Olaf Falley

Im Bann der Traumfänger


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die froh waren, einen Leidensgenossen gefunden zu haben. So lebten sie viele Jahre glücklich in der Abgeschiedenheit des Waldes und es gelang Ursula immer besser, die Besessenheit Widukinds zu kontrollieren, bis ihnen die Traumfänger auf die Spur kamen. Es war ausgerechnet einer jener Momente, in denen der Mondwagen über den Sonnenwagen hinweg zu fahren schien. Die Welt war trüb und dämmrig, der Wahnsinn in Widukind riss an seinem Gefängnis, als die Traumfänger über die Höhle herfielen. Um sich selbst wehren zu können, musste Ursula ihren Geliebten allein den Kampf gegen seine Besessenheit führen lassen, und Widukind verlor diesen Kampf. Wie ein Wüterich kam er über die Eindringlinge. Er kämpfte tapfer und erschlug wohl auch den Einen oder Anderen, doch als sein Blick sich wieder klärte, die Reinheit in seinen Kopf zurückkehrte, sah er das Ausmaß der Tragödie. In seiner Raserei hatte er den einzigen Menschen erschlagen, der ihm etwas bedeutet und den er über alle Maßen geliebt hatte, Ursula. Als er seine Geliebte in einer großen Lache ihres eigenen Blutes liegen sah, verließ der Verstand für immer seine Heimstatt hinter Widukinds Stirn und überließ dem Wahnsinn das Feld. Es heißt, er hätte für den Rest seines Lebens in seiner Höhle gehaust und ununterbrochen Ursulas Namen in den Wald geschrien. Als er gestorben war, kam ein riesiger Bär und trug seinen Leichnam fort. Niemand weiß, ob er begraben oder zu guter Letzt von den Tieren, zu denen er ein so inniges Verhältnis gehabt hatte, gefressen wurde.“

      Baldur fröstelte. Das war genau die Art Geschichte, die garantiert einen Platz in seinem Kopf finden und sich immer dann in Erinnerung bringen würde, wenn er irgendwo einsam versuchte einzuschlafen.

      „Dort vorn ist der Eingang“

      Durch den Regenvorhang konnte Baldur nichts erkennen. Erst einige Dutzend Schritte später begann sich ein dunkler Umriss zwischen den Bäumen abzuzeichnen. Allerdings war dies nicht etwa der Eingang zu Ursulas Höhle, denn in diesem Fall hätte man kaum von einem Versteck sprechen können, vielmehr handelte es sich um einen Felsbrocken, der am Rande einer tiefen Schlucht lag. Baldur musste sofort an die Donnerschlucht denken, die um ein Haar sein Grab geworden wäre, nur brauste am Grunde dieser Schlucht kein Fluss zwischen den Felswänden dahin.

      Auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht änderte sich das Aussehen der Landschaft. Waren sie bisher unter den Ästen von Eichen und Buchen, Ulmen und vereinzelten Birken unterwegs gewesen, so begann dort drüben die düstere Herrschaft der Nadelbäume. Es kam Baldur vor, als ständen sich zwei Heere gegenüber, der freundliche, lichtdurchflutete Laubwald auf der einen Seite, der finstere, abweisende Nadelwald auf der anderen Seite, getrennt durch eine tiefe Schlucht, die einzig und allein den Zweck zu erfüllen schien, das Zusammentreffen der verschiedenen Bäume zu verhindern.

      „Nun, junger Mann, kannst du die Höhle entdecken?“

      Fragend sah Rosa zu Baldur herüber.

      „ Was glaubst du, wäre an solch einem Ort das sicherste Versteck?“

      „ Der Nadelwald dort drüben. Der wirkt so abweisend, dass sich bestimmt niemand hineinwagt. Das wäre ein sicheres Versteck“

      „Du findest den Nadelwald abweisend? Seltsam! Die Tannen und Kiefern zählen zu den freundlichsten Geschöpfen auf der Erde. Sie sind alt und weise. Nein dort ist die Höhle nicht. Schau nach unten. Siehst du den schmalen Pfad, der dort vorn nach unten führt? Ihm müssen wir uns anvertrauen.“

      Und so machte sich die kleine Reisegruppe auf den Weg nach unten. Auf dem Grunde der Schlucht angekommen, stellte Baldur fest, dass kaum ein Sonnenstrahl seinen Weg hier herunter fand. Es herrschte ein trübes Zwielicht, wodurch die Umrisse aller Dinge irgendwie zu verschwimmen schienen. In dieser Dämmerung gingen sie etwa zweihundert Schritte nach Osten, wo sie auf den nächsten Pfad trafen, der scheinbar wieder aus der Schlucht hinausführte. Diesem Weg folgten sie, die Steilwand wieder nach oben, bis sie wieder in das Licht der Sonne kamen. Dort, auf halbem Wege, endete der Pfad vor einem finsteren Loch. Sie hatten den Höhleneingang erreicht. Da der Weg von hier aus nicht weiter nach oben führte, konnte sich von dort auch niemand der Höhle nähern. Jeder Besucher, geladen oder nicht, musste durch die Schlucht kommen.

      Allerdings war man in der Höhle gefangen, sollte der Weg nach unten je versperrt sein. Baldur sprach seine Bedenken an.

      „ Ich sehe, dass du ein helles Köpfchen bist.“

      Hilda nickte ihm anerkennend zu.

      „Aber deine Sorge ist unbegründet. Es gibt in der Höhle einen zweiten Ausgang, einen Stollen, der weit in die Felswand hineinführt und am Ende der Schlucht an der Flanke des Berges, fünfzig Fuß über dem Fluss Nerd endet. Ein verzweifelter Mensch auf der Flucht mag den Sprung nach unten wagen, doch niemand kann von unten in diesen Gang gelangen. Niemand, außer den Traumfängern. Diese Kreaturen breiten einfach ihre Flügel aus und überwinden die Strecke von oben herabschwebend. Deshalb hatten Ursula und Widukind auch keine Chance, durch diesen Tunnel zu entkommen.“

      Während Rosa den Esel vor der Höhle festband, entnahm Hilda dem Gepäck zwei Fackeln, die sie anzündete, indem sie leise einige Worte murmelte. Das Innere der Höhle erwies sich als trocken und geräumig. Nahezu rund durchmaß sie an die sechzig Fuß. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemals ein Lebewesen gewohnt haben könnte. Es gab weder Überreste noch so primitiver Möbel, noch wiesen die Wände irgendwelche Spuren künstlicher Bearbeitung auf. Falls in dieser Höhle wirklich einst zwei Menschen gelebt hatten, so hatte die Zeit alle Spuren beseitigt.

      Zwei Seelen hatten an diesem Ort über viele Jahre hinweg existiert, hatten ihre Hoffnungen in die Wände geflüstert, ihre Ängste in den Wind geschrien und schließlich die vergänglichen Hüllen ihrer Körper verlassen, um woanders von vorn zu beginnen. Und doch war all ihr Handeln bedeutungslos geblieben, da sie es nicht vollbracht hatten, eine dauerhafte Spur ihrer Existenz zu hinterlassen.

      Dieser Gedanke bedrückte Baldur. Welche Bedeutung hatte seine Suche, sein Schicksal für den Lauf der Zeit, wenn selbst von zwei mächtigen Menschen wie Widukind und Ursula nichts als Staub und Erinnerungen in den Köpfen uralter Hexen zurückblieb? Wenn interessierte es in hundert Jahren, ob Baldur seine Schwester Freya gerettet hatte oder nicht, wenn kümmerte es in fünfzig Jahren, dass ein Feuer Arnulf getötet hatte, wer fragte morgen noch nach dem Verbleib Gerdas? Baldur kamen die Tränen. Es war alles so hoffnungslos, denn hoffen bedeutete an ein Morgen zu glauben, an dem sich alles zum Besseren gewendet hätte. Doch was für ein Morgen sollte das sein? Bedeutungslos wie das Heute!

      „Ich kann mir vorstellen, wie es in dir aussieht“

      Hilda hatte sich an Baldurs Seite begeben.

      „Wir fühlen das Gleiche. Alle, die hierher kommen empfinden eine tiefe Niedergeschlagenheit. Rosa ist auch zum ersten Mal hier, doch war sie vorbereitet auf die Gefühle, die an diesem Ort auf sie einströmen. Man sagt, es sei der Wahnsinn Widukinds, der noch immer in den Wänden der Höhle beheimatet wäre. Es heißt, jeder, der den Weg hierher fände, würde getestet, ob er würdig sei an diesem Platz zu verweilen. Angst, Zweifel und Hoffnungslosigkeit erobern die Herzen der Besucher. Die Schwachen verlassen die Höhle und stürzen sich über den Rand in die Tiefe des letzten Schlafes, die Starken bleiben und stellen sich ihren Ängsten.

      Es mag die Wahrheit sein, oder auch nicht, in jedem Fall jedoch wird der belohnt, der trotz seiner Zweifel bleibt und gegen die Hoffnungslosigkeit ankämpft. Der Lohn besteht darin, dass bei seinem nächsten Besuch der Höhle, seine Ängste und Zweifel schon sehr viel geringer sein werden. Spätestens wenn die Zahl seiner Aufenthalte das halbe Dutzend überschritten hat, wird ihm die Höhle wie ein Ort des Friedens und der Glückseligkeit erscheinen.“

      Während ihres Gesprächs hatte Rosa mit verkniffenem Gesicht und Tränen in den Augen ein wahres Festmahl angerichtet. Zumindest erschien es dem ausgehungerten Baldur, als wäre es das köstlichste, was er je zu Gesicht bekommen hätte. Dabei bestand das Mahl lediglich aus altem Brot, Obst, hartem Käse und einem letzten Rest Pferdefleisch, gepökelt um es haltbar zu machen, aber gerade deshalb ungenießbar. Baldur war es egal. Er verschlang alles, was ihm vorgesetzt wurde und als er fertig war, fühlte er sich so zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Es überkam ihn eine gewaltige Müdigkeit und im Einschlafen glaubte er eine Stimme zu hören. Sie sprach nicht zu ihm und doch konnte er verstehen, was sie sagte:

      „Hab