ihm seine Fantasie vorgegaukelt hatte, aber dennoch groß. Der Körper schien zu glühen. Auf dem Rücken der Kreatur befanden sich zwei Flügel, die das Ungeheuer in diesem Moment ausbreitete. Das Feuer leckte an diesen beinahe durchsichtigen Hautlappen, ohne ihnen etwas anhaben zu können. So gewaltig waren die Flügel, dass sie das ganze Haus verdeckten, als das Wesen die Flammen verließ.
Und dann endlich konnte der Junge das Gesicht erkennen und im stockte der Atem. Er hatte sich innerlich auf einiges vorbereitet, darauf jedoch nicht.
Das Gesicht war wunderschön. Die Kreatur hatte ebenmäßige Gesichtszüge, eine kleine Nase, volle Lippen und große, strahlend blaue Augen. Durch die blonden Haare auf seinem Kopf bekam es sogar Ähnlichkeit mit Gerda, der Mutter der Zwillinge. Das Wesen neigte den Kopf zur Seite und betrachtete die Kinder, ganz besonders Freya. Es öffnete seinen Mund und plötzlich war ein melodisches Singen zu vernehmen. Baldur begriff, dass das Wesen zu ihnen gesprochen hatte. Er wollte gerade etwas sagen, als die Kreatur unvermittelt beide Arme ausstreckte. Mit ihrem linken Arm stieß sie den Jungen zur Seite.
Die langen, feingliedrigen Finger der rechten Hand umschlossen Freyas Hüfte und hoben das entsetzte Mädchen hoch. Ohne auf die laut um Hilfe schreiende Freya zu achten, lief das Wesen in Richtung des Waldes davon.
Baldur schüttelte seine Benommenheit ab und rannte hinterher. Mit einem Satz sprang er das Geschöpf von hinten an und klammerte sich an seinem linken Arm fest.
„Lass meine Schwester los, du Monster.“
Baldur schrie und schlug auf den Rücken der Kreatur ein. Wie nebenbei, so, als wäre der Junge eine Mücke, die kaum der Beachtung wert ist, solange sie sich friedlich verhält, jedoch zerquetscht werden muss, sobald sie sticht, hob der Traumfänger seinen Arm und betrachtete den Störenfried.
Da er keine Hand frei hatte, um diese Plage zu beseitigen, biss er im kurzerhand den Daumen ab, wodurch der Junge den Halt verlor. Mit einem Schlenker seines Armes schleuderte er Baldur weit in den Wald hinein. Die Schmerzen in seiner Hand missachtend, rappelte sich der Junge auf und rannte dem Entführer seiner Schwester nach. Dieser bewegte sich leicht und anmutig, fast tanzend durch das Gestrüpp. Störendes Gebüsch übersprang er einfach.
Der Blutverlust machte dem Jungen zu schaffen. Taumelnd erreichte er die Stelle, an der er die Kreatur zuletzt gesehen hatte. Als er aus dem Unterholz kam, erkannte er, dass er sich am Rande der Donnerschlucht befand. Seine Kräfte verließen ihn, seine Sinne schwanden. Wie durch einen Nebel sah er das Wesen auf der anderen Seite der Schlucht verschwinden, bevor ihn das Dunkel der Bewusstlosigkeit umfing und er kopfüber in die Schlucht stürzte.
Er fiel nicht tief und war auch noch am Leben, doch für seine Schwester die, mittlerweile stumm weinend, die Szene beobachtete schien es, als wäre Baldur in den Tod gestürzt.
Freya konnte sich später nicht mehr an die Einzelheiten ihrer Reise erinnern.
Teilnahmslos hing sie in den Fängen der Kreatur. Alle Tränen waren geweint, aller Schmerz in die Welt hinaus geschrien. Geblieben waren ein Gefühl der Leere und eine tiefe Hoffnungslosigkeit. Das Ungeheuer hatte ihren Vater und ihren Bruder getötet. War es da ein Wunder, dass kein Vogel sang, keine Grille ihr Zirpen ertönen ließ und all die kleinen Alltagsgeräusche des Waldes fehlten?
Die Welt trauerte und alles Leben verkroch sich vor der Bösartigkeit des Traumfängers.
Freya dachte an die Blumenvase in ihrem Kopf, die sie mit ihrem Bruder mit den schönsten und farbenprächtigsten Blumen gefüllt hatte und ein Gefühl der Wärme überkam sie. Sie begann, sich eine Welt um diese Blumenvase zu bauen.
Zuerst ein behagliches Wohnzimmer mit einem Tisch, vier Stühlen und einem großen Kamin. Auf den Stühlen saßen ihre Eltern und ihr Bruder. Sie unterhielten sich und Baldur zwinkerte ihr zu. Es war wunderschön und das Mädchen beschloss, dass dieses Wohnzimmer die Wirklichkeit war. All der Schrecken der letzten Stunden war nichts weiter, als ein böser Traum. Sie musste nur fest genug daran glauben.
Über Berge und durch tiefe Schluchten ging die Reise. Viele Stunden lief der Traumfänger mit seiner Beute in der Hand einem unbekannten Ziel entgegen, ohne zu ahnen, dass das Kind im Begriff war, dem Wahnsinn zu verfallen. Irgendwann, nach Stunden oder Tagen lichtete sich der Wald und gab den Blick auf eine malerische Landschaft frei. Ein sanfter Abhang führte an das Ufer eines kristallklaren Baches, der sich durch einen Teppich aus saftigem Gras und Gänseblümchen schlängelte. Am jenseitigen Ufer des Baches stand eine kleine Hütte vor deren Tür ein alter Mann zufrieden seine Pfeife rauchte. Als der Traumfänger seiner gewahr wurde, stieß er ein fürchterliches Fauchen aus.
Gelassen hob der Alte seinen Kopf und blickte über den Bach zu der Kreatur, die so unvermittelt zwischen den Bäumen erschienen war. Gemächlich legte er seine Pfeife beiseite und erhob sich. Der Traumfänger breitete seine Flügel aus, um sich mitsamt seiner Beute in die Luft zu erheben. Doch gelang es ihm nicht.
Das Mädchen war zu schwer und er noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte, so dass ihm nichts anderes übrig blieb, als vor dem Alten zurückzuweichen.
Dieser blieb am Ufer des Baches stehen. Er sah der Kreatur in die Augen, worauf diese erneut fauchte, wie eine Katze, die in die Enge getrieben worden war.
„Was suchst du hier auf meinem Land, Dämon? Welche dunklen Pläne führen dich in diesen Teil der Welt? Wer ist das Mädchen in deinen Klauen?“
Die Stimme des Alten war sanft, wie das Murmeln des Baches, doch gleichzeitig wohnte ihr eine spürbare Stärke inne.
„Hast du wieder einer Mutter das Kind geraubt, Aasgeier? Wirst du nie lernen? Habe ich nicht dich und deinesgleichen oft genug besiegt?“
Gefangen vom Blick des alten Mannes vermochte der Traumfänger nicht, zu fliehen und aus seinem Fauchen wurde ein Winseln.
„Nun, willst du um dein Leben kämpfen oder gibst du mir das Mädchen freiwillig?“
Langsam hob der Alte seine Arme und die Kreatur sank jammernd und sabbernd am anderen Ufer auf die Knie. Wie von selbst öffnete sich die Hand, welche Freya umklammert hatte und das Mädchen begann wie in Trance den Bach zu überqueren. Als sie den alten Mann erreicht hatte, senkte dieser ruckartig seine Arme nach unten und stieß einen kurzen, bellenden Laut aus.
Von einem Augenblick zum anderen waren sowohl der Alte, als auch das Kind verschwunden. Mit ihnen verschwanden auch die Hütte und der klare Bach.
Alles was zurückblieb war eine unansehnliche Wiese auf der keine Blume blühte und das spärliche Gras verzweifelt auf Regen hoffte. Und auf dieser Wiese lag ein Wesen, das einst zu den Mächtigsten gehört hatte, besiegt und um seine Beute betrogen von einem alten Mann.
Als Freya erwachte, glaubte sie zunächst, noch immer zu träumen. Sie lag in einem weichen Bett und konnte die Vögel den Tag besingen hören. Und es musste ein wundervoller Tag sein, wollte man dem Gesang Glauben schenken.
Doch wie könnte denn ein Tag wundervoll sein, an dem solch schreckliche Dinge geschehen waren? Ihr Vater war tot, ihr Bruder war tot, sie selbst befand sich in der Gewalt eines fürchterlichen Ungeheuers…
„ Oh, er ist nicht tot, noch nicht.“
Die Stimme erklang unvermittelt vom Kopfende ihres Bettes her. Voller Panik wendete sie den Kopf, um den Urheber sehen zu können.
„ Deine Mutter hat deinen Bruder rechtzeitig gefunden. Wenn keine Entzündungen oder innere Blutungen auftreten, wird er dieses Abenteuer wohl überleben!“
Freya war sehr wohl aufgefallen, dass der alte Mann, einige Worte besonders betont hatte, noch nicht und dieses Abenteuer, doch solange sie nicht wusste, wer dieser Mann war, wo er herkam und was er von ihr wollte, würde sie erst einmal keine Fragen stellen.
„ Nun zumindest bin ich kein fürchterliches Ungeheuer, hoffe ich. Ich habe auf dich gewartet, um dich vor dem grausamen Schicksal einer Dämonenpriesterin zu retten.“
Voller Panik begriff Freya plötzlich, dass der Alte schon zum zweiten Mal auf