Bär zurück. Es war an der Zeit, zu verschwinden, bevor das Kind wieder zu sich kam. Fast lautlos zog sich der alte Tim zurück und als Baldur Augenblicke später die Augen öffnete, glaubte er, von einem Bären geträumt zu haben, der ihn aus dem Fluss gerettet hatte.
Etwas benommen betrachtete Baldur die Umgebung, in die es ihn verschlagen hatte. Er saß unweit des Flusses auf einer Wiese am Waldesrand. Vor ihm, in Richtung Süden schien die Wiese endlos zu sein. Hinter ihm lag schweigend der Nadelwald und nordöstlich erhoben sich die gewaltigen Berge, in denen sich, verborgen in einem tiefen Tal, Ursulas Höhle befand. Sehnsüchtig blickte Baldur in diese Richtung in der Hoffnung, Hildas roten Haarschopf irgendwo auftauchen zu sehen. Aber er konnte nichts sehen. Dafür sah man ihn umso besser, wie ihm plötzlich bewusst wurde. Was, wenn die Traumfänger Hilda getötet hatten und jetzt auf der Suche nach ihm waren? Er konnte nicht hier bleiben, sondern musste zurück in den Wald. Dort war er sicher. Allerdings hatte Hilda gesagt, er solle nach Süden gehen. In dieser Richtung erstreckte sich, soweit das Auge reichte, eine Graslandschaft. Es gab dort kaum Möglichkeiten, sich vor etwaigen Verfolgern zu verstecken. Baldur beschloss, Hildas Rat vorerst zu ignorieren. Er würde im Schutze des Nadelwaldes in Richtung Westen wandern, geradeso, als hätte er mit Rosa und Hilda die Schlucht mit Ursulas Höhle überquert um den einmal eingeschlagenen Weg geradlinig fortzusetzen. Er konnte nicht ahnen, dass diese Entscheidung weitreichende Konsequenzen haben, und sehr viel Leid nach sich ziehen würde.
Nicht einmal fünf Meilen südlich von Baldurs jetzigem Standort wurde die Wiese von einem kleinen Bach zerschnitten. Auf der einen Seite des Baches begann ein kleines Wäldchen, auf der anderen Seite stand eine Hütte vor deren Tür ein alter Mann saß, der gemütlich eine Pfeife rauchte und geduldig auf das Erscheinen des Bruders der kleinen Freya wartete.
Doch dies konnte der Junge nicht ahnen. Und so kam es, dass Baldur seine Schritte hinein in den Tannenwald lenkte, fort von der Wiese, seiner Schwester und dem alten Thoralf, der sich seit einiger Zeit um Freya kümmerte.
Als am Abend desselben Tages eine abgekämpfte Hilda den Fluss überquerte und die Blumenwiese betrat, konnte sie nicht wissen, dass Baldur entgegen ihres Rates in Richtung Westen weitergegangen war. Sie setzte ihre Reise nach Süden fort und der alte Tim, der das Geschehen beobachtete, schüttelte seinen gewaltigen Kopf und dachte „Menschen!“. Dann trottete auch er von dannen, immer auf der Spur des Menschenjungen, den zu beschützen er versprochen hatte. So nahm das Schicksal seinen Lauf und niemand vermag heute zu sagen, ob es gut oder schlecht war, dass Baldur erst sehr viel später bei Thoralf ankam.
Eines jedoch ist gewiss; die Zeit zwischen der Schlacht in Ursulas Höhle und dem Beginn der Ausbildung bei Thoralf machte aus dem Kind Baldur einen mutigen jungen Mann.
Die Sonne begann, sich dem Horizont zu nähern, die Dämmerung zog herauf.
Obwohl Baldur im beständigen Zwielicht inmitten der Nadelbäume unterwegs war, konnte er doch die Veränderung wahrnehmen. Hatte er sich zunächst vor dem Wald gefürchtet, so verstand er mittlerweile immer besser, was Rosa gemeint hatte, als sie sagte, die Tannen und Kiefern seien die freundlichsten Geschöpfe in diesem Teil der Welt. Er fühlte eine Geborgenheit, wie schon lange nicht mehr. Die Schatten zwischen den Bäumen bargen keinen Schrecken für ihn, im Gegenteil, sie waren warm und freundlich. Sie schützten ihn vor fremden Blicken und die dicke Schicht brauner Tannennadeln, die auf dem gesamten Waldboden verteilt war würde ganz sicher ein bequemes Nachtlager bilden. Während Baldur seine Gedanken schweifen lies, merkte er nicht, dass die Abstände zwischen den Bäumen immer größer wurden. Unvermittelt betrat er eine Lichtung und stieß einen überraschten Schrei aus, als er feststellte, dass er nicht allein war. Auf der Lichtung stand ein junger Mann, in grüne und braune Gewänder gekleidet. Im Moment beugte er sich über einen Hirsch, den er allem Anschein nach gerade erlegt hatte. Als er den Schrei in seinem Rücken vernahm, fuhr er mit dem Messer in der Hand herum.
„Nun, was mag das für eine Geschichte sein? Ein Kind allein im Wald, die Nacht beginnt bereits und weit und breit kein Unterschlupf“
Amüsiert betrachtete der Fremde Baldur.
„Wirst du sie mir erzählen, deine Geschichte?“
Eigentlich schien von dem Fremden keinen Gefahr auszugehen, irgendwie war er Baldur sofort sympathisch, aber Hilda hatte ihn gewarnt, niemandem zu vertrauen. Andererseits war er bewaffnet und hatte gerade ein königliches Abendessen erlegt. Baldur beschloss, nur einen Teil seiner Geschichte preiszugeben.
„ Mein Name ist Baldur und ich war unterwegs mit meinen beiden Tanten. Wir wollten meinen Onkel besuchen. Doch wir wurden von Räubern überfallen und getrennt. Ich bin in den Fluss gefallen und habe das Bewusstsein verloren. Jetzt bin ich hier, wo immer das auch sein mag, und weiß nicht, wo ich hingehen soll“
Das war eine extrem vereinfachte Form seiner Geschichte, die so nahe an der Wahrheit blieb, wie es dem Jungen geraten schien.
„Nun, das mag so sein, oder auch nicht. Wenn interessiert es? Jedenfalls hast du Glück, dass wir uns begegnet sind. Nicht weit von hier befindet sich das Dorf, in dem ich wohne, doch ohne meine Hilfe hättest du es sicher nicht gefunden. Du bist herzlich eingeladen, die Nacht in einer behaglichen Hütte zu verbringen. Ich bin ein Niemand, denn so nennen wir uns selber. Wir sind unsichtbar für die anderen Menschen, weil wir gelernt haben, uns zu tarnen. Immer wenn jemand meint einen Schatten vorbeihuschen gesehen zu haben und ruft „ Hallo, wer ist dort?“, aber niemand reagiert, beantwortet er seine Frage selber: „Niemand“. Das ist der Grund, warum wir uns so nennen.“
Unwillkürlich musste Baldur lächeln. Hatte ihm Hilda nicht geraten, Niemandem zu trauen? Nun, hier war ein Niemand! Hieß das jetzt, dass er ihm trauen konnte?
„ Wenn ihr solche Meister im Tarnen seid, dass ihr nahezu unsichtbar werdet, muss ich wohl über den magischen Blick verfügen. Ich sehe dich klar und deutlich.“
Jetzt lächelte auch der Niemand.
„ Ich war unvorsichtig. Seit vielen Tagen bin ich auf der Jagd, es sind schwere Zeiten. In den Wäldern lebt kaum noch Wild und alle quält der Hunger. Keiner weiß, wohin die Tiere verschwunden sind.“
Der