Dr. Rainer Schneider

Wege aus der Angst. Psychologische Ursachen und praktische Lösungen


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also zu. Man darf solche Zahlen nicht unkritisch sehen. Denn es werden immer mehr neue Störungen ins Leben gerufen, ohne klar definiert oder nachgewiesen worden zu sein. So ist erklärlich, dass psychiatrischen Diagnosen fast inflationsartig anwachsen. Dabei sollte man klar sehen, dass ein Grund für dieses Anwachsen auch darin zu sehen ist, dass jede neue Diagnose natürlich neue Patientenstämme generiert und damit neue Gewinne.

      Dessen ungeachtet sind Angststörungen alles andere als ein Randthema oder gar eine fiktive Konstruktion. Sie können sowohl als eigenständige Krankheiten auftreten, als auch in Kombination mit anderen. Sie können überdies weitere Erkrankungen nach sich ziehen, z.B. psychosomatische Beschwerden. Außerdem sind Angststörungen ausgesprochen hartnäckig und langwierig. Wer Geduld und Leidensfähigkeit hat, sitzt sie aus. Oder er arrangiert sich mit ihnen und erduldet sie als Teil seines Lebens. Beide Strategien sind aus meiner Sicht suboptimal. Denn Angst als chronischer emotionaler Zustand ist nichts anderes als Stress – und überdies ein äußerst negativer, der große gesundheitliche Schädigungen nach sich ziehen kann.

      Das Tückische an Angststörungen ist, dass man auf sie konditionieren kann. So entsteht Angst vor der Angst. Das ist besonders belastend, weil das Element der Verselbständigung und Nicht-Kontrolle noch zunimmt. Die Angst vor der Angst ist nicht an spezifische Angstauslöser gebunden. Oft genügt nur die Wahrnehmung eines körperlichen Vorgangs (z.B. erhöhter Pulsschlag) oder die bloße Vorstellung einer bestimmten Situation. Der Prozess der Angstentstehung schaukelt sich dann automatisch auf und der Teufelskreis beginnt.

      Natürlich unterscheiden sich Angststörungen in ihrem Schweregrad. Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die an einer milden Angstform leiden, kommt auch ohne professionelle Hilfe aus. Es hängt, wie angedeutet, davon ab, ob man adaptiv man mit ihr umgeht. Manche Angstformen sind auch nicht so dramatisch, als dass sie das Leben bedeutsam einschränkten. Wer z.B. eine Spinnenphobie hat, ist in unseren Breitengraden wesentlich besser dran als sein Gegenüber in Australien.

      Wer sehr leidet, kommt ohne professionelle Hilfe weniger gut aus. Angst kann so vereinnahmend sein, dass ein normales und selbstbestimmtes Leben unmöglich wird (10). Vor diesem Hintergrund fragt sich, inwieweit dieses Buch bei ausgeprägten Angstsymptomen helfen kann. Milde Angstformen könnte man „einfach so“ aushalten; Millionen Menschen tun dies! Starke Angstsymptome dagegen benötigen die Intervention eines Fachmanns.

      Wozu also ein weiteres Angst-Buch?

      Lassen Sie mich erklären, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Fangen wir damit an, aus welchen Grünen ich es nicht geschrieben habe. Nicht, um bestehende Angst-Therapien zu ersetzen. Ich bin mir der Begrenzung von Ratgebern bewusst. Ich habe dieses Buch auch nicht geschrieben, jede Form der Angststörung psychologisch minutiös genau zu beschreiben. Wer mehr darüber wissen will, kann sich entsprechende Diagnostika besorgen und sich in die Thematik einlesen (11). Ich beschreibe die verschiedenen Formen auch deswegen nicht, weil der Lösungsansatz, den ich anbiete, eine detaillierte Definition von Angstformen nicht notwendig macht.

      Weil das kontraintuitiv klingt, will ich es erklären. Wer sich mit psychischen Diagnosen auskennt, der weiß, dass viele Störungen eher phänomenologisch beschrieben als funktional erklärt werden. Mit anderen Worten: Es wird zwar ausführlich dargelegt, wie ein bestimmtes Störungsbild aussieht, weniger aber, wie es (psychisch) verursacht ist. Um die bei einer Angststörung zugrunde liegenden psychischen Prozesse zu beschreiben, benötigt man eine funktional orientierte Theorie. Sie hilft, Entstehungsursachen zu klären und bietet damit entscheidende Vorteile bei ihrer Behandlung.

      Weil ich Psychologe bin, bleibe ich bei der Erklärung von Angst bei psychologischen Mechanismen. Daher bin ich mir der möglichen Begrenztheit meiner Ausführungen bewusst. Angst ist zwar ein psychologisches Phänomen, denn es umfasst Emotionen, die – das ist nicht weiter erläuterungsbedürftig – zentral für das Erleben und Verhalten sind. Trotzdem kann man nicht grundsätzlich auszuschließen, dass es bei einer reich psychologischen Betrachtung zu einer „Überpsychologisierung“ kommt.

      Es ist z.B. bekannt, dass die Einnahme mancher Psychopharmaka Angstzustände induzieren kann (12, 13). Wer Medikamente nimmt, die das Potenzial haben, Angstzustände zu induzieren, muss sinnigerweise entsprechende Nebenwirkungen durch Absetzen oder Wechsel der Medikation abstellen. Vor diesem Hintergrund wird ein rein psychologischer Versuch der Angstbewältigung eher von sehr bescheidenem Erfolg gekrönt sein. Auch ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass durch Fehl- und Mangelernährung oder durch Umweltgifte (die inzwischen auf 10.000 angewachsen sind!) der Hirnstoffwechsel so beeinträchtigt wird, dass Angstsymptome begünstigt werden. Das ist zumindest im Fall von Depressionen gut nachgewiesen, obwohl sich viele Patienten und Therapeuten dessen nicht bewusst sind (14). Es gibt nur wenige Krankheiten, die eindeutig monokausal verursacht sind. Wenn Experten sich einem Phänomen aus nur einer bestimmten wissenschaftsdisziplinären Sicht nähern, riskieren sie, es auf nur eine Lösung zu reduzieren. Die Gefahr, andere Erklärungsmöglichkeiten zu übersehen, steigt dann logischerweise.

      Grundsätzlich kann ich also nicht ausschließen, dass bei Ihrer ganz speziellen Angst (vorausgesetzt, Sie haben eine!) auch andere plausible, nicht psychologische Gründe ursächlich sein könnten. Wenn Sie einen solchen Verdacht haben, sollten Sie diesem auf die Spur gehen.

      Kommen wir nun zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Erstens will ich einige grundlegende Betrachtungen bezüglich des Phänomens Angst korrigieren. Wenn sie eine so elementare Emotion ist, kann sie kein „Ausrutscher“ der Evolution sein. Das habe ich bereits angedeutet. Angststörungen sind oft überformte Anpassungsmechanismen, die gelernt, aber auch wieder verlernt werden können.

      Ich will aber auch zeigen, dass viele Ängste von Dritten induziert werden, die z.B. daraus Kapital schlagen. Diesen Punkt sehen viele Menschen erst, wenn man ihnen seine Bedeutung klarmacht. Induzierte Ängste können so raumgreifend werden, dass sie Angststörungen nach sich ziehen. In diesem Fall ist es sinnvoll, die Angstquelle rational aufzulösen, um sich von ihr frei zu machen.

      Hauptsächlich geschrieben habe ich dieses Buch jedoch aus folgendem Grund: Ich möchte Ihnen verschiedene Möglichkeiten anbieten, Ängste selbst zu bewältigen. Dazu benötigen Sie etwas Wissen über psychische Grundfunktionen. Vor allem aber benötigen Sie Techniken, wie Sie Ihre Ängste lösen bzw. integrieren lernen. Das Wissen möchte ich Ihnen in möglichst einfach verständlicher Sprache vermitteln. Allerdings wird es ohne spezifische Fachwörter nicht gehen. Die Techniken sind weitgehend Übungssache.

      Ich möchte an dieser Stelle allerdings ausdrücklich auf einen wichtigen Punkt hinweisen. Dieses Buch ist kein Ersatz für eine ausführliche psychologische Differentialdiagnose oder eine therapeutische Behandlung. Insofern Sie mit Ihren Ängsten oder Ihrer Angststörung nicht selbst zurechtzukommen, bitte ich Sie, professionelle Hilfe aufzusuchen. Insofern Sie bereits in entsprechender Behandlung sind oder eine entsprechende Diagnose gestellt wurde, kann Ihnen dieses Buch trotzdem wertvolle Tipps geben, die sich sinnvoll nutzen lassen.

      Ich habe in diesem Buch sowohl mein theoretisches Wissen als auch meine praktische Erfahrung als psychologischer Berater zusammengefasst. Mein Hauptaugenmerk liegt weniger auf der Explikation der jeweiligen psychologischen Zusammenhänge, als vielmehr auf der Vermittlung eines praktischen Leitfadens, der praxisbezogen und lösungsorientiert ist. Ich beziehe dabei ein, was vielen meiner Klienten bei der Bewältigung Ihrer Sorgen und Ängste geholfen hat. Trotzdem kann ich Ihnen nicht ersparen, eine gewisse theoretische Bürde auf sich zu nehmen. Der von mir zugrunde gelegte Ansatz macht das notwendig, wenn man meine Schlussfolgerungen nicht vorschnell als unproduktiv oder gar absurd abtun will.

      Die persönliche Begegnung zwischen Psychologe und Ratsuchendem ist zwar ein wichtiges Bestimmungsstück einer professionellen Beratung. Trotzdem kann auch ein „unpersönlicher“ Ratgeber wertvolle Dienste leisten, die bei vielen Angstformen zu helfen vermag. Das ist kein Widerspruch. Denn gerade Ängste lassen sich nur bedingt durch therapeutische Gespräche „weg reden“. Im Gegenteil: Die Krux ist ja, dass den Betroffenen bewusst ist, wie irrational oder unangemessen das eigene Verhalten ist. Es fehlt selten an Einsicht! Die Angst hat sich aber verselbständigt, so dass sie sich der vernunftmäßigen Kontrolle entzieht. Dessen ungeachtet ist die persönliche Begegnung sowie