Myron Bünnagel

Severin


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Gegners blutige Spuren hinterlassen hatten. Er holte aus und ließ die geballten Hände auf Feldbergs Schädel niedergehen. Der Beamte hob schützend die Arme vor sein Gesicht, aber der Schlag aus Knochen und Stahl durchdrang die Verteidigung. Severin spürte den heftigen Aufprall, war aber schon wieder dabei, auf die Beine zu kommen. Hinter ihm stöhnte Kramer. Hastig fuhr er herum, die Welt um ihn in einem wabernden Schleier aus Verzweiflung, Wut und rotem Nebel. Der Bulle hatte sich halb aufgerichtet, auf seinem grünlich angelaufenen Gesicht glänzte der Schweiß. Seine Hand versuchte fahrig unter das Jackett zu gelangen, zerrte an dem grauen Nadelstreifenstoff. Der Expander lag neben ihm. Severin stolperte vorwärts, riss das Bein hoch und trat dem Mann mit aller Kraft in den Bauch. Er spürte den nachgiebigen Widerstand, der sich verhärtete, als Kramer seinen Körper zusammenzog. Die Augen des Getroffenen groß und blutunterlaufen, sein Mund zu einem Schrei aufgerissen. Dann sackte er kraftlos zurück, keuchend und wimmernd. Jacob versetzte ihm einen ungezielten Tritt in den Unterleib, dann sah er sich gehetzt um. Feldberg stöhnte und versuchte, sich zur Seite zu drehen. Sein Gesicht war zerschunden, ein Auge begann zuzuschwellen, aus einer Platzwunde an seiner Stirn rann eine dünne rote Linie. Mit zwei Schritten war Severin bei ihm, packt die Krawatte und zerrte den geschwächten Körper hoch. Feldberg starrte ihn aus seinem heilen Auge an. Seine Unterlippe war aufgeplatzt, wo ihn die Handschellen getroffen hatten. „Machen Sie keinen Unsinn …“ Seine Stimme war rau und brüchig. „Sie haben doch keine Chance.“

      Jacob schüttelte ihn wütend. „Ich habe es nicht getan!“ Mit einer Hand tastete er die Taschen des Beamten ab, fand den kleinen Schlüssel und zog ihn hervor.

      „Keine … Chance …“, hustete Feldberg.

      Severins Blick fiel auf das Holster an dessen Gürtel. Hellbraunes Leder, in dem dunkel schimmerndes Metall steckte. „Das werden wir ja sehen!“ Die Waffe ließ ihn nicht los, der Glanz zog seine Finger an.

      „Seien Sie nicht noch dümmer …“, ächzte Feldberg, der Severins Bewegung mit seinem gesunden Auge folgte. Er versuchte einen Arm zu bewegen, aber es gelang ihm nicht.

      „Seien Sie still!“, zischte Jacob und beobachtete fasziniert, wie seine Finger den Gürtel entlang schlichen. Das Metall fühlte sich kühl und glatt unter seiner Berührung an.

      „Hey, Sie, was machen Sie da?“ Der Ruf eines Mannes. Während Severin noch zu ihm herüber sah, griff seine Hand bereits nach der Waffe. „Nicht …“, stöhnte Feldberg. Jacob ließ die Krawatte abrupt los, hörte, wie der Schädel leise auf dem Steinboden aufschlug. Durch eine Glastür am Ende des Flures trat ein uniformierter Wächter. Seine Arme waren angewinkelt, einer lag auf dem Halfter an seiner Hüfte.

      Severin sprang auf die Beine, den Schlüssel in der einen, die Automatik in der anderen Hand, und stürmte los. Der Wachmann hinter ihm schrie, Schritte näherten sich. Jacob rannte weiter, vorbei an geschlossenen Türen und verwaisten Bänken. Hinter den Fenstern ging es ein Stockwerk in die Tiefe, nichts als nackter Beton dort unten. Keuchend erreichte er eine Glastür, stieß sie auf und stolperte in ein Treppenhaus. Hastig sah er sich um, sein Blick folgte der Treppe nach unten. Als er sich schon darauf zu bewegen wollte, tauchte an ihrem Fuß ein weiterer Wachmann auf, die Dienstwaffe bereits gezogen. Er bemerkte Jacob, setzte an, die Stufen hinauf zu laufen. „Bleiben Sie stehen!“

      Severin taumelte zurück, blickte über die Schulter in den Gang hinter sich. Der erste Wächter kniete über Kramer, hob jetzt den Kopf und sah zu ihm hin. Seine Hand zuckte nach oben, Metall blitzte darin auf. Gleichzeitig hastige Schritte auf den Stufen. Jacob sprang auf die Treppe nach oben zu, hetzte sie hinauf, immer zwei Stufen auf einmal. Seine gefesselten Arme pendelten wild hin und her, Waffe und Schlüssel in den schweißnassen Fingern. Eine weitere Etage, ein langer Flur hinter der Glaswand. Unschlüssig machte er eine Bewegung auf die Tür zu, dann fuhr er herum und rannte zur nächsten Treppe. Stimmen drangen von unten zu ihm herauf, leises Geschrei, Schritte.

      Jeder Atemzug stach in den Lungen, Tränen verzerrten sein Blickfeld. Eine Stufe, eine andere. Hinauf. Weiter. Endlich der letzte Absatz. Sein Fuß rutschte ab, er geriet ins Stolpern. Der graue Flur kippte, tat einen aberwitzigen Satz, dann schlug er hart auf dem polierten Boden auf. Ein heftiger Schmerz jagte durch seine Arme, das gnadenlose Metall schnitt in seine Handgelenke. Ein taubes Kribbeln kroch in seine Finger und Schultern. Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen.

      Und von unten der Lärm schwerer Schuhe auf dem glatten Stein, langsamer nun, vorsichtig.

      Severin rollte sich mühsam herum, schob die Knie unter seinen Körper und richtete sich auf. Trotz des dumpfen Pochens hielt er die Automatik noch immer in der Hand. Er kam auf die Beine. Übelkeit stieg in ihm auf, füllte seinen Mund mit Galle und Blut. Er stand, tat einen taumelnden Schritt. Der Schlüssel drohte seinen Fingern zu entgleiten, aber er schloss sie krampfhaft darum. Er erreichte die Tür, getöntes Glas, ein weiterer langer Flur dahinter, leer. Jacob lehnte sich daran an, drängte mit der Schulter dagegen. Vergeblich. Seine Hand fuhr zum Griff, aber da war keiner, nicht auf dieser Seite. Ein erstickter Laut drang über seine Lippen. Er warf sich gegen die Tür, aber es brachte nichts. An die gläserne Barriere gelehnt, schob er sich schließlich vorwärts. Die Beine gehorchten ihm nicht mehr richtig, drohten jeden Moment unter ihm wegzuknicken. Die nächste Treppe verschwamm vor seinen Augen. Die Stufen zogen sich in die Länge, in Bewegung wie Klaviertasten unter den Fingern eines Pianisten. Jacob stieß gegen die Wand, vor ihm nun die großen Fenster. Der Parkplatz drei Stockwerke unter ihm. Er schluckte schwer, die Zunge ein geschwollener Klumpen in seinem Rachen. Seine Beine gaben nach und er rutschte langsam am kalten Glas hinab. Fand mühsam Halt und bemerkte wieder die Stahlarmbänder um seine Handgelenke. Der Schlüssel! Mit den ungeschickten Fingern seiner Linken versuchte er, einen der Ringe zu öffnen. Aber das Schlüsselloch tanzte unruhig auf und ab, wich dem winzigen Metallding in seiner Hand aus. Wieder stieß er zu, ohne Erfolg. Überall war Schweiß, sogar ein wenig Blut auf dem Stahl. Und in seinem Schädel dröhnte eine ganze Fabrikhalle, ein betäubender Lärm, unter dessen Schlägen jeder klare Gedanke ausgelöscht wurde. Severin kicherte wie von Sinnen, als der Schlüssel stecken blieb, sich mit einem leisen Klicken drehte. Wie in Zeitlupe glitt der Ring von seinem Handgelenk, baumelte lose hin und her. In seiner Haut waren tiefe, blaurote Kerben. Eine Winzigkeit Freiheit, die etwas Kraft in seinen Leib zurückbrachte. Er hob den Arm, sah die Pistole in seiner Hand. Während er ihr Gewicht irgendwie als beruhigend empfand, irritierte ihn das kalte Schimmern. Eine Ahnung des Todes, der Endgültigkeit.

      „Machen Sie keinen Unsinn!“ Eine laute, nervöse Stimme, die ihn vom Boden und Glas anzuspringen schien. Aber Jacob brauchte einen Moment, ihren Sinn zu verstehen. Im ersten Klang war sie nur eine Störung, etwas, das hier und jetzt nicht sein sollte. Es bereitete ihm Mühe, den Blick von seiner Hand zu lösen, ihn darüber hinaus wandern zu lassen. Über die grauen Fliesen, in denen sich das trübe Tageslicht fing. Die blank geputzten Schuhe hinauf, eine dunkelblaue, sorgsam gebügelte Hose entlang. An einem breiten Gürtel mit einer glitzernden Schnalle verharrte er. Ein leise knisterndes Funkgerät und ein leeres Holster daran. Auf beinahe derselben Höhe ein angewinkelter Arm, kräftige Finger, um den Griff einer Pistole gelegt. Ihr Lauf ein einziges gähnendes Loch, pechschwarz und unergründlich, eine Rückbesinnung an die Zeit der ersten Dunkelheit. Und der letzten. „Fallen lassen!“ Severin sah ein junges, rot angelaufenes Gesicht. Eine runde Nase, geweitete Augen, deren Pupillen der Mündung der Pistole glichen. Ein dünner Schnurrbart über einem schmalen Mund. Unter der Uniformmütze spärliches Haar. Er stand an der Treppe, eine Hand klammerte sich am Geländer fest. „Los, Mann!“ Angst in seiner Stimme, ein kurzer, gehetzter Blick nach unten.

      Die Hoffnung brach unter seinen Worten. Severin spürte, wie ihm etwas entglitt. Ein kaum fassbares Gefühl, das Wissen, dass etwas Immenses verloren ging. Für einen Moment war der tosende Lärm in seinem Schädel klar, fokussierte sich in einem einzigen Laut, dessen Klang einen qualvollen Stich in sein Herz trieb. Eine zuschlagende Tür, heftig und endgültig. „Nein!“ Er war nicht sicher aus welcher Kehle der Schrei aufstieg. Seinen Mund spürte er nicht, der des Wachmannes verzerrte sich zu einer Grimasse des Entsetzens. Jacobs Arm bewegte sich wie von selbst, als hinge er an einem unsichtbaren Seil. Außerhalb seiner Kontrolle zog ihn jemand in die Höhe, brachte die Pistole empor. Für einen Moment sah er die Panik in den Augen des anderen, nackt und einschneidend, der Tod eine würgende Ahnung. Dann