Myron Bünnagel

Severin


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in Severin. In seinen Ohren begann es zu klingen, ein hoher, stechender Laut, in seinem Schlepptau weitere Qualen, eine sengende Hitze in der Schulter. Wieder ein Schuss. Zuckte die Waffe in seiner Hand? Oder war es der Schmerz, der ihn erzittern ließ? Jacob spürte nur das Brennen, das sich in seinen Körper fraß. Hinter ihm ging eine Kugel durch die Fensterscheibe, ließ das Glas in einem schrillen Ton zerplatzen. Wieder ein peitschender Knall, unmittelbar gefolgt von einem dumpfen Pochen in seiner Brust. Severin schnappte nach Luft, aber sie schien aus flüssigem Feuer und weigerte sich, in seine Lungen zu dringen. Vor seinen Augen tanzten Lichtpunkte. Schmerz raste durch seinen Leib, zerbarst in grellen Blitzen. Er taumelte, die Pistole entglitt seinen leblosen Fingern. Fiel langsam zu Boden, in eine Tiefe, die nicht da sein konnte. Er rang nach Atem, einen Schrei in der Kehle. Fort. Einen Schritt zur Seite. Die Welt eine einzige Sturmflut aus wankenden Bildern, voller Pein und Übelkeit, bereit ihn zu ertränken. Hinter dem Schmerz die Müdigkeit, Erschöpfung, der große Schlaf. Sich festhalten. Halt finden. Ihn nicht verlieren. Seine Hand griff nach der Wand, eine Stütze inmitten des vernichtenden Chaos. Leere. Neben ihm war nichts, kein helfender Widerstand. Severin verlor die Balance, stolperte. Blaugrauer Himmel kippte in die Sandsteinfassade. Glitzernde, gezackte Glasscherben dazwischen, die unter seinem Gewicht nachgaben. Selbst der unruhige Boden unter seinen Füßen war fort. Da war nichts mehr. Eine seltsame Kühle in seinem Körper. Ein Augenblick der Leichtigkeit, der Schwerelosigkeit. Die rotierende Welt. Himmel, Beton, funkelnde Glassplitter. Blut. Vielleicht ein Schrei. Und die Schwerelosigkeit verging, stürzte mit ihm zusammen in die Tiefe. Grauer Beton, ein starres, feindliches Meer, blecherne Inseln dazwischen. Alles raste nun darauf zu, die Bilder und Formen flossen zu einem Mahlstrom zusammen, in dessen Zentrum Severins Herz unerträglich laut pochte. Ein einziges Schlagen, als wollte es zerspringen. Der Fall zurück, weit zurück. An die Anfänge, in die wohlbehütete Dunkelheit. Er zog sich zusammen, rollte sich ein, barg sich in sich selbst, zum Schutz vor der rasenden Welt und dem Aufprall.

      Das Branden eines sturmgepeitschten Meeres. Blutige Wellen, die heiß und salzig gegen sein Ich schlugen. Ein Tosen und Ächzen, als wollte sich der Urkontinent aus den roten Tiefen erheben. Blitze zuckten über diesen Karmesinozean, grelle Impressionen, eingebrannt in die Unruhe der ungeborenen Tage. Er lief. Seine Schritte wirbelten blutige Tropfen auf, die um ihn herum in der Luft stehen blieben. Eingefrorene, winzige Flecken, kaum erkennbare Formen und Linien. Immer weiter. Durch die Unordnung hindurch, mitten hinein. Die Brandung steigerte sich, begann zu rasen, war bald ein heftiges Staccato. Dröhnender Lärm füllte seinen Schädel. Die Lichtlinien tanzten, zogen um ihn herum. In seinem Inneren der Wellenklang, nur mehr ein statisches Rauschen. Schneller. Immer schneller. Erdbebenartig, apokalyptisch sein Pulsschlag, in den sich ein grelles Heulen mischte. Jacob jagte über die blutigen Lachen, die nun schimmernde Pfützen voller blinkender Reflektionen waren. Verkehrslärm wie die Trompeten des Jüngsten Gerichts. Hupen, Motoren, Bremsen. Passanten um ihn herum, ihre Augen und Leiber schoben sich aus den aufgewirbelten Tropfen zusammen. Und das Chaos der Stadt, graue Fassaden vor dem bleiernen Himmel. Regen auf erhitzter Haut. Die kalte Luft brannte wie Feuer durch die Hölle in seinen Lungen. Noch ein Schritt. Das Ächzen des eigenen Körpers inmitten der Straßenbrandung. Weiter. Nur vorwärts. Lichtblitze, grell, stechend, Rasierklingen in seinen Augen. Die Scheinwerfer eines Wagens. Der gellende Klageton einer Hupe. Kühles Blech unter seinen Fingern. Zitternd von der Kraft des Motors. Noch ein paar taumelnde Schritte. Ein Hindernis. Die Welt schob sich über den Abgrund, kippte und brach in sich zusammen. Schlug gemeinsam mit Severin heftig auf dem feuchten Asphalt auf.

      Einige Momente blieb er reglos liegen, unfähig sich zu bewegen. Nur seine Lider zuckten unkontrolliert, ließen bruchstückhafte Bilder in die Schwärze dahinter. Gläserne Fassade der Hochhäuser, in der sich graue Wolken spiegelten. Eine träge, unförmige Masse, die den Mond und die Sterne überzog. Regentropfen und das rote Licht einer Ampel. Davor eine Gestalt, ein Mann. Dessen unscharfes Gesicht unter einem aufgeweichten Hut. Eine faltige Hand, die nach ihm griff.

      Jacob biss die Zähne zusammen, spürte Blut im Mund. Seine tauben Finger tasteten über den nassen Boden. Etwas berührte ihn an der Schulter. Undeutliche Worte. Er kämpfte sich in die Höhe, jemand stützte ihn, bewahrte ihn davor, zurück in die kochende Dunkelheit zu driften. Er sog gierig die Luft in seine gepeinigten Lungen. Nadelstichluft. Die Welt wurde deutlicher, schälte sich aus der Verschwommenheit, ihre Ränder nun klarer. Eine Straße, über die sich Fahrzeuge schoben. Die Fahrer hinter den Scheiben nur vage Eindrücke, Flecken in den sicheren Schatten. Hochhäuser, deren Spitzen begierig waren, die Wolkenschicht zu durchstoßen. Die Ampeln und Neonlichterblinkten in ihrem eigenen Herzschlag. Menschen auf dem Bürgersteig, hinter den Schaufenstern, als träger Strom in den U-Bahnschlund.

      Jacob richtete sich auf. Der Schmerz war allgegenwärtig, hallte in seinem Rücken, rief in seinen Beinen, schrie in seiner Brust. Aber … er lebte. Seine Hand stützte sich auf die Schulter des Alten. Graue Haare und müde, gütige Augen unter einem blauen Hut. Ein graubrauner Mantel um den ausgemergelten Körper. Er spürte den billigen Stoff unter seiner kribbelnden Haut. Das verbrauchte Gesicht war ganz nah, der Mund mit der zerkauten Unterlippe formte Worte, die Severin nicht verstand. Seine Aufmerksamkeit galt einem schrillen Ton, der über dam Toben in seinem Kopf zu hören war. Ein einschneidender Klang, der beharrlich heranwuchs, näher und näher kam. Seine Finger krallten sich in die Schulter des alten Mannes. „Was ist das?“ Näher. Verbunden mit tiefer Furcht, die in ihm empor kroch. „Was?“ Er schüttelte den Greis so heftig, dass ihm der Hut auf dem knochigen Schädel verrutschte.

      „Bleiben Sie ruhig, gleich kommt Hilfe.“

      „Was ist das?“ Der Lärm wurde lauter, schien nun alles um ihn herum auszufüllen, all die Geräusche um ihn herum auszulöschen. „Was?“

      Der Mann legte unsicher den Kopf schief, sah sich um. „Was meinen Sie?“

      „Der Lärm! Gott, dieser Lärm!“ Jacob presste sich die freie Hand auf das Ohr.

      „Aber … beruhigen Sie sich doch, es sind nur die Sirenen.“

      „Sirenen?“ Severin spürte, wie die Kraft aus seinem Körper zu entfliehen drohte.

      „Ja doch. Die sind gleich da, um Ihnen zu helfen.“

      Jacob grub seine Finger in das verbrauchte Fleisch. „Nein!“

      In den Augen des Alten löste Angst die Güte auf: „Bitte …“

      Das Heulen schnitt wie ein Messer in Severins pochenden Kopf. „Nein!“ Ein beklemmendes Gefühl packte ihn, legte sich wie ein Ring um seinen Hals.

      Passanten blieben stehen, misstrauische, feindselige Mienen. Die Sirenen waren nun ganz nah, die Glasfassaden fingen ihr zuckendes Licht ein, warfen es in die Pfützen.

      Jacob sah sich hektisch um, Panik flutete in seinen zerschundenen Körper. „Nein!“ Seine Stimme ein raues Keuchen. Jemand trat von hinten an ihn heran, er sah den Schatten aus den Augenwinkeln, spürte die unmittelbare Nähe. Hastigem zerrte er den Alten herum, stieß ihn hinter sich. Der Mann schrie, prallte er gegen die andere Gestalt. Jacob sah beide zu Boden gehen, dann begann er zu laufen. Die ersten Schritte noch zäh und langsam, als käme er kaum von der Stelle, die Beine leblos und weich. Seine Arme schoben die Passanten zur Seite, bahnten sich grob einen Weg durch die reglosen Leiber und starren, unbeteiligten Gesichter. „Lasst mich … durch!“ Er stieß eine junge Frau von sich, die ihm entgegentrat, ließ ihren Körper in einem Rauschen aus blondem Haar und blauem Kleid auf den Bürgersteig stürzen. Weiter. Jemand fasste nach ihm, aber Severin stieß einen Ellenbogen in den Angreifer. Seine Schultern verbreiterten die Gasse, drängten die Menschen zurück. Dann war er durch. Weniger Passanten, zufällig verteilt auf dem glitzernden Asphalt. Er schlug nun Haken, hastete schwer atmend an ihnen vorbei. Da war ein Murmeln und Rufen, ganz am Rande des Sirenengeheuls. Entsetzte, verängstige Blicke. Bleiche Frauengesichter mit geweiteten Augen. Unsicherheit, Ärger, Desinteresse. Er erreichte eine Seitenstraße, hielt inne, um sich hektisch umzusehen. Da, an ihrem Anfang, keine fünfzig Meter von ihm entfernt, bogen zwei Männer um die Ecke. Keine Uniformen, aber eine eindeutige Bestimmtheit in ihrem Gang. Sie sahen ihn, erkannten ihn. Einer wedelte mit dem Arm, deutete auf Jacob, dann fingen sie an zu laufen. Er schaute sich um, warf einen eiligen Blick zurück. Eine Menschentraube an der Stelle,