Dr. Rainer Schneider

Wege aus der Angst. Psychologische Ursachen und praktische Lösungen


Скачать книгу

gestalten zu tun. Angst bzw. der richtige Umgang mit ihr, ermöglicht das, was Psychologen persönliches Wachstum oder persönliche Reife nennen.

      Das kann man sehr gut bei Kindern sehen, wenn sie z.B. lernen, eigene Hemmschwellen zu überwinden. Jeder kann sich gut daran erinnern, wie er zum ersten Mal auf ein Fahrrad stieg und Angst hatte, hinzufallen. Über die Welt und sich lernen, heißt tatsächlich oft, Angst auszuhalten. Man kann sogar so weit gehen und sagen, dass Angst eine Vorbedingung für die Reifung der Persönlichkeit ist (1, 2). Reife Persönlichkeiten haben gelernt, sich ihrer Angst zu stellen und sie in das Selbstsystem zu integrieren. Sogenannte „flache“ Persönlichkeiten (dazu gehören auch oberflächlich selbstbewusste) tun das eher nicht.

      Lassen Sie mich genauer erklären, was ich mit Integration und Selbstsystem meine. Wir Menschen lernen, indem wir bestehende Wissens- und Erfahrungsmuster angleichen und modifizieren. Aus Erfahrung wird man bekanntlich klug, zumindest wenn man aus ihr wichtige Konsequenzen zieht. In der Psychologie nennt man diese Anpassung Akkommodation. Dazu gehört auch, das Bild über sich und die Welt zu revidieren. Diese Modifikation und Revision ermöglicht eine immer verfeinerte und komplexere Verzweigung von Wissens-Netzwerken. Das semantische Netzwerk von persönlichen Erfahrungen, Werten, Zielen, Bedürfnissen usw. nennt man Selbst(system). Das Selbst ist nicht vollständig bewusst, wirkt aber bei fast allen Situationen, in die man sich begibt und in denen man eine Herausforderung meistern muss. Man kann das Selbst nur in Teilausschnitten bewusst machen, es ist implizit. Aber das Selbst reift eben vor allem an negativ besetzten Erlebnissen. Das ist ein ganz wichtiges Prinzip, das ich in diesem Buch an der einen oder anderen Stelle immer wieder betonen werde. Denn Angst erleben wir immer wieder, selbst wenn wir schon allerlei Ängstigendes durchlebt haben. Das Arsenal an Bewältigungsmöglichkeiten kann also immer weiter ausgebaut werden.

      Im Fall der Angst kann man sehr schön sehen, was passiert, wenn man angstauslösende Momente sowie deren Konsequenzen nicht integriert: Sie bleiben als isolierte Erfahrungsfragmente bestehen. Nun fragt sich natürlich, wie man Angst integriert. Das geht, indem man sie sinnhaft auflöst. Man gibt der Erfahrung Sinn und zwar so, dass sie kohärent (zusammenhängend und stimmig) in das Selbst eingebaut wird. So schwächt sich die Angst(quelle) ab und verliert ihren aversiven Charakter.

      Wenn diese Integration nicht passiert, bleibt die Angst(quelle) isoliert bestehen. Weil solche negativen Einzelfragmente Stress auslösen, kann man sie nur verdrängen, leugnen oder zu vermeiden suchen. Das kann funktionieren. Aber diese Bewältigungsmechanismen sind selten von Dauer. Sie werden zudem teuer erkauft, denn Angst macht auf Dauer krank, wie zahlreiche Befunde aus der Psychoneuroimmunologie zeigen. Doch auch wenn einem eine Erkrankung erspart bleibt, sind diese Bewältigungsformen nur bedingt zielführend. Man benötigt sehr viel psychische und im wahrsten Sinn des Wortes auch physische Energie, Angst ständig bewusst unter Kontrolle zu halten. Nicht selten treibt sie trotzdem durch die „Hintertür“ ihr Unwesen (z.B. in Träumen, Stresssymptomen, Depression etc.). An der Integration der Angst kommt man somit nicht vorbei, wenn man sie als Dauerstressor abbauen will.

      Die Gretchenfrage ist daher: Wie genau integriert man Angst eigentlich?

      Angst ist ein sogenannter negativer Affekt, der im Bestrafungszentrum des Gehirns entsteht (3). Vereinfacht ausgedrückt heißt Angst haben aus neurobiologischer Sicht „bestraft“ werden. Diese Bestrafung hält i.d.R. an, bis sich die Situation entschärft oder die körperliche Reaktion abschwächt. Beides kann man geduldig abwarten. Aber auch hier gibt es zeitliche Grenzen, vor allem, wenn die Angstquelle immer wiederkehrt. Und daher auch der aversive Charakter der Angst: Jedes Lebewesen trachtet danach, Bestrafung (kurz- oder langfristig) zu vermeiden. Daher auch entweder Flucht oder Angriff, Leugnung oder Konfrontation…

      Wenn man von Bewältigungsmechanismen bezüglich der Angst spricht, muss man unterscheiden, ob sie adaptiv (förderlich) oder maladaptiv (hinderlich) ist. Ein und dasselbe Verhalten kann beides sein. Pauschal lässt sich nicht sagen, welcher Mechanismus adaptiv ist. Dazu ein kleines Beispiel: Jemand, der unter Lampenfieber leidet, kann entweder öffentliche Auftritte meiden oder ganz gezielt aufsuchen. Langfristig wäre z.B. die erste Strategie maladaptiv, wenn er oft in Situationen gerät, in denen er Lampenfieber bekommt. Ansonsten bliebe der durch Angst erzeugte Stress bestehen: Er müsste dann bei jedem öffentlichen Auftritt Qualen durchstehen. Adaptiv wäre hingegen die Vermeidungsstrategie, wenn sie vor negativen Folgen schützte, die in jedem Fall eintreten, aber nicht unausweichlich sind (z.B. ein Auftritt vor feindseligem Publikum).

      Damit sind wir beim eigentlichen Thema dieses Ratgebers. Angst zu haben, ist an sich nicht das Problem. Sie ist eine von vielen menschlichen Emotionen, die unser (Er)Leben so facettenreich machen. Die meisten Menschen haben Angst, wenn auch in beträchtlich unterschiedlichem Maße. Ein Problem entsteht, wenn Angst sich übersteigert. Eine Übersteigerung in Qualität und Qualität wird zur Angststörung. Angststörungen gibt es viele: Generalisierte Angststörungen, Panikattacken oder Phobien etwa. Allen ist gemein, dass Angst zu unverhältnismäßigen Angstzuständen werden. Der Begriff Zustand verdeutlicht, dass etwas länger andauert und/oder sich nicht oder nur langsam verflüchtigt. Deswegen entsteht bei Angstzuständen oft das Gefühl der Ohnmacht. Zumindest wenn man den Zustand nicht selbst verändern kann. Wenn Sie so wollen, sind Angststörungen gewissermaßen verselbständigte Ängste: Man kann sie weder völlig vermeiden, noch kann man sie kontrollieren.

      Lassen Sie mich zunächst ein paar Worte zu dem Begriff Angststörung verlieren, bevor ich genauer darauf eingehe, was sich dahinter verbirgt. Ich halte das für wichtig, weil ich finde, dass er bei unvorsichtigem Gebrauch das eigentliche Problem verschlimmern kann.

      Ich persönlich mag den Terminus nicht. Wenn es ginge, würde ich ihn gerne ganz aus meinem Vokabular streichen. Zum einen mangelt es ihm an Präzision: Stört die Angst oder ist ihr Ausmaß gestört? Zum anderen ist er pathologisierend, was die Betroffenen schnell stigmatisiert. Die klinische Psychologie und vor allem die Psychiatrie haben im Laufe der letzen Jahrzehnte leider eine regelrechte Unart entwickelt, jede Form abweichenden Verhaltens vorschnell zu pathologisieren: Im geplanten, neuen Diagnostikum für Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater, dem DSM-V, sind „Störungen“ vorgesehen, die eher dazu dienen, den Absatzmarkt um vermeintlich behandlungsbedürftige Patienten zu vergrößern, als echte Krankheiten zu behandeln (4). Die Kritik am inflationären Wachstum psychischer Krankheitsbilder hat inzwischen regelrechte Sturmwellen ausgelöst, unter anderem deswegen, weil Pharmaindustrie und richtungsweisende psychiatrische Vereinigungen (z.B. die APA [American Psychiatric Association]) eine verhängnisvolle Beziehung pflegen, die die Unbefangenheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft von kommerziellen Interessen mehr als bezweifeln lässt (5-7).

      Nüchtern betrachtet ist das, was man mit Störung bezeichnet, objektiv zunächst einmal nur eine Variante eines sehr variablen Spektrums komplexen menschlichen Verhaltens. Nur weil etwas nicht der Norm entspricht, muss es nicht gestört sein. Und selbst die Definition der Norm unterliegt kulturellen, zeitgenössischen und geschichtlichen Einflüssen.

      Dazu kommt, dass Psychologie und Psychiatrie viele Verhaltensabweichungen nur unzulänglich verstehen, wie man am Beispiel von Fieberphantasien bzw. -halluzinationen sehen kann. Tatsache ist, dass die Forschung über keine Technologien verfügt, biochemische Störungen oder Dysbalancen im lebenden Gehirn feststellen zu können. Was es jedoch gibt, sind jede Menge Spekulationen über vermeintliche Störungen, und für die werden entsprechende Medikamente entwickelt (8).

      Der Begriff Störung trägt somit wenig zur Klärung eines Phänomens bei. Und wer eine Störung hat, wird gerne in eine Schublade mit dem Label >>geistig defekt<< gesteckt.

      Leider hat sich der Begriff Angststörung so sehr im Sprachgebrauch etabliert, dass man fast schon sprachliche Verrenkungen machen muss, wenn man ihn umgehen will. Aus diesem Grund behalte ich ihn in diesem Buch bei und bitte Sie, mir dies nachzusehen. Sie werden sehen, dass das nicht weiter störend ist. Ich werde nämlich einen Ansatz vorstellen, der auch ohne die geläufigen klinischen Angststörungs-Etiketten auskommt, was eine Reihe von weiteren Vorteilen hat, die ich an betreffender Stelle nennen werde.

      Angststörungen sind weiter verbreitet als man denkt. Man schätzt, dass etwa 15% der Menschen im Laufe ihres Lebens mindestens einmal davon betroffen sind (9). Das sind bei einem durchschnittlichen Lebensalter von