»Doktor Witherspoon fand die Wunde recht seltsam. Seinem Bericht zufolge ähnelt es Kanüleneinstichen.« Er stopfte sich einen weiteren Bissen in den Mund und spülte direkt mit einem Schluck Kaffee nach. »Erinnert mich verdammt an den Fall Tongue! Diesen Möchtegern-Vampir von ›Varrich Castle‹!« Er warf Blake einen seltsamen Blick zu. »Russel Mackay wird doch nicht von den Toten wiederauferstanden sein?«
Blake lächelte, wippte aber im nächsten Augenblick ratlos mit dem Kopf. »Nachdem was wir beide bereits erlebt haben, kann man das nicht ausschließen, aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich«, meinte er. »Im Augenblick kann ich mir jedenfalls keinen Vers daraus machen.« Unzufrieden klopfte er mit zwei Fingern auf die Tischplatte. »Die Spuren auf der steinernen Balustrade des Balkons, vor dem Schlafzimmer des Mädchens, sind ebenfalls sehr mysteriös. Als ich die Fotos der Spurensicherung gesehen habe, war mein erster Gedanke, dass es sich um die Abdrücke eines riesigen Raubvogels handelt, der seine Fänge in den Stein geschlagen hat.«
»Ist das nicht ein wenig weit hergeholt?«, lächelte McGinnis.
Blake schüttelte entschieden den Kopf. »Ganz und gar nicht«, stellte er fest. »Ähnliche Spuren habe ich vor Jahren während eines Urlaubs in Lanslebourg-Mont-Cenis in den französischen Alpen gesehen.«
McGinnis sah ihn neugierig an.
»Damals hatte ein mächtiger Steinadler seine Fänge so in eine Felsspalte verklemmt, dass er aus eigener Kraft nicht mehr herauskam. Das Tier war schon völlig erschöpft, als wir es zufällig bei unserer Kletterei fanden und aus der tödlichen Umklammerung befreien konnten. Ich erinnere mich noch gut daran, dort vergleichbare, wenn auch wesentlich kleinere Kratzspuren gefunden zu haben. Verursacht wurden sie durch die verzweifelten Befreiungsversuche des Tieres.« Er nahm sich einen Schluck Kaffee. »Aber damit kommen wir auch nicht weiter.« Blake gab sich einen Ruck. Der nachdenkliche Ausdruck in seinem Gesicht verschwand, und in seinen Augen funkelte es energisch. »Es ist einfach nicht anders denkbar! Alice Drummond hat nach ihrem schrecklichen Erwachen einen solchen Schock erlitten, dass sie ihr Gedächtnis verloren hat und sich irgendwo versteckt hält, oder es liegt ein Verbrechen vor, dass mit der Explosion in unmittelbarem Zusammenhang steht.« Er drückte den Rest seiner Zigarette in den vor ihm stehenden Aschenbecher.
»In dem Fall neige ich allerdings mehr zur letzteren Annahme«, sagte McGinnis.
»Ich auch, Cyril, ich auch!«, nickte Blake. »Auf jeden Fall habe ich sämtliche Dienststellen im gesamten Distrikt alarmiert. Sie haben alle eine genaue Beschreibung des Mädchens.« Sein markantes Gesicht wurde hart. »Im Augenblick stochern wir zwar noch im Nebel herum ... aber auch der löst sich irgendwann einmal auf.«
Sergeant McGinnis, der sein Frühstück bereits vertilgt hatte, warf einen fragenden Blick auf die noch vor Blake liegenden Sandwiches.
Ohne ein Wort zu sagen, schob sie ihm der Chief Inspector zu.
»Danke«, grinste McGinnis und griff direkt zu. »Wenn die Explosion im Haus des Professors nicht das zufällige Ergebnis eines wahnwitzigen Versuchs gewesen ist, sondern das Produkt eines Verbrechens, und wenn weiterhin das eigentümliche Verschwinden von Alice Drummond damit zusammenhängen sollte, dann wird es Zeit, dass wir herausfinden, wie das alles miteinander zusammenhängt.« McGinnis schien gesagt zu haben, was abschließend gesagt werden musste, denn jetzt wandte er sich hungrig dem nächsten Sandwich zu und schwieg.
Chief Inspector Blake hatte noch einen Schluck Kaffee zu sich genommen und war dann unvermittelt aufgestanden. »Sie halten hier die Stellung, bis ich wieder zurück bin, Cyril! Ich werde mir draußen ein wenig die Füße vertreten. Vielleicht bekomme ich bei einem Spaziergang einen klaren Kopf. Möglicherweise schaue ich auch noch auf einen Sprung bei Doktor Witherspoon vorbei. Ich habe da noch so einige Fragen.« Er lächelte seinem Kollegen zu, schlüpfte in seinen Mantel, griff nach seinem Hut und ging.
McGinnis blickte ihm schmunzelnd nach. Dann betrachtete er das Sandwich in seiner Hand an. »Na, Kleines? Du willst doch, dass ich dich beiße ... Komm sag es mir ... oh, jaaaaaa.« Herzhaft biss er hinein. Mit dem Sandwich in der Hand stand er auf und öffnete ein wenig das Fenster. Die frische Morgenluft tat gut. Nachdenklich sah er Blake unten vor dem Polizeikomplex auf dem Gehweg nach, bis der Chief Inspector um eine Ecke verschwand. Der Fall schien wirklich sehr verzwickt zu sein. Mit Verwunderung bemerkte McGinnis, dass ihn ein leichter Schauder erfasste, als er an die düsteren Ereignisse der letzten Tage dachte.
Kapitel 4
W
ährend sich Sergeant McGinnis im Büro über die letzten Sandwiches hermachte und seinen tiefsinnigen Betrachtungen nachhing, stand Chief Inspector Blake gedankenversunken am ›River Ness‹, von dem sich der Name der Stadt ableitete. Interessiert beobachtete er dabei die eifrigen Versuche eines rothaarigen Dreikäsehochs, der mit stolzer Besitzermiene sein ferngesteuertes Modellschiff in unmittelbarer Nähe des Flussufers herum manövrierte. Helle Freude glänzte in dem sommersprossigen Gesicht des höchstens Fünf- bis Sechsjährigen, als das kleine Schiffchen nach einem gelungenen Wendemanöver wieder auf ihn zukam.
Blake war gerade im Begriff, dem Jungen bei der Bergung des Nachbaus eines Feuerlöschbootes zu helfen, als er hinter sich eine tiefe, sonore Stimme vernahm, die ihn ansprach.
»Detective Chief Inspector Blake?!«
Blake richtete sich auf und fuhr herum. Vor ihm stand ein großer, schlanker Mann mit einem scharf geschnittenen Wikingergesicht und einem Schopf weißblonder Haare. Zwei leuchtende graugrüne Augen sahen ihn an.
Schnell überwand Blake seine Verblüffung. Es war nicht das erste Mal, dass ihn wildfremde Menschen direkt mit Dienstrang und Namen ansprachen. Insbesondere in London kam es immer wieder vor, dass ihm irgendjemand um Schutz vor seinen Ganovenkollegen bat, oder man ihm einen Hinweis geben wollte. Aber der Mann, der ihm jetzt gegenüberstand passte weder in die eine noch in die andere Kategorie.
»Bitte, verzeihen Sie mir diese etwas unkonventionelle Art, mit Ihnen bekannt zu werden«, begann der Fremde, noch ehe Blake antworten konnte. Der Mann schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln. »Es ist von großer Wichtigkeit, dass ich mit Ihnen spreche.« Der Blick des Fremden schweifte kurz ab. Es schien als blicke er sich prüfend nach allen Seiten um. »Meines Erachtens nach ist das Ufer hier, der beste Ort für unser Gespräch.« Das Gesicht des schlanken Mannes wurde von einem ernsten, düsteren Ausdruck überschattet. »Es geht um den Fall Helmsdale«, erklärte er und sah den Chief Inspector dabei forschend an. »Aber es ist ein Gebot der Höflichkeit, dass ich mich Ihnen zunächst vorstelle. Mein Name ist Anthony Kincaid.«
Blake konnte seine maßlose Überraschung kaum verbergen. Er musste heftig schlucken. Doch sofort trat ein wachsamer Ausdruck in seine grauen Augen.
»Anthony Kincaid«, murmelte er. »Ihr Name sagt mir etwas.« Bevor Kincaid eine Erklärung abgeben konnte, deutete ihm Blake an zu schweigen. Er überlegte blitzschnell. »Ja, jetzt habe ich es. Ich erinnere mich.« Lächelnd sah er den Mann an. »Sie sind der Privatgelehrte, der vor einem Jahr im Prozess gegen Peter Curtis für riesige Schlagzeilen gesorgt hat.«
Kincaid nickte lächelnd.
»Stimmt«, warf er ein. »Man hatte mich als psychologischen Gutachter hinzugezogen.«
Blake griff in seine Manteltasche und holte sein Päckchen Benson & Hedges hervor. Er nahm eine Zigarette heraus und steckte sie an. Als er Kincaid seine Schachtel entgegenhielt, lehnte dieser dankend ab.
»Soweit ich mich erinnere, hatte Woodland in der Nacht auf Pfingsten seine Eltern und seine beiden Brüder mit einem Beil erschlagen. Anschließend hatte er die Leichen metzgermäßig zerlegt, um sie dann in Tiefkühltruhen und Gefrierschränken einzufrieren«, sagte Blake. Er nahm einen Zug von seiner Zigarette. »Woodland selbst hat zum Vorfall keine Aussage machen können. Die Zeitungen, allen voran die ›Daily Mail‹, sprachen vom ›Pfingstwunder‹, in Anspielung auf die Apostelgeschichte